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Auf den Zementtonnen sitzen die beiden jungen Leute und warten. Da sehen sie, wie über den Strom ein kleines Segelboot herkreuzt, wie es wendet und auf die steile Treppe der Wassertankstelle zufährt, die zwischen der Anlegebrücke der Taucherschiffe und der Werft liegt. Will das Boot gegen die Treppe anfahren? Nein, es dreht auf der Stelle, die Segel flattern leer im Wind, es steht. Der junge Kapitänssohn faßt gelassen ein herabhängendes Tau und ruft hinauf: »Großartig, Mehrmann, daß Sie da sind!«
Mehrmann und Holtz steigen die Treppe hinab, die glitschig und glatt wird von der Stufe an, wo die Flut sie täglich zudeckt. Marquart schüttelt seinem Freunde die Hand und macht eine einladende Bewegung zum Boot. Dann schaut er auf Holtz. Er sieht ihn von oben bis unten an. Holtz schweigt, aber Mehrmann greift ein, auf den langen Menschen deutend: »Hans Holtz heißt er, ich habe ihn heute auf dem Schiff von Harms kennengelernt. Er ist auf der Wanderschaft zu seiner Mutter, weit hinten im Holsteinischen. Können wir ihn eine Strecke mitnehmen?« Sie wechseln leise ein paar Worte, während Holtz noch auf der Treppe steht.
»Steigen Sie einstweilen ein! Was haben Sie da alles bei sich?«
»Herrn Mehrmanns Zelt und einige Decken.«
Man merkt Mehrmann an, daß er noch nie in einem Segelboot gewesen ist. Kaum steht er darin, da schlägt ihm schon der Segelbaum vor den Kopf. Marquart schiebt die Kajütentür auf, läßt sich das Gepäck reichen und verschwindet, während Mehrmann das Boot am Tau hält. Da betritt Holtz auch das Schiff. Dampferwellen wallen heran, und es ist nicht leicht, das Boot zu halten. Marquarts Kopf erscheint wieder. Er steigt herauf, setzt sich ans Steuer, wirft es herum, das Boot wird von den Wellen hoch- und niedergehoben. Dann faßt der Wind in die Segel hinein. Das Schiff neigt sich leicht. Sie treiben lautlos im Ebbstrom dem Fahrwasser zu.
Befangenheit schwebt zwischen den dreien. Marquart als Gastgeber fühlt sich verpflichtet, ein Gespräch zu beginnen. Als sie an den Wracks von zwei riesigen Holzschiffen vorbeikommen, die Taucher Harms vor einigen Jahrzehnten geborgen hat und die weit aus dem Wasser ragend zerfallen, sagt er:
»Da haben Sie ja gleich einen richtigen Einblick bekommen auf dem Schiff von Fiete Harms. Sein Vater ist auch ein Opfer seines Berufs geworden, damals im Krieg, als die Russen die Einfahrt zum Libauer Hafen gesperrt hatten. Harms mußte die Schiffe sprengen. Er hatte die Sprengkapseln in eins der Schiffe gelegt und befand sich noch unter Wasser, als durch ein Mißverständnis auf dem Begleitschiff die Sprengladung zur Explosion gebracht wurde. Harms verlor sein Leben, aber der Junge ist doch Taucher geworden. Hat er Ihnen von der Haiphonggeschichte erzählt, die jetzt hier in Blankenese Tagesgespräch ist?«
»Ja, immer wieder das gleiche, Gaunerei um des leidigen Geldes willen ...«
»Ohne Geld kann man in der Welt nichts anfangen.«
Hans Holtz seufzt auf: »Unsereins tippelt nun schon zwei Jahre heimatlos durch die Welt, und wenn man mal denkt: Hier bleibst du, hier ist ein wenig Glück und Liebe für dich, dann kommt eines Tages wieder ein Schuft dazwischen, alles ist aus und du stehst wieder auf der Straße und kannst weitergehen. Kein Mensch sieht einen für voll an, wenn man kein Geld hat und nicht auftreten kann. Und manche Leute wissen nicht, wie sie ihren Reichtum durchbringen sollen.«
Marquart staunt. Also so einer ist das! Na, das kann ja eine nette Fahrt werden! Mehrmann will schon antworten, daß Geld allein nicht glücklich macht, doch Marquart weist mit der Hand hinüber auf die bewaldeten Elbhöhen. Aus den großartigen Parks schauen hin und wieder palastartige Gebäude hervor. Die Sonne liegt auf dem Laub, das schon die Buntheit des Herbstes zeigt.
»Sehen Sie dort drüben das Gebäude mit dem Turm? Da wohnt ein steinreicher Mann. Alles fabelhaft eingerichtet, sage ich Ihnen: Schwimmbad im Garten, Freilichtbühne, Obstplantagen, Gewächshäuser. Als Jungens waren wir nachts mal im Park«, setzte er in Erinnerung lächelnd hinzu, »aber er hat scharfe Hunde. Was ich sagen wollte: Mit dem Mann möchte ich nicht tauschen, wie überhaupt nicht mit einigen Leuten, die dort drüben wohnen. Man erzählt von dem Mann da, er sei Sklavenhändler gewesen, damals, als es am Kongo noch allerlei zu holen gab für dergleichen Leute. Die Leute hier erzählen sich, seine Schuld lasse ihn nun nicht sterben.«
»Wer kann denn das sagen?«
»Ich will Ihnen erzählen, was ich selbst beobachtete: Wir wohnen oben an der Chaussee, die von Altona nach Blankenese führt. Jeden Abend, es mag stürmen und regnen, hören wir zwanzig Minuten nach zehn Uhr das Getrappel von Pferden vor einem gummibereiften Jagdwagen. Früher ging ich ab und zu aus dem Haus auf die Straße, weil die beiden Braunen so diszipliniert liefen und es eine Freude war, ihnen nachzuschauen. Dann fährt der Alte aus jenem Hause vorbei, jeden Abend, in seinen Mantel gehüllt, die Decken hochgeschlagen, den Jagdhut in die Stirn gedrückt. Das gelbe, faltige Gesicht im Ausdruck steinern und undurchdringlich. Hoch aufgerichtet sitzt er da, nichts kann ihn bewegen, seinen Kopf zu wenden, er grüßt auch niemand. Gegen ein Uhr nachts hat er wieder seinen Garten erreicht.«
Dann erzählt Marquart, was sich das Volk zuraunt von diesem Mann, den sie in der Gegend nur »den Sklavenhändler« nennen:
Als junger Kapitän war er in den sechziger Jahren mit einem Schiff ausgefahren, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, um sein Glück zu machen. Zuerst war er alle paar Jahre nach Hause gekommen, doch dann galt er zwei Jahrzehnte lang als verschollen für seine Verwandten, bis er eines Tages als schwerreicher Mann wiederkehrte und sich an der Elbe einen Besitz kaufte. Doch man hatte erfahren, was er trieb, Blankeneser Kapitäne hatten die Kunde mitgebracht: Er war Sklavenhändler geworden. An der ostafrikanischen Sansibarküste hatte er die Bekanntschaft arabischer Sklavenjäger gemacht, die ihm eine Fracht Menschen gaben, als er gerade müßig dalag, und ihn dadurch in ihre Gewalt bekamen. Sie drohten, ihn an die Engländer zu verraten, die mit ihren Kreuzern damals nach Sklavenschiffen fahndeten, wenn er ihnen nicht weiter zu Diensten sei. Als nach dem Inkrafttreten des Sansibarvertrages sich die arabischen Sklavendschunken vor Ostafrika nicht mehr blicken lassen durften, war europäischer Schiffsraum begehrt und gut bezahlt, und die Araber, diese braunen Teufel, gewannen den Kapitän, der ein weites Gewissen hatte, ganz für den Sklaventransport. Das ging einige Jahre gut und brachte viel Geld ein; dann aber verlegten die Araber ihr Hauptquartier nach dem oberen Kongo, wo sie die Menschen in den von Weißen kaum berührten unermeßlichen Urwaldgebieten einfingen und sie entweder den Nil abwärts nach Khartum schafften, wo der Hauptstapelplatz für Haussklaven war, oder sie mit dem Schiff den Kongo abwärts trieben bis zu den großen Fällen, die die Schiffahrt des Kongo so sehr hemmen. Unterhalb der Wasserfälle, bei Matadi, wurden sie in europäische Schiffe verladen, die sie um halb Afrika herum nach Marokko oder über den Ozean nach einigen Inseln der Neuen Welt brachten, wo die Sklaverei zwar offiziell abgeschafft war, im geheimen allerdings immer noch getrieben wurde.
Diese zwanzig Jahre machten aus dem Menschen eine Bestie. Ein Menschenleben war den Sklavenjägern und -händlern nicht mehr wert als das Leben eines Tieres. Und jetzt? Wenn der Alte nun an seinen Fenstern sitzt und über die Elbe schaut, dann steigen Bilder vor ihm auf, die er vergessen möchte und die er doch nicht bannen kann, wenn er sich mit der Hand über die Augen streicht. Er sieht die grausigen Szenen auf den Sklavenmärkten und den Transporten, auf den Sklavenpfaden, die den schwarzen Erdteil wie ein Netz überspannten. Von Hunger und Durst verschmachtete Neger, von der Sonnenglut gefällte Menschenleiber, vom Fieber durchschüttelte Geschöpfe, Frauen, die am Wegrand sterben, die ganze Hölle der Tropenglut, von der Heimat und der Familie gerissene Menschen, unaussprechlichen Schmerz und Jammer. Diese Gedanken quälen den Alten am Tage. Er wankt hinaus. Der Diener präsentiert den Pelzmantel. Er steigt auf den Wagen und tritt seine nächtliche Fahrt an, um zerschlagen und halb schlafend eine Stunde nach Mitternacht heimzukehren in sein leeres Haus. Er fühlt, daß er es schon gar nicht mehr besitzt.
So sprechen die Leute von ihm.
Marquart schweigt. Im Sonnenschein gleitet das Boot den Strom hinab. Hans Holtz liegt vor dem Mast und schaut unverwandt in den Himmel. Seine Hand taucht leise ins warme Wasser. Er denkt an gar nichts, auch nicht, was in den nächsten Tagen mit ihm werden soll. Marquart hat die Segelleine festgezurrt und läßt das Boot treiben. So kommen sie dem Ufer wieder näher. Die bewaldeten Hügel werden flacher, und das Ufer beginnt sich zu senken. Leuchttürme grüßen herüber. Sie müssen achtgeben, daß sie nicht an einen der Steinwälle stoßen, die in die Elbe hinausgebaut sind, damit sich die Wellen brechen und sich zwischen den Steindämmen im ruhigen Wasser der Sand ablagere, der sonst das Fahrwasser belastet. Ehe sie wenden, macht Mehrmann auf ein verfallenes, halbfertiges Bauwerk aufmerksam, das oben am Rande des jäh abfallenden Steilufers steht. »Sehen Sie die Ruine da? Dem Besitzer scheint das Geld zum Fertigstellen des Baues ausgegangen zu sein, oder ist das Haus abgebrannt?«
»Sie haben recht; es ist wirklich nie fertiggebaut worden. Der Besitzer hat damals viel von sich reden gemacht, und auch die Polizei hatte sich mit ihm zu beschäftigen. Das Grundstück gehörte dem Direktor eines in der Lebewelt bekannten Tanzpalastes im Hamburger Vergnügungsviertel, der sich hier an der Elbe ein Haus für seine Privatvergnügungen bauen wollte. Wie es so ist, eines Tages war der große Krach da, und alles Geld war verloren.«
»Wie eine ausgebrannte Ruine sieht das Gemäuer aus. Es ist doch eigenartig, daß das Geld, das durch Darbietung zweifelhafter Genüsse verdient wird, sich ebenso schnell wieder verflüssigt«, meint Mehrmann.
Marquart denkt über diese Antwort nach und erwidert: »Jeder Mensch, der seine Arbeit tut, hat Anspruch auf Genuß. Und da muß man es schon den Leuten selbst überlassen, an welchen Orten und wie sie sich amüsieren wollen. Wenn ein Bedürfnis nach solchen Tanzpalästen vorliegt, entstehen sie auch. Da kann man doch den Besitzer nicht ohne weiteres moralisch verdächtigen.«
Mehrmann überlegt sich die Entgegnung nicht lange: »In früherer Zeit war hier bei uns Arbeit und Vergnügen nicht zweierlei, sondern die Arbeit selbst bot den Genuß. Eigentliche Feste gab es nur ein paarmal im Jahr. Heute ist für den größten Teil der Menschen die Arbeit nur dazu da, um sich neben den lebensnotwendigen Dingen Mittel für Genüsse zu verschaffen. Am liebsten jeden Abend ausgehen. Und so sind wir wirklich dahin gekommen, daß wir zweierlei Leben führen: Tagsüber schuften wir, um uns abends oder Sonntags ›etwas erlauben‹ zu können, wie die Leute sagen. Auf die Dauer können die Menschen dieses zweifache Leben nicht ertragen. Bis ins kleinste Dorf wird der Amüsierbetrieb getragen. Je mehr der Mensch innerlich verkümmert, desto mehr Vergnügen schafft er sich. Das ist eine tragische, aber anscheinend schicksalsmäßige Entwicklung.«
»Haben Sie aber eigenartige Anschauungen, lieber Mehrmann. Ich meine, wir müssen mit der Zeit rechnen, in der wir nun mal leben, und das ausnutzen, was sich uns bietet. Wozu sind wir denn jung? Mehrmann, seien Sie vernünftig und stellen Sie sich mal einen Fabrikarbeiter vor. Glauben Sie, daß ein Mann, der täglich seine acht Stunden schwer arbeitet, den Abend zu Hause vertrödeln will? Was für Interessen hat er auch? Wenn er ein paar Groschen erübrigen kann, geht er mit seiner Frau ins Kino oder läßt sie zu Hause und geht in die Kneipe. Wenn er kein Geld hat, freut er sich auf den einen Tag im Monat, an dem er sich irgendwo mal ordentlich austoben kann. Das entschädigt ihn für viele öde Abende. Wohltäter sind die Menschen, die Millionen Genüsse verschaffen, die ihnen heute einzig und allein das Leben lebenswert machen.«
Jetzt kommt der lange Holtz über das Kajütdach geklettert. »Ich hab auch mal so gedacht. Aber Sie haben anscheinend noch nicht viel mitgemacht. Genießen macht gierig und gemein. Sie ziehen dir nur alle das Geld aus der Tasche, und wenn du nichts mehr hast, fliegst du auf die Straße. Und die Menschen nennen Sie Wohltäter? Nirgend sind die Menschen so gemein wie an den Vergnügungsstätten.«
»Dem genußhungrigen Menschen wird die Welt nicht so gezeigt, wie sie ist, sondern so, wie er sie sehen will, verkitscht und blöde, ja verlogen. Hinterher bleibt das bittere Gefühl, betrogen zu sein«, pflichtet Mehrmann bei.
Marquart bleibt bei seiner Anschauung, und er setzt sich eifernd für sie ein: »Es mag sein, wie es will. Jeder arbeitende Mensch hat ein Recht, sich die Genüsse zu verschaffen, die ihm behagen. Und da kann man keine Maßstäbe anlegen, vor allem nicht seine Anschauung zum Maßstab für alle machen. Gute Genüsse, schlechte Genüsse – wer will das beurteilen? Die Genüsse liegen jenseits aller Wertungen, jenseits von gut und böse. Der eine geht ins Kino und fühlt sich großartig aufgefrischt; der andre säuft sich voll und überwindet dadurch seinen Kummer; wieder ein andrer raucht idiotisch, weil er Anregung braucht; und der vierte – na, der genießt mit ganz derselben Leidenschaft klassische Musik. Wer will da urteilen? Wenn doch mal die Zeit so ist, wie Sie sagten, Mehrmann, dann wollen wir auch jedem Menschen seinen Trost lassen. Halt, einen Maßstab lasse ich gelten, er leitet sich sozusagen aus dem ab, was ich eben sagte: Genüsse sind dann wertvoll, wenn sie zur Lebenserhöhung beitragen. Im übrigen lassen wir doch jedem Tierchen sein Pläsierchen. Der eine kann eben mehr vertragen als der andre, der eine braucht primitive Genüsse nicht. Aber deshalb ist er nicht besser als der andre, der besoffen und selig aus dem Wirtshause kommt.«
Mehrmann muß wirklich hell auflachen. »Ausgezeichnet, Marquart. Als wenn Sie das studiert hätten. Sie haben recht: Jeder Mensch hungert nach Genüssen, und besonders die Menschen, die eine Arbeit haben, die ihr Inneres unbeteiligt läßt. Wie der Körper, so braucht auch der Geist Auffrischung und Anregung. Und doch ist das Gewissen jedes Menschen auf ewige Maßstäbe geeicht.«
»Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Es ist das bekannte Gerede der Fanatiker. Natürlich gibt es Gifte, das gebe ich zu. Aber was die Sitte durch jahrzehntelangen Brauch heiligt, ist gut. Das bekommt auch. Wenn zum Beispiel die Vergnügungsviertel, von denen Sie so abfällig zu sprechen beliebten, nicht volksnotwendig wären, dann beständen sie schon lange nicht mehr. Man sollte sich viel unbedenklicher in diese harmlosen Genüsse hineinstürzen. Die Hemmungen, die Sie da haben, lassen Sie ja gar nicht zum richtigen Genuß kommen. Wer genießen will, muß unbefangen sein.«
»Die Sitte ist kein Maßstab, sondern es gibt da ewige Gesetze, die oft der Volkssitte zuwiderlaufen. Wie oft sind schon ganze Völker an ihren Sitten zugrundegegangen! Nehmen Sie nur mal den Handel mit den Rauschgiften. Die Sitte hat in manchen Ländern nicht die Kraft, diese Gifte vom Volke fernzuhalten.«
»Mehrmann, nun gehen Sie gleich aufs Ganze. Man braucht nicht unbedingt Koksschlucker zu werden, wenn man die landläufigen Genüsse mitnimmt, wie sie sich bieten. Dafür ist übrigens der Staat da, daß er die Ausbreitung wirklich giftiger Genüsse unterbindet. Ich bleibe dabei: Jeder Genuß ist erlaubt, der zur Lebenserhöhung dient. Das ist das einzige Gesetz, das ich in Fragen des Genusses anerkenne.«
»Lebenserhöhung – ein gefährlicher Begriff! Der Mensch vermeint im Augenblick des Genusses die anregende Wirkung zu spüren. Die Folgen kommen erst später. Ich sage dagegen: Jeder Genuß ist erlaubt, ja nötig, der nach den ewigen Gesetzen zum Aufbau eines gesunden Lebens dient.«
»Ich glaube fast, wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie alle Tanzböden schließen, alle Rummelplätze und Kinos zumachen lassen und nur klassische Musik und Literatur herausgeben. Von allen Künstlern würden Sie ein moralisches Führungszeugnis verlangen. Sie würden den Menschen vorschreiben, was sie zu genießen hätten und was nicht, und wir alle würden in Spießbürgerei und Stumpfheit und Heuchelei versinken.«
»Darin haben Sie allerdings recht, zwangsweise kann man Genüsse nicht vorschreiben.«
»Mein Lieber, Sie drücken sich jetzt hier um die Antwort. Ich nehme Sie beim Wort. Sagen Sie mir klipp und klar: was würden Sie tun, wenn ich Sie jetzt auf der Stelle zum Vergnügungsdiktator einsetzte?« Marquart ist ganz aufgeregt.
»Gut. Ich würde also erstens die edlen Genüsse so stark fördern und propagieren, daß alle Menschen, die eines guten Willens sind, sie sich auf billigste Weise beschaffen könnten. Dann würde ich zweitens den Menschen das nahebringen, was sie eigentlich hinter allen Genüssen suchen und nicht finden: das Glücklichsein in ihrer Berufung.«
»Ich setze Sie sofort wieder ab, Mehrmann. Sie haben keine Lösung für die Massen gefunden. Das ist nur für einzelne Menschen. Wenn Sie Reformer sein wollen, müssen sich Ihre Vorschläge auch auf die Massen anwenden lassen.«
»Ich glaube nicht an die Hebung der ganzen Menschheit. Die Selbstdisziplin des einzelnen fängt dort an, wo er frei wählen kann. Dann stellt es sich heraus, ob man so stark ist, daß man verzichten kann!«
Damit ist die Unterhaltung auf einem toten Punkt angekommen. Marquart schlägt leicht gereizt mit der Segelleine auf das Knie. Sein Freund scheint ihm reichlich unduldsam, und er ahnt, daß ihre Wege sich wohl kreuzten, daß sie aber wieder auseinanderführen müssen. Das macht ihn ein wenig traurig.
Da, ein tiefes Warnsignal stört den jungen Marquart auf. Ein schwarz und hoch vor ihnen aufgetauchter Motortanker begehrt freie Fahrt. Marquart greift zum Steuer, um dem rasch herannahenden Schiffe nach Süden auszuweichen und womöglich aus seinem Sog zu kommen. Der lange Leib des Motorschiffes schiebt sich wie eine Wand an ihnen vorbei. Hinten am Heck, wo Steuerhaus, Maschine und Unterkunftsräume zusammengedrängt liegen, steht eine andächtige Versammlung festlich gekleideter Menschen um die Flaggenstange. Das neue Tankschiff vollendet seine Werft-Probefahrt, und die jungen Leute im Boot sind Zeugen des Flaggenwechsels. Die Heimatflagge der Bauwerft ist eben eingezogen worden, und eine riesige norwegische Fahne flattert an der Stange hoch. Ein Stück ehrlicher Arbeit hat seine Anerkennung gefunden.