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Es ist stockfinster auf dem weiten Strom. Der Himmel ist schwarz, kein Mond, keine Sterne sind sichtbar. Nur die Leuchtfeuer rings in der Runde flammen auf und erlöschen. Sie zeigen bleich und Nein ihr weißes, rotes oder grünes Licht. Lautlos fährt das Segelboot. Holtz hat dringend darum gebeten, heute abend noch am holsteinischen Ufer abgesetzt zu werden. »Wenn Sie durchaus wollen; aber weit kommen Sie drüben doch nicht mehr«, hatte Marquart gemeint. Holtz steht hochaufgerichtet mit seiner langen Gestalt vorn neben dem Mast, ganz allein, und hält sich an den Wanten fest. Er sucht das andre Ufer mit den Augen. Die Sehnsucht nach seiner Mutter ist in dieser Nacht stärker als je.
Es rauscht im Wasser, ganz dicht bei ihnen. Schwimmt da was? Holtz dreht sich um. Es ist eine Boje, die schief im Wasser liegt und gegen die der Flutstrom plätschert. Sie erkennen eine große weiße Zahl. Fast hätte das Boot die Boje gerammt. Als Holtz sich auf den Fußsohlen umwendet und der Tonne nachsieht, rutscht er mit den Füßen vom nassen Deck. Das Deck ist zu Ende. Er fliegt im Ruck durch die Luft. Seine Hände gleiten an den Drahtwanten nieder und werden heiß, er läßt los und liegt im Wasser! Das alles hat sich in einer Sekunde abgespielt.
Hans Holtz schreit nicht. Nun, als er am Boot entlangtreibt nach hinten fort, kommt den andern beiden zum Bewußtsein, was eigentlich geschehen ist. Sie hatten schweigend auf die lange Gestalt geblickt, die sich da am Mast hoch vor ihnen abhob. Nun ist sie verschwunden.
Sie stoßen beide einen Schrei aus. Marquart läßt alles fahren und greift hinunter ins Leere. Dann reißt er das Steuer jäh herum, das Boot dreht und fährt zurück.
Da fühlen sie beide, daß sich Holtz vorn am Bug anklammert. Er kann also schwimmen, dann ist ja alles nur halb so schlimm.
»Hier hinten müssen Sie wieder an Bord, vorn kommen Sie nicht hinauf!« kommandiert Marquart.
Mehrmann führt die Hände, die sich ihm aus dem Wasser entgegenstrecken, nach hinten. Holtz stemmt sich hoch, sie fassen unter die Arme und heben ihn hinein. Dann steht er zwischen ihnen, klitschnaß. Die Haare hängen ihm ins Gesicht, das Wasser tropft auf den Kokosläufer. Sie lachen auf einmal alle drei.
»Mensch, du wolltest wohl hier lautlos aussteigen, lieber nicht!« sagt Marquart. »Hast dich aber prompt gehalten, alle Achtung! Nun erst hinein in den Salon und umziehen.«
Holtz schüttelt sich und läßt sich hinunterführen, stößt sich dabei natürlich den Kopf am Deckbalken. Dann ist er unten. Mehrmann führt das Steuer, während Marquart die Sturmlaterne anzündet und aus der Kleiderkiste trockenes Zeug sucht, das einigermaßen zu der langen Gestalt paßt. Marquart erscheint wieder oben.
»Der Junge ist gut, den behalten wir hier.«
»Gar kein Aufhebens davon zu machen! Das hätte auch anders auslaufen können.«
Da erscheint auch der Kopf von Holtz schon wieder. Er lächelt nur. In seinem Seglerjumper und der Trainingshose ist er kaum wiederzuerkennen. Sogar einen Scheitel hat er sich gebürstet. Beide strecken ihm die Hände entgegen. »Willst du mit uns fahren? Bleib eine Woche bei uns!«
Fast sagen es beide gleichzeitig.
»Wenn Sie denken ...«
»Wir wollen Du zueinander sagen«, schlägt Marquart vor.
»Nennt mich einfach Peter.«
»Und mich Heinrich.«
Holtz nickt nur. Sein Gesicht strahlt. Eine warme Welle wallt in ihm hoch. Er verhält einen Augenblick: dann streckt der lange Kerl den andern beide Hände entgegen. Sie fassen sie fest.
Da taucht hinter ihnen, jetzt schon hoch über ihnen, ein rotes Licht auf, dann zischen im Wasser unzählige Lichtstreifen auf sie zu. Haushoch und schwarz wie eine Bergwand erkennen sie den scharfen Bug eines riesigen Dampfers. Sie hören auch das Stampfen der Maschinen, das sich dem Wasser mitteilt.
Peter reißt das Boot herum, das schon in den Sog des Schiffes hineingerissen wird und tänzelt und bockt wie ein scheues Pferd. Wenige Meter von ihnen gleitet die Schiffswand vorbei. Das Boot stampft und schlingert, der Wind ist auf einmal abgedeckt, die Segel flattern wie zum Protest! Licht aus vielen hundert Fenstern tanzt auf den Wellen herzu. Qualmwolken fallen nieder, umhüllen sie und legen sich beizend auf ihre Brust. Es muß ein großes Schiff sein: In der Mitte sind Lukenflügel weit geöffnet. Gestalten heben sich ab. Abgerissene Rhythmen von Tanzmusik wehen heraus. Wie ein Spuk ist das Schiff dann vorbei. »Festhalten!« schreit Peter. Es war gut, daß er gewarnt hatte. Die beiden ducken sich nieder, und schon bäumt sich das Boot hochauf. Weit ragt der Bug aus dem Wasser, der Mast neigt sich zu ihnen nieder, der Großbaum taucht hinten ein. Eine riesige Welle schwabbt über Bord. Sie fühlen das Wasser, es ist merkwürdig warm. Dann kommt zum Glück wieder Wind. Peter hat seine Geistesgegenwart nicht verloren, er springt auf und stemmt das Boot den nächsten Wellen entgegen. Das Schiffchen gehorcht. Sie nehmen kein Wasser mehr über. Nur noch Verbeugungen macht das Boot dem nach Hamburg hinauffahrenden Dampfer nach. Hans Holtz holt die Konservendose unter der Bank hervor und beginnt das Wasser auszuschöpfen. Sie schlagen sich Decken um die Schultern; denn es lohnt sich nicht mehr, sich umzuziehen. Gleich erscheint die Insel.
Langsam treibt das Boot aus der Fahrrinne heraus dem Ufer zu. Da taucht eine Spitze Landes im Wasser auf. Das Flutwasser bricht sich plätschernd an den Steinen. Das ist Lühesand, eine Elbinsel, die durch Millionen Kubikmeter Baggergut aufgehöht und mit einem festen Steinwall umgeben wurde, daß kein Sand bei hoher Flut zurückfließen kann in sein Element. Eine Binnenelbe trennt die Insel vom hannoverschen Ufer. Sie kreuzen nun in den Elbarm hinein und fühlen, wie von beiden Seiten die schwarzen Ufer aus dem Dunkel herauswachsen. Heinrich Mehrmann muß das Schwert hochziehen, und sie treiben einige Meter vom Steinufer von Lühesand entlang, um einen günstigen Landungsplatz ausfindig zu machen. Die Flut strömt hier sehr stark. An den Steinwällen kann man nicht anlegen. Da, ein Ruck, ein Zittern durch das Takelwerk! Das Boot sitzt fest auf einer vorgelagerten Sandbank, die vorn als graue Fläche erscheint.
»Zuerst die Segel herunter«, kommandiert Peter. Heinrich macht die Falltaue los, da rutscht das Segel Peter auch schon in die Arme. Die beiden benehmen sich wie alte Segler, kommt es Peter in den Sinn. Die flatternde Fock wird auch heruntergeholt. Peter schnallt den Großbaum auf den Bock, bendselt das Segel ein und legt sachgemäß das Persenning darum. Dann machen sie die Sturmlaterne klar, holen Zeltsack und Proviant und treten barfuß aus dem Boot in den Sand. Sie schleifen den Zeltsack die Steinböschung hinauf. Vor ihnen liegt das weite, unbewohnte Inselland, nur mit mannshohem Schilf und Ginsterbüschen bestanden. Weit kann man allerdings nicht sehen. Einige Meter von der Böschung packen Heinrich und Hans den Zeltsack aus und bauen, während Peter noch einmal nach dem Boot sieht. Die Flut hat es schon herumgelegt. Peter wirft den Anker weit aus und schiebt das Boot von der Sandbank. Als er wieder nach oben kommt, steht das Zelt schon. Aus dem kleinen Fenster leuchtet ihm Licht entgegen. Es macht einen heimeligen Eindruck.
Dann kriecht er hinein. Drei in einem kleinen Raum. Von der Mittelstange hängt an einem Faden die Sturmlaterne, die einen warmen Petroleumgeruch ausströmt, an den man sich gewöhnt. Das gehört alles dazu. Nun ans Essen. Hans Holtz spielt die Hausfrau. Er versteht es wundervoll, dünne Scheiben von dem Landbrot abzusäbeln, und das ist etwas wert. Mit den Pflaumen hat man sie betrogen; sie sind klein und fast noch grün. Sie beschließen lachend einstimmig, in den nächsten Tagen auf irgendeiner Sandbank Mus davon zu kochen. Ihr Appetit ist unheimlich groß; denn sie haben ja seit dem Morgen eigentlich kaum etwas gegessen. Wie die Türken sitzen sie auf Decken und Kissen um das weiße Tuch herum, auf dem die gestrichenen Brote ausgebreitet liegen.
Hans Holtz ist wie verwandelt, er ist fast, möchte man sagen, übermütig. Ein Handtuch hat er sich als Turban um den Kopf gewunden, jongliert mit den Brotschnitten, wirft sie durch die Luft und läßt sie geschickt vor dem Platz eines jeden landen. »Wir bleiben hier auf dieser unbewohnten Insel und siedeln uns an. Dann machen wir hier ein Landheim auf für junge Menschen, die keine Heimat haben.« Und er plant und plaudert, halb im Ernst, halb im Scherz.
»Du glaubst wohl, die Insel gehört niemand? Du kannst dir nicht ohne weiteres hier ein Haus bauen und Lühesand als deinen Besitz betrachten! Da würde dir der Domänenfiskus einen Strich durch die Rechnung machen«, meint Peter. Doch das stört Hans nicht im geringsten. Er plaudert und bringt die andern alle Augenblick zum Lachen. Sie staunen nur immer, wie sehr sich der schweigsame Junge verwandelt hat.
Dann ordnen sie ihre Schlafstellen. Unter dem Körper haben sie nur den Sand, unter dem Kopf ein Kissen. Hans ist das Schlafen im Freien gewöhnt, auch Heinrich hat schon oft im Zelt übernachtet. Peter wäre lieber auf seinem Boot. Alle drei schauen nun noch einmal hinaus. Die Augustnächte werden schon empfindlich kühl. Sie treten fröstelnd an die Böschung. Die Sandbank davor ist fort, die Flut dringt immer noch herein.
»Wo ist das Boot?« ruft Peter plötzlich. Es ist tatsächlich nicht mehr zu sehen.
»Der Anker hat nicht gefaßt. Das Boot treibt ab. Ich muß hinterher!«
Er wirft seine Kleider ab. Die beiden andern wollen mit.
»Hat jemand eine Taschenlampe? Ihr bleibt hier beim Zelt.«
Zum Glück hat Heinrich eine kleine Laterne, die Peter beim Schwimmen in den Mund nehmen kann. Schon steigt er die Steinböschung hinunter, die nur noch einen Meter aus dem Wasser ragt. Dann hören die beiden, wie er mit den Armen das Wasser teilt und vorbeischwimmt. Sie stehen und lauschen. Das Wasser spielt an den Steinen. Lautes Gequieke unterbricht die Stille. Ihnen wird unheimlich zumute. Sie hören, wie zwei Tiere, anscheinend Wasserratten, miteinander kämpfen. Unterdrücktes Schreien und Beißen, dann ein Plumps. Es ist wieder still.
Jetzt tönt eine Stimme über den Strom: »Hallo! Hallo!« Die beiden laufen im Sande entlang. Sie stolpern über Ginsterbüsche und verrostete Benzinkannen. Das macht aber nichts. Jetzt sind sie in Rufweite mit Peter, der auf seinem Boot steht und es mit dem Paddel an das Ufer heranführt. Meter für Meter hatte sich das Boot entfernt, der Anker schleifte auf dem glatten, harten Grunde.
»Hier kann ich nicht bleiben«, ruft Peter zu ihnen hinüber, »das Boot hält nicht. Weiter oben sind Pfähle. Da mache ich fest. Ich schlafe an Bord. Morgen geht's ganz früh weiter. Gute Nacht!«
Sie sehen die schwarzen Umrisse des Bootes auftauchen und wollen noch weiter mitlaufen; aber da versperrt ihnen eine sumpfige Niederung den Weg. Ihre Füße sinken in den Mud ein. »Hallo, gute Nacht, gute Nacht!« rufen sie. Niemand antwortet. Sie wandern zurück, einer hinter dem andern.
Wo ist das Zelt? Ringsum, soweit sie überhaupt etwas sehen, Sand, Buschwildnis und Schilf. Am besten ist es, sie tasten sich zur Steinböschung. Die Umgebung wird allmählich bekannter. Hier sind sie gelandet. Da liegt Peters Kleidung. Sie heben sie auf.
Die regelmäßigen Umrisse des grauen Zeltes sind kaum zu erkennen.
Durch das Fenster dringt noch immer Lichtschein.
Flackert das Licht?
Unwillkürlich bleiben beide stehen.
Sie haben ein Gefühl, als stimme da etwas nicht.
Bewegt sich im Zelt ein Schatten? Klappert und klingelt da nicht Metall?
Die beiden regen sich nicht.
Jetzt ist nichts mehr zu hören. War es Täuschung? Schon wollen sie leise weitergehen, da flattert der Zelteingang leicht auseinander. Ganz unten, fast auf dem Sande, kommt ein wilder Haarschopf zum Vorschein. Er ist ihnen abgewandt, doch dann dreht er sich um. Augen blicken sie starr an, und dann – ja dann geschieht alles blitzschnell, ehe man es erzählen kann: Eine Gestalt springt auf, mit einem Bündel unter dem Arm, will mit einem gewaltigen Satz in dem Buschdschungel verschwinden, ehe die beiden sich überhaupt rühren. Da stolpert der Kerl über ein Zeltseil, das von der Spitze über dem Eingang nach der Wurzel eines Ginsterstrauches führt, fällt der Länge nach hin, und das Bündel fliegt beiseits zu Boden. Ein Laib Brot, Becher, Messer, Butterdose und alles mögliche andere rollen heraus. Ehe der Dieb vom Boden loskommt, ist der lange Holtz schon da und stemmt sich auf ihn, mit den Händen an seinem Genick. Der Kerl prustet, weil ihm der Sand Mund und Nase verstopft.
Doch sobald Hans ihn ein wenig freigibt, geschieht etwas Unerwartetes. In weinerlichem Ton winselt er: »Mensch, hau mich nicht! Ich hab Hunger! Gib mir was zu essen!« Sein Atem riecht stark nach Fusel. Nun sitzt er im Sand und schaut aus verschwommenen Augen zu den beiden auf, die vor ihm stehen und nicht wissen, was sie mit ihm anfangen sollen. Aber Hunger hat der Kerl anscheinend doch, das ist nicht gemimt, sonst hätte er nicht ihren ganzen Proviant in die Decke gewickelt. Andre Decken, die viel wertvollere Objekte für ihn darstellen, hat er liegen gelassen. »Geben Sie mir was zu essen!« bittet er nochmals Hans Holtz. Merkwürdig ist eins: Heinrich Mehrmann redet er mit Du an, Hans Holtz dagegen, der in seiner Seglerkluft auch tatsächlich schmuck aussieht, mit einem leichten Anflug von Unterwürfigkeit mit Sie.
Dann sitzen sie wieder zu dreien im Zelt. Auf dem Platz, den Marquart eben noch einnahm, hockt jetzt der Vagabund, barfuß, im Segleranzug, der einen muffigen Geruch ausströmt und hier und da mit Nadeln zusammengehalten wird. Das gelbe Licht der Sturmlaterne trifft seine verwüsteten Gesichtszüge und unterstreicht gespensterhaft die Male, die die Zeit eingegraben hat. »Mensch, noch mehr!« sagt er immer wieder zu Mehrmann, der es diesmal übernommen hat, Schnitten abzuschneiden und zu streichen. »Was Trinkbares hast du hier wohl nicht?« Er benimmt sich ziemlich unverschämt. Mehrmann kramt im Gepäck herum und findet die Wasserflasche. Der Vagabund lacht auf. »Wasser? Da kann ich ja die Elbe aussaufen. Ich trinke das Wasser nur, wenn es durch die Kirsche gegangen ist.« Er trinkt aber doch hastig ein paar Schluck, und seine Hände zittern.
Dann blickt er scheu auf Hans Holtz, der ihm zur Seite hockt und bis jetzt unbeteiligt dagesessen hatte. »Sie feiner Herr wissen nicht, wie es unsereinem zumut ist! Sie haben 'ne feine Jacht und einen reichen Vater. Im Sommer auf der Elbe und im Winter in Italien, fein, was? Haben Sie schon mal auf der Landstraße gelegen, ohne einen Pfennig Geld, von den Leuten fortgejagt?«
Hans bleibt stumm und wendet sich ab, doch Mehrmann ergreift lachend für ihn Partei: »Der ist auch ein Bruder von der Landstraße. Gestern traf ich ihn in Hamburg. Zufällig fährt er mit. Sein Tippelzeug liegt naß im Boot, die Kluft, die er anhat, gehört nicht ihm. Er hat heute im Wasser gelegen.«
Der Vagabund sieht Hans groß an. Erkennt er den Gefährten in dem ihm gegenübersitzenden jungen Mann? Ist er beschämt? Jedenfalls beginnt er von sich selbst zu erzählen, wie zur Entschuldigung:
»Hier sitzt ihr und schämt euch wohl, daß ich im Zelt bin, was?« Er lacht auf. »Ha, war auch mal so jung wie ihr, und ihr wißt nicht, wie ihr ausseht, wenn ihr mal so alt seid wie ich. Ich als Junge: wenn ich daran denke! Mein Vater war Beamter in Berlin, die Korrektheit selber! Und ich kam bei Kriegsende gerade aus der Schule. Natürlich keine Stellung – alles drüber und drunter. Menschen im Taumel, im Fieber! Zeiten waren das! Und dazwischen standen wir jungen Leute. Ich las damals unmenschlich viel. Meine Mutter steckte mir abends Geld in die Hand: ›Du bist so jung, du mußt was mitmachen, sonst wirst du kein Mann!‹ Ich sträubte mich, aber meine Schwestern schleppten mich mit. Zuerst auf die Beamtenbälle, dann in die Tingeltangel. Übel war mir! Hundsübel. Ich konnte noch nichts vertragen. Und heute ...« Er hält inne.
»Na ja, eines Nachts kam ich besoffen nach Haus. Mein Vater – – – Es hat am nächsten Tag einen großen Krach gegeben. Die Mutter stand mir bei. Dann gewöhnte ich mich an das Bummelleben. Nun bekam die Mutter Angst; denn ich konnte sie vor den Nachbarn blamieren. Sie stellte sich auf die Seite des Vaters, der ganz der pedantische, kleinliche Mann war. Ich weiß überhaupt nicht, wo sein Herz saß. Dann bekam ich Stellung und Geld in die Finger. Das ging natürlich nicht gut. Ich wurde entlassen. Dann kam, was kommen mußte. Zu Hause wurde das Leben unerträglich. Der Vater beschimpfte dauernd den ungeratenen Sohn, und Mutter pendelte zwischen ihm und mir hin und her, aus Angst.
Eines Abends war ich angetrunken. Auf der Straße rempelte mich jemand an. Mich packte die Wut. Ich schlug zu. Dann lief ich, was ich konnte. Nach Hause ging ich nicht mehr. Ich tippelte los, auf der Landstraße nach Süddeutschland.«
Was der Vagabund nun erzählt, ist eine grausige Anklage gegen sich selbst und seine Eltern, die ihm nicht halfen, sondern ihn in den Abgrund hinunterstießen.
Er war im nächsten Jahr nochmals bei ihnen in Berlin aufgetaucht, hatte aber die eisige Ablehnung sofort gespürt, die man ihm entgegenbrachte. Es gab dauernd Streit, bis er die Konsequenzen zog und für immer verschwand. Er wurde Landarbeiter; doch er blieb bei der Arbeit nicht nüchtern. Man schickte ihn fort. Dann wanderte er als Bettler von Dorf zu Dorf. In einer märkischen Kleinstadt fand er einmal eine Tasche mit einer namhaften Geldsumme. Als Geck trat er jetzt auf. Als das Geld vertan war, wurde er Dieb. Das konnten die beiden Jungen seiner Erzählung sehr wohl entnehmen. Seine Spezialität waren die Ausflugsorte rund um Berlin. Sein bestes »Geschäft« machte er an Frühlingssonntagen in der Baumblüte in Werder. »Sie verwehrten mir das Leben unter ihnen, das gab mir das Recht, von ihnen zu nehmen. Wie kindisch und lächerlich benehmen sich die Menschen draußen! Wie dumm reden die Männer, wenn sie beim Wein in den Gärten der Wirtschaften sitzen! Und wie albern sind die Mädchen!«
Da ist er dann eines Tages auch seiner Familie begegnet. Es war für ihn ein unangenehmes, ekelhaftes Erlebnis. Er ging an dem Tisch vorbei, an dem sie saßen. Sein Vater zeigte eine Lustigkeit, die man sonst nicht an ihm kannte. Sie war unecht und abstoßend. Seine Mutter saß mit leeren Augen da, als sähe sie über alles hinweg und suche jemand, während die Schwestern sich auf dem Tanzparkett mitten im Garten belustigten. Damals hatte er immer Geld in der Tasche. Doch dann rückte ihm die Polizei auf die Fersen. Er verlegte sein Standquartier nach Hamburg, wo er aber in St. Pauli nicht Fuß fassen konnte.
Zur Blütezeit dieses Jahres bestahl er die Leute an den Ausflugsorten der Elbe. Zufällig schwamm er eines Tages nach Lühesand, wo eine nette Flotte von Seglern und Motorjachten in der Binnenelbe ankerte. Das Land war unbewohnt. Da nahm er es in Besitz. Er stahl das Beiboot einer Jacht und verbarg es im Sumpf. Dann baute er sich eine Erdhöhle in der Buschwildnis und bot sich den Sportlern als Hilfe an, um Gelegenheiten zum Stehlen zu finden, oder er fuhr in der Blütezeit zur Lühe.
Im Sommer wurde er krank, zum erstenmal in seinen Vagabundenjahren. Niemand wußte um ihn. Er litt Hunger und Durst, doch er rappelte sich wieder auf.
»Man lebt ...«
Nun sitzt er hier unter den jungen Leuten. Noch nie hat er so viel gesprochen wie heute. Er sieht die beiden an: »Wenn ihr nüchtern bleibt und euch selbst in der Hand behaltet, könnt ihr das Rennen gewinnen, sonst müßt ihr die Segel streichen! Verliert euch selbst nicht!« Er lacht wieder, und doch stehen in seinem Gesicht Scham und Schande. Dann schweigen sie alle.
Mehrmann denkt: »Kann man solchem Menschen helfen?« Er weiß es nicht, aber der Vagabund erwartet auch keine Antwort. Er hat sich schon erhoben, dreht sich auf den Knien um, schiebt mit dem Kopf die Zelttür auseinander und kriecht hinaus.
Dann machen die beiden schweigend auf dem harten Sand ihr Lager zurecht. Es reicht nur zu einer Kopfunterlage; doch Mehrmann schlägt vor, lieber den Kopf auf etwas Hartes zu betten und das Kissen ins Kreuz zu legen, wo die Last des Körpers am schwersten im Sand ruht. Sie löschen die Lampe und legen sich hin, ohne sich auszukleiden. Der Boden strömt Kühle aus. Hans Holtz schließt die Augen. Ihn fröstelt. Es ist ihm, als rollten immer noch die Wogen des Dampfers, der sie beinahe gerammt hat.
So viel wie heute hat er selten erlebt. Da sagt Mehrmann: »Das ist so richtig die Moral der Spießer, und die Eltern bringen das den Kindern bei: Alles mitmachen! Nur der, der mitmacht, wird für voll angesehen. Aber wehe, wenn er fällt, wenn er anstößt! Dann wird er aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, geächtet! Man ist nur einmal jung, heißt es zuerst. Und dann geht die innere Hoheit zum Teufel!«
Holtz schweigt. Plötzlich sagt er: »Weint draußen jemand?« Ein ächzendes, wimmerndes Klagen dringt von weither zu ihnen. Ist es ein Mensch, der da um sein verpfuschtes Leben weint? Die Töne verstummen nicht. Ein leichter Geruch von Branntwein, mit Petroleum gemischt, und der Duft frischen Sandes liegt im Zelt. Darüber schlafen sie ein und wissen nicht, daß es nur ein Bagger ist, der heulend die ganze Nacht im Strombett arbeitet.