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(S. 137 ff.)
Der freundlichen Mitteilung eines der Leser der Schrift verdanke ich den Hinweis auf eine interessante Parallele zu der von mir in dem obigen Aufsatz entwickelten Ansicht über den Zweck, welcher der usucapio hereditatis zu Grunde liegt. Nach altschottischem Recht haftete derjenige, welcher ohne Mitwirkung der Obrigkeit sich in Besitz einer Erbschaft setzte, für alle Schulden des Verstorbenen. Die Notiz darüber findet sich in The life of Samuel Johnson by James Boswell B. 1 S. 119, und ich lasse die Stelle, wie sie mir vom Einsender mitgeteilt ist, hier abdrucken, indem ich für die des Englischen unkundigen Leser eine Übersetzung hinzufüge.
It was held of old and continued for a long period, to be an established principle in that (scotch) law that, whosoever intermeddled with the effects of a person deceased, without the interposition of legal authority to guard against embezzlement, should be subjected to pay all the debts of the deceased, as having been guilty of what was technically called vicious intromission.
Es war ein von alters her geltender und lange Zeit beibehaltener Grundsatz des schottischen Rechts, daß, wer immer sich in den Nachlaß einer verstorbenen Person ohne Mitwirkung der Obrigkeit eingemischt hatte, zur Sicherung gegen Veruntreuungen alle Schulden des Verstorbenen zu bezahlen hatte, als habe er sich einer technisch sogenannten verwerflichen Einmischung schuldig gemacht.
Es war also dasselbe noli me tangere in Bezug auf die Erbschaft nach altschottischem Recht, wie ich es für das altrömische Recht angenommen habe, nur daß dieses außer der Einmischung noch Ablauf eines Jahres verlangte, d. i. den Occupanten verstattete, die in Besitz genommenen Sachen den Erben oder Gläubigern herauszugeben und sich dadurch der Haftung für die Schulden zu entziehen. Dieser Nachweis wird genügen, um den Einwand der inneren Unwahrscheinlichkeit, den man meiner Ansicht entgegensetzen könnte, zu entkräften; das alte römische Recht ist sogar hinter dem altschottischen noch um einen Schritt zurückgeblieben, da nach diesem der Occupant erbschaftlicher Sachen sofort, nach jenem erst nach Jahresfrist haftete.
Reich und arm im römischen Civilprozeß. (S. 175-232.)
I. Ursprung des Sacramentsprozesses. – Die Gottesgerichte.
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift bin ich in Bezug auf den Ursprung des Sacramentsprozesses zu einer neuen Ansicht gelangt, die ich in folgendem mitteile. Ausgehend von der Tatsache, die durch den Namen sacramentum, die Deposition des Succumbenzgeldes bei den Pontifices und seine Verwendung zu religiösen Zwecken außer Zweifel gestellt wird, daß derselbe in seiner ursprünglichen Gestalt eine religiöse Beziehung hatte, glaubte ich dieselbe ursprünglich durch Zuhilfenahme des Eides vermitteln zu können, S. meinen Geist des röm. Rechts Band I, Aufl. 1 (1852), S. 262 fl. bin aber später Aufl. 2 des genannten Werks (1866) S. 297, ebenso in den folgenden Auflagen. davon zurückgekommen und habe dieselbe lediglich darin zu finden geglaubt, daß die Pontifices als die Schriftgelehrten der alten Zeit, vor allen berufen waren, schwierige Rechtsfragen zu entscheiden, und daß das sacramentum die dafür zu entrichtende, dem geistlichen Fonds zufallende Urteilsgebühr gebildet habe. Die religiöse Beziehung suchte ich dadurch herzustellen, daß das sacramentum die Götter für die Zeit, die der Pontifex durch Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten ihrem Dienst entzog, schadlos halten sollte. Ich bin genötigt, auch über diese Ansicht den Stab zu brechen. Zunächst ist die religiöse Beziehung, welche sie zu vermitteln sucht, eine sehr entfernte, sie hat zu ihrem Grunde lediglich den zufälligen Umstand, daß der Richter zugleich Priester war. Sodann stimmt der außerordentlich hohe Betrag des Sacraments von 500 As bei Streitobjekten von 1000 As und darüber sehr wenig zu dem Gesichtspunkt einer bloßen Urteilsgebühr. Bedenkt man, daß bei der Reduction der ursprünglich zu leistenden Rinder und Schafe das Rind auf 100, das Schaf auf 10 As angesetzt ward, daß die Sühne für Knochenbrüche nur 300, bei Sklaven gar nur 150, für Injurien und abgehauene Bäume nur 25 betrug, so muß es als undenkbar erscheinen, daß eine Urteilsgebühr auf 500 hätte angesetzt werden sollen. Ich glaube das Rätsel, an dem ich mich, wie ich mich jetzt überzeuge, zwei Mal vergebens abmühte, endlich gelöst zu haben. Die Lösung lautet: Der Sacramentsprozeß ist an Stelle der Gottesurteile der Urzeit getreten, das sacramentum hat die Bedeutung einer Abfindungssumme für die Ablösung der bis dahin der Gottheit zustehenden Gerichtsbarkeit – das luere in corpore ist ersetzt durch das luere in aere.
Die Gottesurteile bildeten eine altarische Einrichtung, und sie lassen sich für alle drei Zweige, in welche das arische Stammvolk sich später spaltete: Inder, Eranier, Indoeuropäer nachweisen. Den Nachweis s. bei A. Krägi in seiner sehr lehrreichen Untersuchung: Alter und Herkunft der germanischen Gottesurteile in der Festschrift zur Begrüßung der XXXIX. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Zürich, Septbr. 1887. Aber während sie sich bei vier der indoeuropäischen Volksstämme: Griechen, Kelten, Germanen, Slaven zum Teil noch bis in eine vorgerückte historische Zeit erhielten, haben die Römer sie schon in vorhistorischer Zeit abgetan. Das Zeugnis, welches Krägi für die Anwendung des geweihten Bissens bei Sklaven, welche sich vom Verdacht des Diebstahls zu reinigen hatten, aus Akron beibringt, genügt nur als Beweis einer Volkssitte der späteren Zeit, die auf die Berührung mit anderen Völkern zurückzuführen sein wird, von denen das gemeine Volk in Rom sie entlehnte. Es war eine Tat, des berufenen Rechtsvolks würdig, eine der gewaltigsten Leistungen, die es je vollbracht hat, da sie nicht bloß einen völligen Bruch mit der Vergangenheit in sich schloß, an der sonst doch die Römer so ängstlich festhielten, sondern, was noch schwerer wog, die Beseitigung einer religiösen Einrichtung zur Voraussetzung hatte – die Tat des Herkules in der Wiege. Wie fest muß die Überzeugung von der Trüglichkeit der Gottesurteile im Volk gewurzelt gewesen sein, um die Bedenken, die sich einem solchen Schritt entgegensetzten, zu überwinden; es handelte sich dabei um nicht mehr und nicht weniger, als die Gottheit des Richteramtes, dessen sie bisher gewaltet hatte, zu entkleiden, ein Eingriff in das Recht der Gottheit. Wie konnten die Pontifices, die berufenen Vertreter des Rechts der Gottheit, dazu ihre Zustimmung erteilen?
Die Antwort lautet: die Gerichtsbarkeit der Gottheit ward nicht einfach aufgehoben, sondern abgelöst, aber nicht ein für alle Male, sondern im einzelnen Fall. Diese Bestimmung hatte das sacramentum, das der unterliegende Teil verwirkte, es bestand in Opfervieh, bei Sachen im Wert von 1000 As und darüber in 5 Kühen, bei Sachen im Wert von 500 und darunter in 5 Schafen. Dabei stand die Gottheit sich besser als bei den Schmerzen und Wunden, welche der unterliegende Teil beim Gottesgericht davontrug. Aus Festus wissen wir, daß es in Rom eine Zeit gegeben hat, wo es an Opfertieren fehlte, und gerade mit diesem Mangel bringt er das sacramentum in Verbindung. Fest, p. 344: sacramenti autem nomine id aes dici coeptum est quod et propter aerari inopiam et sacrorum publicorum multitudinem consumebatur id in rebus divinis. Allerdings nicht die ursprüngliche Einführung desselben, sondern nur die Übertragung des Namens sacramentum auf das an die Stelle des früheren Opferviehs getretene Geld, aber der Zusammenhang, in dem diese sprachliche Tatsache mit dem Mangel an Opfertieren stehen soll, ist gänzlich unerfindlich, es muß ein anderer gewesen sein, den Festus nur falsch gedeutet hat. In den ihm zu Gebote stehenden Quellen wird er die Notiz gefunden haben: das sacramentum verdankt seinen Ursprung dem Mangel an Opfertieren, diesen sachlichen Zusammenhang hat er dann in der angegebenen Weise auf den sprachlichen übertragen.
Wie kam das Opfertier im Sacramentsprozeß zum Namen sacramentum? Bloß dadurch, daß es zum Opfer verwandt wird? Dann hätte jedes Opfertier diesen Namen tragen müssen. Dies ist aber bekanntlich nicht der Fall. Warum trägt bloß das Opfertier im Sacramentsprozeß den Namen sacramentum?
Das kann offenbar nur mit dem Sacramentsprozeß selber zusammenhängen, es muß demselben irgend eine religiöse Beziehung zu Grunde gelegen haben, die ihm im Unterschiede von den übrigen Formen des gerichtlichen Verfahrens eigentümlich war. Eine solche ist aber in derjenigen Gestalt, die er in der Schilderung bei Gajus an sich trägt, nicht zu entdecken, er erscheint hier als eine durchaus profane Prozeßform wie alle übrigen, sie kann also nur in seiner Vorgeschichte gelegen haben: der Sacramentsprozeß muß ein religiöses Verfahren der Urzeit abgelöst haben. Als solches ist uns nun für alle indoeuropäischen Völker das Gottesgericht bezeugt, nur bei den Römern fehlt es. Wo ist es geblieben? Einfach über Bord geworfen? Das lag nicht in der Weise der Römer, nie erfolgte ein gänzlicher Bruch mit der Vergangenheit, überall ward eine Brücke geschlagen zwischen dem Bisherigen und dem Neuen, dieses an jenes angeknüpft. Und gerade bei einer religiösen, durch ein vieltausendjähriges Alter geheiligten Einrichtung, wie die Gottesgerichte, sollten sie dieser ihrer Weise untreu geworden sein? Wer das behauptet, der kennt die Römer nicht. Der einzige Weg, den sie eingeschlagen haben, kann nur darin bestanden haben, daß sie dieselben durch ein anderes Verfahren ersetzten, und das ist eben durch den Sakramentsprozeß geschehen. Die Neuerung, welche er traf, bestand nicht darin, daß die Gottheit ihres bisherigen Rechts, den Richterspruch abzugeben, beraubt wurde, im Princip ward es aufrecht erhalten und nur im einzelnen Fall durch die der Gottheit zu stellenden Opfertiere abgelöst.
Damit ist es erklärt, wie sie und nur sie des Namens sacramentum teilhaftig werden konnten, sie waren nicht Opfertiere wie alle anderen, sondern sie hatten eine ganz specielle Bestimmung, die keinem andern zukam: für die Gottheit die einer Abfindung für die Nichtausübung ihres Richteramtes, für die Partei die einer an Stelle der Körperbeschädigung, die sie im Fall ihres Unterliegens im Gottesgericht erlitten hätte, getretenen Vermögensbuße, Ersatz des luere in corpore durch das luere in bonis. So erklärt sich der hohe Betrag des sacramentum von fünf Rindern, später 500 As, der als Urteilsgebühr gänzlich unbegreiflich wäre (S. 386). Die Abfindungssumme für die Gottheit konnte nur eine ansehnliche sein, und wenn man bedenkt, was für die Partei bei der Feuerprobe (über die Wasserprobe s. u.) auf dem Spiele stand, so wird man es verstehen, daß das sacramentum dafür nur sehr hoch bemessen sein konnte; das scheinbare Mißverhältnis, in dem dieser Satz zu dem von 300 As für das os fractum stand, ist damit erledigt.
Als das ursprüngliche Dispositionsobjekt beim Sacramentsprozeß: das Vieh, auf Geld reduziert wurde (ein Rind = 100, ein Schaf = 10, d. i. beim hohen Sacramentssatz 500, beim niedrigen 50 As), und die Deposition bei Beginn des Prozesses durch Zahlung nach Beendigung desselben ersetzt ward, wurde mit Beitreibung der verwirkten Summe eine eigene Behörde betraut: die triumviri capitales. Warum wurden es nicht die Quästoren, denen sonst die Beitreibung aller verwirkten Strafen oblag? Warum bedurfte es hier der Einsetzung einer besonderen Behörde, und warum ward ihr lediglich die Beitreibung der sacramenta, nicht auch die andrer Strafen oder Gefälle überwiesen, und wie verträgt sich ihre Bezeichnung als triumviri capitales mit der zu ihrer sonstigen Funktion so gar nicht stimmenden Beitreibung von Geld?
Die Frage ist bisher gar nicht aufgeworfen, geschweige beantwortet worden, wir stehen hier vor einem rechtshistorischen Rätsel. Die Lösung desselben dürfte mit dem Bisherigen erbracht sein. Die Gottesgerichte enthielten eine causa capitalis, eine Procedur, die an Leib und Leben, an Haut und Haar ging! Darum die triumviri capitales, welche den Betrag, der an Stelle des Einsatzes des Körpers im alten Verfahren getreten war, beizutreiben hatten, darum ihre Beschränkung auf die Beitreibung lediglich dieses Geldes. In ihrem Namen hat sich also noch eine sprachliche Reminiscenz an die Gottesgerichte der Urzeit erhalten. Zur Zeit, als ihnen diese Funktion überwiesen ward, muß die Erinnerung daran im Volke noch lebendig gewesen sein, sonst hätte man an ihrer Stelle die Quästoren damit betraut.
Sollten sich nicht noch andere sprachliche Reminiscenzen erhalten haben? Lebten die Gottesgerichte in dem Sakramentsprozeß fort, was lag näher, als den Namen, den sie bis dahin getragen hatten, auf das neue Verfahren zu übertragen? So geschah es mit dem Namen condictio, als an Stelle der legis actio per condictionem die condictio des Formularprozesses trat, und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es sich mit dem Namen sacramentum nicht anders verhalten haben wird, derselbe würde demnach nicht für den Sacramentsprozeß erst neugebildet, sondern von den Gottesgerichten auf sie übertragen worden sein.
Sacramentum hat in der lateinischen Sprache bekanntlich noch eine andere Bedeutung: die des Eides. Sollte das sacramentum in diesem Sinn nicht auch mit dem im Sinn des Gottesgerichtes zusammenhängen? Das Zeugnis, welches wir Sophokles über den Zusammenhang der Gottesgerichte mit dem Eide bei den Griechen in der heroischen Zeit verdanken, setzt dies außer Zweifel. Er läßt den Wächter in der Antigone (v. 265 fl.) sprechen:
Ein
glühend Erz zu fassen waren wir bereit,
Durch Feuersglut zu schreiten und
mit heil'gem Schwur
Die Götter anzurufen, daß wir's nicht getan.
Das Gottesurteil erscheint hier als Besiegelung der Wahrheit eines vorher zu leistenden Eides: eines Reinigungseides, wie wir ihn in heutiger Rechtssprache nennen würden, und ich bin daher nicht auf völlig falscher Fährte gewesen, wenn ich in früherer Zeit einen Zusammenhang zwischen dem Sacramentsprozeß und dem Eide gemutmaßt habe, ich habe nur darin gefehlt, daß ich es für den Sacramentsprozeß tat, während ich es für die ihm vorausgegangene Form des Verfahrens durch Gottesgericht hätte tun sollen.
Unter den drei übrigen indoeuropäischen Völkern, für welche uns die Gottesgerichte bezeugt sind, begegnen wir dem Eide meines Wissens nur bei den Germanen, nicht bei den Kelten und Slaven, bei jenen in zwei Fällen: dem Gottesgericht durch Zweikampf (noch im Sachsenspiegel 1, 63) und im friesischen Recht ( lex Frisionum 4, §8, 9) beim Diebstahl auf handhafter Tat (das furtum manifestum der Römer) durch Kesselfang (s. u.). In beiden Fällen sollen beide Teile schwören und ihren Eid durch das Gottesgericht erhärten. Der Umstand, daß der Zweikampf dem altarischen Recht fremd war, welches nur die Feuer- und Wasserprobe kannte (s. u.), tut der Beweiskraft des Vorkommens des Eides bei ihm keinen Eintrag, wir sind zu dem Schluß berechtigt, daß, als die Germanen diese dritte Probe zu den genannten beiden Arten hinzufügten, was schon in vorhistorischer Zeit geschehen ist ( Vellej. Pat. II 118: solita armis discerni), der Eid von ihnen auf sie übertragen ward. In die Zeit der Christianisierung der Germanen läßt sich die Hinzufügung des Eides nicht verlegen, da die christliche Kirche dem Eide eher zu steuern als Vorschub zu leisten suchte, und ganz dasselbe gilt von dem Eide beim Kesselfang nach friesischem Recht. So werden wir also in dem Eide beim Gottesgericht eine Einrichtung der Urzeit der indoeuropäischen Völker zu erblicken haben. Wenn er weder bei Kelten noch Slaven nachweisbar ist und auch in den meisten germanischen Volksrechten bei Beschreibung des Rituals der Feuer- und Wasserprobe gar nicht erwähnt wird, so kann dies entweder darin seinen Grund haben, daß er als eine allbekannte, gar nicht der Erwähnung bedürftige Sache mit Stillschweigen übergangen ward, oder daß die christliche Kirche ihn dabei beseitigt hatte, jedenfalls genügt das Zeugnis von Sophokles, um darzutun, daß der Eid ein integrierendes Moment der Gottesgerichte der Vorzeit bildete.
So würden also die Gottesgerichte der Vorzeit sich darstellen als Besiegelung der Wahrheit eines geschworenen Eides. Der Gedanke, auf dem sie beruhen, besteht also nicht darin, daß die Gottheit angerufen wird, eine Entscheidung zu treffen, der sich die Menschen bei Unklarheit der Sache nicht gewachsen fühlen, es ist nicht die Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnis, welche in der Not zu ihr ihre Zuflucht nimmt, sondern es ist der bei ihr geschworene Eid, welcher ihr Einschreiten motiviert; die Gottheit soll nicht sowohl einen Ausspruch tun über Recht und Unrecht in der Sache selber, als vielmehr darüber, ob der Mann wahr oder falsch geschworen hat. Darüber steht ihr allein die Entscheidung zu, und sie erteilt sie durch den Ausfall der Probe, der der Mann sich zu unterziehen hat, hat er wahr geschworen, läßt sie sie ihn bestehn, wenn falsch, so nicht. Die Gottheit ist gerecht, sie nimmt sich des Unschuldigen an, ihm kann selbst das glühende Eisen nichts anhaben, nur der Schuldige wird dadurch versehrt, die Schmerzen, Wunden, Körperverletzungen, die er davon trägt, sind die Strafe, durch welche die Gottheit den begangenen Meineid an ihm rächt.
Auf diese Weise: durch Anknüpfung der Gottesgerichte an den Eid gewinnen dieselben erst eine befriedigende Gestalt. So erklärt sich nicht bloß die Heranziehung der Gottheit – nur sie konnte die Entscheidung über den geschworenen Eid abgeben –, sondern so findet auch das schwere Übel, welches den Mann traf, der die Probe nicht bestand, seine Rechtfertigung, es war die verdiente Strafe für seinen Meineid, Ob die lückenhafte Stelle bei Gaj. IV, 13, in der nur das Wort falsi erkennbar ist, einen Hinweis auf den falschen Eid enthalten hat, wie Huschke annimmt, der sie ergänzt: falsi loquo propter jurisjurandum periculosa erat ist mir mehr als zweifelhaft. Offenbar ist, daß Gajus hier das sacramentum mit der Unwahrheit in Verbindung bringt, und zwar kann es nur als Strafe derselben gemeint sein, aber, da er im übrigen nirgends des Eides gedenkt, so wird er unter Unwahrheit nur die der Behauptungen der beiden Teile verstanden haben. während es als Folge des bloßen Unterliegens im Rechtsstreit außer allem Verhältnis zu der ihm dabei zur Last fallenden Schuld gestanden hätte. Auch die Urteilsformel im Sacramentsprozeß gewinnt dadurch ein ungeahntes Licht. Sie lautete bekanntlich nicht, wie es doch die gegebene Form des Urteils ist, auf Freisprechung oder Verurteilung, sondern im ersten Fall auf sacramentum justum, im zweiten auf sacramentum injustum esse. Warum diese bloß mittelbare Entscheidung des Rechtsstreits statt der unmittelbaren? Nach einer Antwort habe ich mich vergebens umgesehen. Sie ist gegeben mit der im Bisherigen entwickelten Ansicht. Beim Gottesgericht lautete die Frage, welche an die Gottheit erging, nicht: hat der Mann recht oder unrecht, sondern: hat er wahr oder falsch geschworen, d. i. sacramentum justum an injustum esse, und diese Form der Frage und die ihr entsprechende des Urteils ward, als Eid und Gottesgericht durch den Sacramentsprozeß ersetzt wurden, in ihn hinübergenommen. Die mittelbare Entscheidung der Rechtsfrage im Sacramentsprozeß ist also nur das historische Residuum der ihr vorausgegangenen unmittelbaren über den Eid im Gottesgericht.
Der Eid im Gottesgericht war kein einfach assertorischer Eid, sondern ein Reinigungseid. Der Beklagte, wie wir ihn nennen wollen, reinigt sich dadurch von einer gegen ihn erhobenen Beschuldigung. Nicht der Kläger schwört ihn, Wenn in den beiden oben (S. 392) hervorgehobenen Fällen des germanischen Rechts auch der Kläger schwört, so kann ich darin nur eine Abweichung von dem ursprünglichen Grundgedanken der Gottesgerichte erblicken, wofür ich mich auf den Verlauf der Darstellung beziehe. Beim Zweikampf war diese Neuerung wenigstens praktisch durchführbar, da nur einer von beiden Teilen als Sieger daraus hervorgehen konnte, beim Kesselfang war sie geradezu unverständlich, denn wie, wenn beide Teile sich die Hände verbrannten? Hier endete der Prozeß ohne alle und jede Entscheidung, beide Teile hatten falsch geschworen, der Kläger, daß der Beklagte gestohlen, der Beklagte, daß er nicht gestohlen habe. Vielleicht hat eine Salbe, die der Priester demjenigen von ihnen gab, dessen Eid er für den richtigen hielt, diesem unsinnigen Ausgang vorgebeugt. Der unterliegende Teil hatte außerdem noch 60 Solidi zu entrichten, unter der obigen Annahme also beide. Wer hätte da noch eine Klage wegen Diebstahls auf handhafter Tat erheben mögen? Die Klage scheint mir denselben Namen zu verdienen, wie das in partes secare (Abteil. II, Nr. IV): den einer rechtlichen Atrappe, sie war darauf zugeschnitten, daß niemand sich ihrer bedienen sollte. Sechzig Solidi – man vergegenwärtige sich den außerordentlich hohen Betrag – dazu geschundene Hände und den Spott und Hohn obenein – wer hätte um solchen Preis noch eine Anklage wegen einer Sache, die er bei Ertappung des Diebes auf handhafter Tat demselben ja sofort abgenommen hatte, erheben mögen? Die Klage hieß: klage nicht, beruhige Dich dabei, daß Du die Sache noch hast. um seinen Anspruch zu beweisen, sondern der Beklagte, um die von jenem gegen ihn erhobene Beschuldigung zu entkräften, er schwört sich los. Hätte nun jede Beschuldigung genügt, um jemanden in die Lage zu versetzen, den Reinigungseid leisten und sich der damit verbundenen Probe unterwerfen zu müssen, so wäre Leib, Leben, Ehre auch des unbescholtensten und angesehensten Mannes in die Hand eines jeden gelegt, der ihm Übles wollte, jeder hätte jedem dies Los bereiten können, der Gottesgerichte wäre kein Ende gewesen, Lüge, Bosheit, Rachsucht hätten freies Spiel gehabt. Gegen eine solche Gefahr, welche mit vollendeter Rechtlosigkeit gleichbedeutend gewesen wäre, bedurfte es einer Garantie, und sie kann nur dadurch vermittelt worden sein, daß man von demjenigen, der die Beschuldigung erhob, die Beibringung von Tatsachen erforderte, welche sie rechtfertigten: Indicien oder Aussagen von Zeugen. Diesem von Seiten des Klägers geführten Beweis setzte der Beklagte die eidliche Behauptung seiner Unschuld entgegen, indem er die Gottheit als Zeugen anrief und sich mittelst der Probe ihrem Ausspruch unterwarf. So geschieht es in dem obigen Fall von Sophokles' Antigone, wo die Nachlässigkeit der Wächter durch die Tatsache des Abhandenkommens des Leichnams bereits erwiesen war.
In diesem Sinne war also der Eid beim Gottesgericht ein Reinigungseid, er sollte den Angeschuldigten von der Schuld, die ihm nach dem Urteil der Menschen anklebte, durch den Ausspruch der Gottheit, die den blendenden Schein von der Wahrheit zu unterscheiden vermochte, reinigen, d. i. einen geführten Beweis entkräften. Aber – und das ist für die richtige Erfassung der Bedeutung der Gottesgerichte von äußerster Wichtigkeit – nicht innerhalb desselben Verfahrens, so daß die Streitsache, die vor den Menschen begonnen hatte, vor der Gottheit zu Ende geführt worden wäre, – sondern das erste Verfahren ist abgeschlossen, es hat geendet mit der Verurteilung des Angeklagten, und es beginnt jetzt ein zweites, indem der Verurteilte Berufung an die Gottheit einlegt, – die Gottheit erkennt nicht in erster, sondern in der Appellationsinstanz. Einen unwidersprechlichen Beweis dafür enthält die solenne Formel der Einleitung des Sacramentsprozesses: das provocare sacramento (Gaj. IV, 16: D. aeris sacramento te provoco), eine Wendung, an der man bisher gänzlich achtlos vorübergegangen ist, obschon sie doch zum Nachdenken hätte auffordern sollen. Provocare ist der technische Ausdruck des alten Rechts für Einlegung der Berufung an eine höhere Instanz: von den Strafurteilen der Könige oder der von ihnen bestellten duumviri perduellionis (Liv. I 26: si a duumviris provocaverit, provocatione certato) und der Magistrate an das Volk, die Verwendung desselben für das Sacramentsverfahren beweist also, daß dieses bei seiner Einführung als Provocationsverfahren gedacht worden ist, was bei dem von mir dargelegten Verhältnis desselben zum Gottesgericht nur möglich war, wenn dieses von der Urzeit in derselben Weise angesehen worden war. Provocare sacramento bedeutete demnach in der Urzeit Berufung auf das Gottesgericht, und diese Formel behielt man ganz so wie die des sacramentum justum, injustum esse bei, als man das Gottesgericht durch den Sacramentsprozeß ersetzte.
Provocare hat allerdings im spätern Sprachgebrauch, selbst in dem der Juristen (z. B. Gaj. IV 93, 165: provocare sponsione) die Bedeutung der einfachen Aufforderung angenommen, in einer Formel ist es in diesem Sinne nie gebraucht worden, und am wenigsten kann man diesen ungenauen Sprachgebrauch einer Formel des alten Rechts unterlegen, der Schluß von demselben auf die Absicht, den Sacramentsprozeß damit als Provocationsverfahren zu kennzeichnen, läßt sich also gar nicht umgehen, und da er selber nicht den geringsten Anhalt dafür darbietet, so bleibt nichts übrig, als die Erklärung dafür in dem Verfahren zu finden, das ihm vorausgegangen war. Das provocare sacramento ist ebenso wie der Ausdruck sacramentum , die Urteilsform sacramentum justum, injustum esse und die triumviri capitales ein sprachliches Residuum aus der Zeit der Gottesgerichte.
Mit der im obigen aufgestellten Idee der Reinigung hängt meines Erachtens die Wahl der beiden Proben zusammen, welche der Urzeit allein bekannt waren: der Feuer- und Wasserprobe; die des geweihten Bissens und des Zweikampfes sind spätern Ursprunges, bei den Ariern finden sie sich nicht. Warum nur die Feuer- und Wasserprobe und warum gerade sie? Eine vermessene Frage, wird man sagen, wie vermögen wir zu ermitteln, was die alten Arier bei der Wahl dieser Proben geleitet hat? Nach meinem Dafürhalten liegt es offen zu Tage. Der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Probe kann es nicht gewesen sein, er trifft nur für die Feuer-, nicht für die Wasserprobe zu, die dem Angeschuldigten, er mochte sie bestehen oder nicht, nicht die mindeste Gefahr drohte (s. u.). Wäre er es gewesen, so hätte man, wenn man einmal neben der Feuerprobe andere wollte, statt der Wasserprobe manche ungleich gefährlichere zur Verfügung gehabt. Es muß also ein anderer Gesichtspunkt gewesen sein, der beiden Proben gemeinschaftlich war, und er ergibt sich, wenn man die Bedeutung von Feuer und Wasser für den Zweck der Probe ins Auge faßt. Die Probe soll dartun, daß der Angeschuldigte frei von Schuld, d. i. rein, ist, Feuer und Wasser aber sind die beiden reinen Elemente, an deren Verhalten zu ihm man erproben kann, ob er in Wahrheit rein ist.
Die Wasserprobe bestand darin, daß der Beschuldigte ins Wasser geworfen ward; sank er unter, so galt er als unschuldig, – vorausgesetzt wird dabei natürlich, daß er sofort wieder herausgeholt ward, sonst hätte er ja trotz seiner Unschuld ertrinken müssen – hielt er sich über dem Wasser, als schuldig. Sonderbar! man sollte gerade das Umgekehrte erwarten. Das Untersinken, möchte man sagen, hätte als Beweis der Schuld gelten müssen, das Treiben auf dem Wasser als Beweis der Unschuld, der Schuldige geht unter und ertrinkt, der Unschuldige bleibt oben, das Wasser kann ihm nichts anhaben. Aber gerade an dieser Umkehr des scheinbar Natürlichen bewährt sich die obige Idee von der Bedeutung des Wassers: das reine Wasser nimmt den Reinen in sich auf, es verträgt sich mit ihm; den Unreinen, durch den es verunreinigt werden würde, duldet es nicht in sich, es wirft ihn aus.
Die Feuerprobe, deren es verschiedene Arten gab und zu denen auch die des heißen Wassers (Kesselfang) gehörte, die man früher fälschlich zu der Wasserprobe gezählt hat, Krägi S. 52. beruht auf demselben Gedanken wie die Wasserprobe: das Feuer duldet keinen Schmutz, so wenig wie das Wasser, nur dem Unreinen wird es verderblich, indem es ihn versengt, verbrennt, dem Reinen kann es nichts anhaben, ihm haftet kein Schmutz an, den es hinwegtilgen könnte.
Auf diese Weise ordnen sich also beide Proben dem Grundgedanken der Gottesgerichte: Erprobung der Reinheit des Angeschuldigten, unter, und gewähren zugleich eine Stütze für meine oben entwickelte Ansicht von der Bedeutung des Eides als eines Reinigungseides. Beide Bestandteile des Verfahrens: der Reinigungseid und die Erhärtung desselben durch die beiden reinen Elemente: Feuer und Wasser stützen sich gegenseitig, es ist ein und derselbe Gedanke, in den sie ausmünden: Reinheit.
Wann kam die eine, wann die andere Probe zur Verwendung? Darüber wissen wir nichts, aber als völlig zweifellos betrachte ich es, daß es darüber feste Bestimmungen gegeben hat. Hätte es daran gefehlt, und wäre die Wahl dem Angeschuldigten überlassen worden, so würde er natürlich stets die Wasserprobe gewählt haben, das einzige, was sie ihm bei einem ungünstigen Ausfall in Aussicht stellte, war die Nichterbringung seines Gegenbeweises, ohne daß er im mindesten dadurch Schaden nahm. Ebensowenig kann die Wahl dem Kläger überlassen worden sein, er würde sich stets für die Feuerprobe entschieden haben. Auch nicht dem Richter oder den Priestern, welche beim Gottesgericht mitzuwirken hatten, sie hätten damit das Los des Angeschuldigten so gut wie in ihrer Hand gehabt, demjenigen, dem sie wohlwollten, hätten sie die Wasserprobe, demjenigen, dem sie übelwollten, die Feuerprobe zuerkannt. So muß es also feste Bestimmungen darüber gegeben haben, wann die Feuer-, wann die Wasserprobe einzutreten habe, und für die verschiedenen Arten der Feuerprobe wird dasselbe gegolten haben. Daß es in der Tat an derartigen Bestimmungen nicht gefehlt hat, wissen wir. Aus germanischen Rechtsquellen entnehmen wir, daß für den Kesselfang ein » mos solitus mensurae « bestand. Bei » einfacher Klage« ward der heiße Stein so hoch gelegt, daß man die Hand nur bis zum Handgelenk, bei » dreifacher« so tief, daß man sie bis zum Ellenbogen einzutauchen hatte. Krägi, S. 52. Ein ähnlicher Unterschied bestand nach angelsächsischem Recht für das Tragen des glühenden Eisens, bei einfacher Klage betrug das Gewicht desselben ein Pfund, bei dreifacher drei ( in simplo unum pondus, in triplo tria). Krägi, S. 46. Damit ist der Nachweis erbracht, daß die Verschiedenheit der Streitsache maßgebend war für die der Probe, und wenn sie es war für das Geringere: die Abstufung innerhalb einer und derselben Probe, um wie viel mehr wird sie es gewesen sein für das Höhere: für die Anwendbarkeit der einen oder anderen.
Sehen wir jetzt zu, was aus der Feuer- und Wasserprobe im Sacramentsproceß geworden ist.
Der Feuerprobe entspricht der Sacramentssatz von 5 Rindern (500 As), der Wasserprobe der von 5 Schafen (50 As). So erklärt sich
1) daß man nur zwei Sätze festsetzte. Bisher hat man daran gar keinen Anstoß genommen, und doch hätte man es sollen, denn diese Aufstellung zweier Sätze steht mit der sonstigen Weise des römischen Rechts im offensten Widerspruch, es gibt keinen einzigen Fall, in dem sich dieselbe wiederholt. Überall wo das alte und selbst das neuere Recht den Wert eines Gegenstandes zu Grunde legt, um darnach die Höhe der Strafe zu bemessen, geschieht es in Form der proportionellen Zumessung derselben, sei es des Mehrfachen, Des quadruplum beim furtum manifestum und der act. quod metus causa, des triplum bei dem furtum conceptum und oblatum, bei der act. vi bonorum raptorum, des duplum beim furtum nec manifestum, bei den fructus dupli im Vindikationsprozeß, bei der actio autoritatis, bei der manus injectio, bei den Fällen; ubi lis crescit in duplum. oder einer Quote; Der Hälfte: act. de pecunia constituta, des Dritteils bei der condictio certi, des Fünfteils oder Zehnteils bei der act. calumniae oder dem contrarium judicium ( Gaj. IV 175, 177). nur im Sacramentsprozeß wird, obgleich der Wert der Streitsache für die Bemessung des Sacraments zu Grunde gelegt wird, die Höhe desselben nicht proportionell, sondern abstract bestimmt: 50 und 500 As. Warum? Weil das Sacrament die Bestimmung einer Ablösung der Probe beim Gottesgericht hatte – zwei Proben zwei Sacramentssätze. Wäre dabei der Gedanke des Wertes der Sache maßgebend gewesen, so würde man wie überall das Sacrament proportionell bestimmt haben. Aber er war es nicht, maßgebend war vielmehr der Gedanke der Ersetzung der Probe durch das Sacrament, darum bei der ungefährlichen Wasserprobe der niedere, bei der bedrohlichen Feuerprobe der hohe Satz; der Wert der Streitsache kam nur insofern in Betracht, um darnach zu bemessen, wann der eine oder der andere einzutreten habe.
2) So der gewaltige Sprung bei demselben vom Einfachen (5 Schafe, 50 As) aufs Zehnfache (5 Rinder, 500 As). Warum, wenn man einmal feste Sätze aufstellen wollte, nicht eine Abstufung derselben, die sich dem Wert der Streitsache anschmiegte, etwa von je 100 oder je 250? Man vergegenwärtige sich das schreiende Mißverhältnis, zu dem der Doppelsatz im einzelnen Fall je nach Verschiedenheit des Wertes der Streitsache führen mußte, um zu begreifen, wie zwingend die Gründe gewesen sein müssen, welche die Römer bestimmt haben, es über sich zu nehmen. Bei der Vindication eines Schafes betrug der Sacramentssatz das Fünffache, bei der eines Grundstücks im Wert von 950 As ein Neunzehntel, im Wert von 1000 die Hälfte, bei der einer Erbschaft im Wert von 50 000 ein Hundertstel! Welch' widersinniges Resultat! Wie konnte ein Volk von dem gesunden praktischen Sinn des römischen auf den Gedanken geraten, dazu die Hand zu bieten, wenn es sonst nur die Hand frei gehabt hätte. Aber eben daran fehlte es, der doppelte Sacramentssatz war durch die doppelte Probe, die dadurch abgekauft werden sollte, vorgeschrieben. Mochte man ihn hoch oder niedrig bemessen, bei zwei Sätzen mußte es sein Bewenden behalten, darauf hatte die Gottheit ein Recht, und das mußten die Priester wahren, als sie ihre Zustimmung dazu erteilten, daß dies Recht in Opfertieren abgelöst werde. Diese Rücksicht auf das Recht der Gottheit hinweggedacht, und es wäre gar nicht zu begreifen, wie die Römer sich zu einer solchen Einrichtung hätten verstehen sollen, die zu allem, was sonst an Rechtseinrichtungen aus ihrer Hand hervorgegangen ist, den schneidendsten Widerspruch bildet.
3) So endlich begreift sich die niedere Wertung der Wasserprobe, die hohe der Feuerprobe. Sie erklärt sich aus der Verschiedenheit des Grades ihrer Bedrohlichkeit. Bedenkt man, daß das os fractum in den XII Tafeln zu 300 As angeschlagen war, so wird man zugestehen müssen, daß die Feuerprobe mit 500 As eher zu hoch als zu niedrig bemessen war, und dasselbe gilt auch für die Wasserprobe – die Priester hatten dafür gesorgt, daß die Gottheit bei der Ablösung der Gottesgerichte nicht verkürzt ward.
So fügen sich also der doppelte Satz beim sacramentum und der befremdende Abstand zwischen dem niedern und dem hohen Satz nicht bloß in befriedigender Weise in den historischen Zusammenhang der von mir angenommenen Entwickelung ein, sondern ich glaube in ihnen ein ganz erhebliches Argument für die Richtigkeit meiner Ansicht gefunden zu haben.
Nur ein einziger Punkt bleibt noch übrig, der Bedenken erregen kann. Im Gottesgericht hat lediglich der Beklagte sich der Probe zu unterziehen, nicht der Kläger, im Sacramentsprozeß sind beide Teile sich völlig gleichgestellt, beide haben das Sacrament zu deponieren, juristisch ausgedrückt: das Gottesgericht war ein einseitiges, der Sacramentsprozeß ein zweiseitiges Verfahren, eine Verschiedenheit so grundsätzlicher Art, daß der Gedanke einer Nachbildung des einen durch das andere, ja sogar der Versuch der Anknüpfung des einen an das andere dadurch ausgeschlossen zu sein scheint.
Der Einwand erledigt sich durch dasjenige, was ich oben (S. 395) über die Beweispflichtigkeit beider Teile bei den Gottesgerichten beigebracht habe. Beide Teile hatten zu beweisen, erst wenn der Kläger seinen Beweis erbracht hatte, kam es zur Entkräftung desselben mittelst des Gottesurteils, in diesem Sinne kann man also das Verfahren ein zweiseitiges nennen: Jeder hatte ganz dasselbe zu tun, was der andere, nur daß der Gegenbeweis in anderer Art als der Hauptbeweis erbracht ward. Mit der Beseitigung der Gottesgerichte war diese Verschiedenheit der Beweisführung hinweggefallen, beide Teile bedienten sich fortan derselben Beweismittel. Damit war die Nötigung hinweggefallen, den einen Beweis in Form eines besonderen Verfahrens dem andern vorausgehen zu lassen, ein einziges Verfahren genügte. Dasselbe beruht auf dem Gedanken der völligen Gleichheit beider Teile, beide gelten gleichmäßig als Kläger und Beklagter ( judicium duplex), beide beweisen ihre Behauptungen gleichzeitig und gleichmäßig (mit denselben Beweismitteln), beide haben denselben Einsatz zu leisten und verwirken ihn im Fall der Sachfälligkeit. Der letzte Punkt hat etwas Befremdendes. Wie konnte man das Sacrament, wenn es die Bestimmung einer Ablösung der Probe hatte, dem Kläger auferlegen, da er doch die Probe nicht zu bestehen hatte? Die Antwort liegt auf der Hand. Hätte lediglich der Beklagte das Sacrament zu deponieren gehabt, so würde die Gottheit im Fall seiner Lossprechung das Nachsehen gehabt haben, während ihr doch der Anspruch auf den Preis, um den man ihr das Recht der eignen Entscheidung abkaufte, unter allen Umständen gesichert sein mußte, der Prozeß mochte ausfallen wie er wollte. Und wenn auch der Kläger im früheren Verfahren keine Probe zu bestehen hatte, so lag ihm in demselben doch etwas anderes ob: die Erbringung des Beweises, bevor es zum Gottesgerichte kam. Im Sacramentsprozeß ward er statt dessen mit der unbewiesenen Behauptung zugelassen, bewies er sie, so traf ihn ebensowenig ein Nachteil wie im früheren Verfahren, bewies er sie nicht, so war es nicht bloß billig, daß er denselben Nachteil erlitt wie der Beklagte in gleichem Fall, sondern es war dies im Interesse des letztern, um ihn gegen gänzlich unbegründete Ansprüche sicherzustellen, mit Notwendigkeit geboten, entgegengesetztenfalls hätte der Kläger im Fall des für ihn ungünstigen Ausfalls des Prozesses nichts, der Beklagte im gleichen Fall sein Sacrament riskiert, es wäre um nichts besser gewesen, als wenn jener im alten Verfahren diesen durch unbewiesene Behauptungen in die Lage hätte versetzen können, das Gottesgericht zu bestehen. Das Sacrament des Klägers war der Preis, um den er den Vorteil, den er der Einführung des neuen Verfahrens verdankte, zu erkaufen hatte: mit unbewiesenen Behauptungen den Beklagten ganz in dieselbe Lage versetzen zu können wie im Gottesgericht mit bewiesenen.
Ich bin am Ende, und ich fordere nunmehr den Leser auf, sich über die im Bisherigen vorgetragene Ansicht schlüssig zu werden. Einen direkten Beweis habe ich für sie nicht beizubringen vermocht, sie ist nichts als eine Hypothese, und wer Hypothesen überhaupt verwirft, muß auch sie zurückweisen. Von urteilsfähigen Lesern habe ich diese Gefahr nicht zu befürchten. Dieselbe Berechtigung, welche der Indicienbeweis für die Ermittelung der Wahrheit im Gerichtsverfahren hat, hat die Hypothese für die der geschichtlichen, man kann sie den historischen Indicienbeweis nennen, es ist der indirekte Beweis, der nicht bewiesene Tatsachen auf dem Wege der Schlußfolgerung von feststehenden darzutun versucht, im Gegensatz zum direkten, der sie unmittelbar zu beweisen versucht. Der Maßstab, den man an beide Arten des Indicienbeweises anzulegen hat, ist der der zwingenden Schlüssigkeit, die als Indicien verwendeten Tatsachen müssen den Schluß auf die zu beweisende in einer Weise begründen, daß eine andere Annahme ausgeschlossen ist. Eine Hypothese, welche eine andere Annahme offenläßt, vergegenwärtigt uns lediglich die Möglichkeit des von ihr behaupteten Sachverhaltes, und auch sie kann wissenschaftlich wertvoll sein, weil sie den Gesichtskreis erweitert und der Forschung neue Bahnen erschließt; eine Hypothese, welche jede andere Annahme ausschließt, gewährt uns die Wirklichkeit, sie steht auf einer Linie mit dem direkten Beweis.
Zu dieser zweiten Kategorie von Hypothesen glaube ich die von mir aufgestellte zählen zu können, und ich bitte mir zu gestatten, die entscheidenden Beweisgründe, auf die sie sich stützt, schließlich hier noch übersichtlich zusammenstellen zu dürfen. Sie sind zweierlei Art.
Zuerst die sprachlichen.
Sodann die sachlichen.
Alle im Bisherigen namhaft gemachten Punkte weisen wie die Radien eines Kreises auf das von mir angenommene hypothesische Centrum hin: Ersetzung der Gottesgerichte durch den Sacramentsprozeß, diesen Gesichtspunkt hinweggedacht, und wir stehen vor lauter unbegreiflichen Dingen, gleichmäßig in sprachlicher wie sachlicher Beziehung. Das Rätsel, welches der Sacramentsprozeß jedem, der sich ihrer bewußt wird, aufgibt, dürfte damit gelöst und zugleich das auffallende Verschwinden der Gottesgerichte in Rom erklärt sein.
Ich gebe im Folgenden ein Seitenstück zu reich und arm im Civilprozeß, das dem materiellen Recht, und zwar dem alten Privatstrafrecht entnommen ist. Das altrömische Strafrecht ist bekanntlich durch einen Gegensatz beherrscht, der für unsere heutige Zeit seine Bedeutung so gut wie eingebüßt hat: den zwischen Privat- und öffentlichem Strafrecht, d. i. zwischen solchen Vergehen, deren Ahndung in Form sei es der Selbsthilfe oder der gewöhnlichen Privatklage dem Verletzten selber überlassen blieb, und bei denen die darauf gesetzte Strafe ihm zufiel ( delicta), und solchen, welche entweder die Staatsgewalt in Form einer öffentlichen Anklage verfolgte, oder auf welche die Sacertät gesetzt war ( crimina). Das Privatstrafrecht kannte zwei Arten von Vergehen: die gegen das Eigentum und die gegen die Person. Die Strafsätze, die es dafür aufgestellt hatte, sollen im Folgenden an der Hand des Gesichtspunktes von reich und arm einer Kritik unterworfen werden. Sie wird zeigen, daß auch hier wiederum der Griffel des Reichen das Gesetz geschrieben, d. h. die Strafsätze so eingerichtet hatte, wie sie dem ständischen Interesse der besitzenden Klasse entsprachen.
Wenn jemand einem andern Arm oder Bein entzwei geschlagen hatte ( os fractum), so büßte er es nach den XII Tafeln mit 300 As, wenn er von ihm bei dem Versuch der Entwendung auch der geringwertigsten Sache (Gajus III 184 nennt als Beispiel Oliven oder Weintrauben) abgefaßt, oder wenn sie bei ihm auf Grund einer solennen Haussuchung gefunden worden war ( furtum licio et lance conceptum), mit körperlicher Züchtigung und dem Verlust der Freiheit, er ward Sklave des Bestohlenen, bei nächtlichem Felddiebstahl mit Todesstrafe. Welch Mißverhältnis in der Wertung der Person und des Eigentums! Das Zerschlagen des Knochens kann jemanden für immer arbeitsunfähig machen, und dafür erhält er als Ersatz 300 As, ein reiner Hohn im Vergleich zu dem, was er eingebüßt hat. Erbaulich ist die Auffassung von Rudorff (Röm. Rechtsgeschichte II S. 255), der in den 300 As ein »Schmerzensgeld« erblickt – als ob es sich für jemanden, der zum Krüppel geschlagen und lebenslänglich arbeitsunfähig geworden ist, bloß um ausgestandene Schmerzen handelt. Aber wenn jemand die Hand nach fremdem Gut ausgestreckt hat, so ereilt ihn die schwerste Strafe, die außer der Todesstrafe sich überhaupt denken läßt, er ist lebenslänglich der rücksichtslosesten Ausnutzung und selbst der Mißhandlung und Grausamkeit durch den Bestohlenen ausgesetzt. Wer kann da die Frage unterdrücken, worin ein so schreiendes Mißverhältnis seinen Grund gehabt haben mag? Sie hätte längst erhoben werden sollen, aber unsere Rechtshistoriker sind achtlos an ihr vorübergegangen, wie so oft haben sie auch hier geglaubt, ihrer Aufgabe vollkommen Genüge geleistet zu haben, indem sie die positiven Bestimmungen einfach zusammenstellten, ohne sich um ihren Grund zu kümmern. Aber vielleicht läßt sich die Frage gar nicht beantworten? Es kommt auf den Versuch an. Versuchen wir, ob der Gegensatz von reich und arm uns nicht den gewünschten Aufschluß gewährt.
Der Reiche stiehlt nicht, das tut nur der Arme. Umgekehrt aber droht die Gefahr bestohlen zu werden, nicht dem Armen, nur der Reiche hat sie zu fürchten, der Arme bestiehlt nicht den Armen, sondern den Reichen. Damit ist die excessive Strafe, welche das alte Recht auf den Diebstahl setzt, erklärt, sie ist gemünzt auf den Armen; als Bestohlener ist gedacht der Reiche, als Dieb der Arme. Darum ist das Eigentum, die Hochburg des Reichen, mit Palisaden umgeben, an deren Spitzen derjenige, der sich beiläßt, sie zu übersteigen, Gefahr läuft sich zu spießen. Die Reichen haben in Rom ihr Eigentum zu schützen verstanden!
Aber in Bezug auf ihre Person scheinen sie es nicht verstanden zu haben. Was bedeuten für den Reichen 300 As, wenn ihm jemand seine Knochen entzweigeschlagen hat? Für ihn sind sie ein Bettelgeld. Und damit sollen die Schmerzen und die Verstümmelung, die er erlitten hat, abgefunden sein? Wäre er es gewesen, der die Gefahr zu besorgen hatte, der Strafsatz würde schon anders ausgefallen sein, aber ihm drohte sie nicht. Nicht von dem Reichen – die angesehenen Leute schlugen sich in Rom ebensowenig wie heute die Knochen entzwei. Nicht von dem Armen – dafür sorgte wie heutzutage der Respekt des Armen vor dem Reichtum und der angesehenen Stellung. So blieb nur der Mann der niederen Klasse als der Bedrohte übrig. Hätte ihm die Gefahr lediglich von seinesgleichen gedroht, so wäre das Standesinteresse der vermögenden Klasse bei der Höhe der Bemessung der Strafe gar nicht beteiligt gewesen, ob hoch oder niedrig, für den Reichen hätte dies nichts verschlagen. Aber dem war nicht so, der Reiche hatte ein hohes Interesse daran, daß die Strafsätze möglichst niedrig bemessen wurden. Um das zu verstehen, muß man wissen, daß in alter Zeit, wo es der Sklaven noch nicht in der Menge gab, wie später, das Bedürfnis nach Arbeitskräften auf den Gütern der Reichen wie auch noch in späterer Zeit durch freie der niedern Klasse angehörige Leute gedeckt ward: Tagelöhner und Accordarbeiter, Bei Varro de re rustica werden sie häufig erwähnt. – Knechte und Mägde, die von ihrem Vater ins Mancipium gegeben waren Der Form nach ein Verkauf der Kinder von Seiten des Vaters war es, da es mit Ablauf der Censusperiode endete, also im äußersten Fall nur auf 5 Jahre abgeschlossen werden konnte, in Wirklichkeit ein Mietvertrag. Eine Parallele gewährt das jüdische Recht, wo es mit Eintritt des siebenten (Sabbatjahres) endete, im äußersten Fall also nur auf 6 Jahre abgeschlossen werden konnte. – Schuldknechte. Varro de L. L. VII § 105: Liber, qui suas operas in servitute pro pecunia quadam debebat, dum solveret, nexus vocatur ut ab aere obaeratus. Das quadam ist zu servitute zu setzen. Die » servitus« des » liber« schließt einen Widerspruch in sich, darum der Zusatz: quaedam, d. i. ein sklaven ähnliches Verhältnis, das sachliche und sprachliche Seitenstück zu den in causa mancipii Befindlichen, » qui servorom loco habentur«, Gaj. I 138.Von diesen drei Verhältnissen interessiert uns nur das zweite und dritte. Beide begründeten ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis, welches mit dem des Sklaven eine gewisse Ähnlichkeit hatte, und das einen herrischen, jähzornigen Herrn nur zu leicht vergessen lassen konnte, daß er es mit Freien zu tun hatte. Gesetzlich waren diese Personen allerdings gegen Mißhandlung von Seiten ihres Herrn geschützt, aber das Verhältnis, in dem sie sich befanden, bot einem leidenschaftlichen Herrn nur zu leicht den Anlaß, sich in Fällen, wo sie etwas versehen hatten, tatsächlich an ihnen zu vergreifen. Hatte er es getan, so mußte er es büßen. Aber womit? Hatte er sie braun und blau geprügelt, so zahlte er bloß 35 As (s. u.), hatte er ihnen Arm oder Bein entzwei gehauen, bloß 300.
Damit glaube ich den Grund angegeben zu haben, warum das alte Recht das os fractum mit einer so äußerst geringen Strafe belegte. Als Schauplatz, wo das Vergehen spielt, hat es das Haus des reichen Mannes im Auge, als Täter ihn selber, als Verletzte die in seinem Hause befindlichen Schuldknechte, Knechte, Mägde. Wären alle Strafsätze des älteren Rechts ebenso niedrig bemessen worden, es läge kein Grund vor sich nach einem tendenziösen Motiv dafür umzusehen, aber der schneidende Contrast, den die Diebstahlsklagen dazu bilden, macht die Annahme einer bei beiden Strafsätzen obwaltenden Absichtlichkeit unabweisbar. In beiden Fällen ist der Strafsatz durch das Interesse des Reichen bestimmt worden, in dem Fall, wo er selbst sich gegen den Armen vergangen hat, ebenso niedrig, als in dem, wo dieser es gegen ihn getan hat, hoch – die altrömische Gerechtigkeit hat doppeltes Gewicht, ein schweres für den Reichen, ein leichtes für den Armen. Äußerlich tritt diese Begünstigung des Reichen vor dem Armen in der Gesetzgebung gar nicht hervor, beide werden mit demselben Maß gemessen, Arm und Reich sind vor dem Gesetz völlig gleich, aber es war jene Gleichheit vor dem Gesetz, welche nach dem Satz: summum jus summa injuria in Wirklichkeit die äußerste Ungleichheit in sich schließt.
Im Bisherigen habe ich von den Vergehen gegen die Person, abgesehen von der vorübergehenden Berührung der 25 As für die Injurien, nur den Strafsatz von 300 für das os fractum ins Auge gefaßt, weil er mir den unwidersprechlichen Beleg für meinen Gesichtspunkt zu gewähren scheint. Neben dem os fractum kennt das ältere Recht aber noch eine andere Körperverletzung: das membrum ruptum. Der Frage, was wir uns darunter zu denken haben, gehen unsere Rechtshistoriker regelmäßig aus dem Wege, nur bei einem von ihnen ( Rudorff, Röm. Rechtsgeschichte II S. 355) habe ich eine Antwort darauf gefunden: membrum ruptum soll »Verstümmelung oder Zerstörung eines Gliedes« bedeuten. Wäre das richtig, so würden membrum ruptum und os fractum zusammenfallen, denn ein Knochenbruch schließt die »Verstümmelung oder Zerstörung eines Gliedes« in sich, und für die schwersten Stich- oder Schnittwunden hätte man sich mit den 25 As der injuriae begnügen müssen, da sie weder unter den einen noch den andern Delictsbegriff fielen, ein Knochen war nicht zerbrochen, ein »Glied« in dem Sinne, wie wir den Ausdruck gebrauchen, nicht verstümmelt oder zerstört, der Verletzte hatte außer seinen Schmerzen nur eine schwere Wunde davongetragen. Aber rumpere bedeutet in der Sprache des älteren Rechts nicht Zerbrechen, dann fiele es mit frangere zusammen, von dem es doch wie in dem os fractum und membrum ruptum der XII Tafeln so auch in dem » fregerit ruperit« der lex Aquilia genau unterschieden wird, sondern es hat die ganz allgemeine Bedeutung von Beschädigen, Zeugnisse: Festus p. 265: Rupitias in XII significat damnum dederit. Nonius 124, 6: si quis rumpet occidetve, wo rumpere den Gegensatz von occidere offenbar erschöpft. Erklärung des » ruperit« der lex Aquilia durch corrruperit l. 27 § 13 ad leg. Aq. (9, 2.) membrum ruptum heißt also Körperverletzung. Aber auch das os fractum enthält eine Körperverletzung. Wie sind beide von einander zu unterscheiden? Durch ein ganz einfaches Kriterium. Das os fractum enthält eine innere Verletzung, die ein Dritter nur fühlen, nicht sehen kann, das membrum ruptum eine äußere, für sein Auge erkennbare. Wenn der Schluß von membrana = Haut auf membrum ein berechtigter ist, so wird membrum ursprünglich jeden Teil der Oberfläche des tierischen Körpers bedeutet haben. Das Gemeinsame beider besteht darin, daß sie sinnlich wahrnehmbare Spuren zurücklassen, und dadurch unterscheiden sie sich von dem dritten Vergehensbegriff der XII Tafeln: den injuriae, bei denen dies nicht der Fall ist, und der bekanntlich nicht bloß die Verbal-, sondern auch die Realinjurien umfaßte. Gaj. III 220: cum quis pugno puta aut fuste percussus vel etiam verberatus erit. Schläge, Prügel, welche keine sichtbaren Spuren am Körper zurückgelassen hatten, fielen unter den Begriff der injuriae, im entgegengesetzten Fall unter den des membrum ruptum, die Unterscheidung der drei Delictsbegriffe war eine so klare, daß ihre Anwendung auf den einzelnen Fall nicht dem mindesten Zweifel unterliegen konnte.
Der außerordentlich weite Spielraum des membrum ruptum, der sich von wenig erheblichen Wunden bis zu den blutigsten und zum Abhauen eines ganzen Gliedes und dem Aushauen der Augen erstreckte, macht es begreiflich, daß das Gesetz von einer fixen Geldstrafe absah und statt deren Talion anordnete. Es war ein zweischneidiges Schwert, welches das Gesetz dem Verletzten damit in die Hand gab, er konnte damit ebensogut sich selber als den Gegner treffen. Man müßte den Römer schlecht kennen, um nicht zu wissen, daß, wenn der Verletzte dem Verletzten nicht ganz dieselbe Beschädigung zufügte, wie er ihm, er seinerseits die Überschreitung der Talion zu büßen hatte, es drohte ihm dieselbe Gefahr wie dem Shylok bei Ausschneiden des Pfundes Fleisch. Mit welchen Augen die Römer der alten Zeit eine solche Überschreitung des Rechts von Seiten des Verletzten angesehen haben, geht deutlich daraus hervor, daß die XII Tafeln es für nötig hielten, in Bezug auf die Vornahme des in partes secare die vorsichtige Klausel hinzuzufügen: si plus minusve secuerint, sine fraude esto. Bei der Talion war eine solche clausula salvatoria nicht gemacht, sie mußte also genau dem Vorbilde entsprechen, ging sie darüber hinaus, so schlug sie wie ein zurückschnellendes Geschoß auf den Berechtigten zurück. Schon dieser Umstand allein mußte den Verletzten geneigt stimmen, den ihm vom Gegner gemachten Vorschlägen über Abfindung in Geld williges Ohr zu schenken, ganz abgesehen davon, daß er bei Zurückweisung derselben gänzlich leer ausgegangen wäre. Für einen Mann der niederen Klasse, den wir uns bei dem membrum ruptum ganz so wie beim os fractum als den regelmäßig Anspruchsberechtigten zu denken haben, konnte die Wahl nicht zweifelhaft sein. Im Princip mit der Geldabfindung einverstanden, handelte es sich für ihn nur darum, wieviel er herausschlagen könne, das Ergebnis wird regelmäßig darin bestanden haben, daß man sich vereinbarte. Und eben darauf hatte es das Gesetz abgesehen: die Parteien sollten sich vergleichen, darauf zielte der den Worten: talio esto hinzugefügte Nachsatz: ni cum eo pacit. Es verhielt sich also mit der Anordnung der Talion um nichts anders als mit der des in partes secare, beide hatten lediglich die Bestimmung von Pressionsmitteln, um eine gütliche Vereinbarung der Parteien zu erzwingen, talio esto hieß: übe keine Talion, wie das in partes secanto: schneidet nicht, und die oben (S. 395) erwähnte Klage des friesischen Rechts gegen den Dieb: klage nicht, und die usucapio pro herede lucrativa: nimm nichts aus fremder Erbschaft – alle vier Fälle waren im Sinne des Gesetzes gedacht als ein noli me tangere. Der Grund, warum das Gesetz gleichwohl die Befugnis selber gewährte, lag darin, daß es ihr als einer Rechtsconsequenz nicht glaubte ausweichen zu können, es rechnete aber darauf, daß die Parteien im eigenen Interesse sie nicht praktisch verwirklichen würden. War eine gütliche Vereinbarung der Parteien über die Höhe der Abfindungssumme beim membram ruptum nicht zu erreichen, so geschah nach dem Zeugnis von Gellius (XX, 1) die Festsetzung derselben durch den Richter.
Wenn wir uns an diese Gestalt der Sache halten, die wahrscheinlich erst der späteren Rechtsentwickelung angehört, so bestand die Verschiedenheit der Strafe beim os fractum und membrum ruptum darin, daß jene abstract festgesetzt war, diese individuell durch den Richter bemessen ward. Wie er dabei verfahren sein wird, wenn der Verletzte ein Armer, der Täter ein Reicher war, bedarf nach allem, was wir über die Parteilichkeit der patricischen Magistrate in alter Zeit wissen, nicht erst der Bemerkung.
Das Ergebnis meiner bisherigen Ausführungen glaube ich in den Satz zusammenfassen zu können: die Reichen hatten sich vorgesehen, daß ihnen ihre Vergehen gegen die Armen nicht zu teuer zu stehen kamen, sie hatten sich auch hier das Gesetz in ihrem Interesse zugeschnitten, ganz so wie bei den Prozeßeinrichtungen und dem Schutz des Eigentums unter dem äußern Schein der Gleichheit vor dem Gesetz – in Wirklichkeit die schreiendste Ungleichheit.
Für den Vorwurf der tendenziösen, rein im ständischen Interesse geübten Abfassung der Gesetze, den ich damit gegen die besitzenden Klassen des Roms der alten Zeit erhebe, bringe ich im Folgenden noch ein Argument bei, Ein anderes habe ich bereits an anderer Stelle gegeben, es war die Rechtlosigkeit des Pächters und Mieters gegenüber dem reichen Grund- und Hausbesitzer s. meinen Besitzwillen, Jena 1889, S. 120. das von der Wissenschaft, die auch hierin ihrer oben (S. 407) hervorgehobenen Gewohnheit, die Negative nicht zu berücksichtigen, treu geblieben ist, bisher gar nicht beachtet worden ist.
Unter den Vergehen gegen die Person, welche die XII Tafeln mit Strafe belegen, fehlt eins gänzlich, dessen doch die germanischen Volksrechte, die im Übrigen so tief unter ihnen stehen, gedenken: die Notzucht. Daß sie dasselbe übergangen hatten, betrachte ich als unzweifelhaft; hätten sie es erwähnt, so müßte sich bei späteren Schriftstellern irgend eine Notiz darüber finden. Lag der Gedanke daran den Decemvirn so fern, daß sie es übersehen konnten? Appius Claudius wäre gerade der Mann darnach gewesen, er, der selber einen Notzuchtsakt an der Virginia plante. Welche Gefahr dem Weibe von der Sinnenlust des Mannes drohte, hatte das römische Volk bereits früher an dem Fall der Lucretia in einer Weise erfahren, die sich durch die daran sich knüpfenden Folgen seiner Erinnerung in unvergänglicher Weise eingeprägt hatte. Und diese Gefahr, die durch den Vorgang mit der Virginia dem römischen Volk von neuem vor das Auge geführt ward, hätte man übersehen können? Nein, man kannte sie, aber man wollte ihr nicht steuern. Warum nicht? Man vergegenwärtige sich die Magd im Hause des Reichen, und man hat die Antwort darauf. Ein Notzuchtsfall an einer den besseren Ständen angehörigen Frau oder Mädchen war nach dem abschreckenden Exempel des jüngeren Tarquinius nicht zu befürchten, der Rückhalt, den beide an ihren Verwandten hatten, schloß jeden Gedanken daran aus, und auch die Frau und die Tochter des Armen, die bei ihm im Hause lebte, war faktisch der Gefahr kaum ausgesetzt. Aber im alleräußersten Grade war es die Magd, die in Form des Mancipiums im Hause des Reichen lebte. Was geschah dem Herrn, der seine Magd vergewaltigt hatte? Da die Voraussetzungen des membram ruptum oder os fractum hier nicht vorlagen, so war die einzige Strafbestimmung, welche darauf Anwendung erleiden konnte, die über die injuriae, der Übeltäter zahlte 25 As, damit war alles abgetan, das Kind, das sie etwa bekam, ging ihn nichts an, eine Alimentationsverbindlichkeit des unehelichen Vaters war dem Recht unbekannt. Für 25 As also konnte der reiche Mann in Rom seine Lust an seiner Magd kühlen – das Vergnügen kam ihm nicht teuer zu stehen! Man sehe zu, ob man eine andere Erklärung finden kann.
Ich habe in reich und arm im Civilprozeß gezeigt, wie das Übergewicht, welches sich der Reiche mittelst der Prozeßeinrichtungen in der Rechtsverfolgung über den Armen in alter Zeit zu verschaffen gewußt hatte, in der späteren Zeit gebrochen ward. Ein Gleiches gilt für das im Bisherigen nachgewiesene, durch das ständische Interesse bewirkte Mißverhältnis in der Wertung des Eigentums der besitzenden, und der Person der besitzlosen Klasse, es hat späterhin einer gänzlich anderen Wertung beider Güter Platz gemacht. Die leidenschaftliche Erregung, in welche den altrömischen Eigentümer jede Antastung seines Eigentums versetzte, gleich als ob in ihm ein Stück seiner Person selber auf dem Spiele stände, und die dem Recht sein Verhalten zur Eigentumsfrage diktierte, konnte sich angesichts der Veränderungen, die, wie sofort gezeigt werden soll, im Güterleben des Volks vor sich gegangen waren, nicht behaupten, der Eigentumsmaßstab der Römer der Neuzeit ward ein gänzlich anderer als der des Römers in alter Zeit, und ganz dasselbe ist durch den Umschwung in den politischen Verhältnissen, nur in entgegengesetzter Weise, auch in Bezug auf die Auffassung vom Wert der Person bewirkt worden. Der alte Gegensatz ist in sein gerades Gegenteil umgeschlagen: früher hohe Wertung des Eigentums, niedrige der Person, jetzt niedrige des Eigentums, hohe der Person.
Werfen wir zunächst einen Blick auf das Eigentum.
Das alte Recht unterschied nicht, ob derjenige, der dem Eigentümer seine Sache vorenthielt, es im Glauben an sein gutes Recht getan hatte oder nicht, unterlag er im Prozeß, so mußte er auch im ersten Fall dem Kläger die doppelten Früchte, war die Sache durch Zufall untergegangen, den Wert ersetzen. Das leidenschaftlich erregte Gefühl des Eigentümers weist den Schuldmaßstab zurück, es verlangt Genugtuung für die Bedrohung des Eigentums, einerlei, ob sie in gutem oder bösem Glauben geschehen ist, und das Gesetz gibt seiner Forderung nach. Ganz anders das neuere Recht. Es hat einen anderen Maßstab für den gutgläubigen, einen anderen für den bösgläubigen Besitzer, und selbst er haftet nicht über den Betrag dessen, was der Kläger im Fall rechtzeitiger Restitution gehabt haben würde. Ebenso im Fall des Konkurses, wo nur denjenigen, der verschuldeterweise seine Zahlungsunfähigkeit herbeigeführt hat, der Schimpf der bonorum venditio trifft, während der Schuldlose den Vorzug der cessio bonorum genießt. Und selbst der Diebstahl wird mit andern Augen angesehen. Der ertappte Dieb kommt nach prätorischem Edict mit dem Vierfachen des Wertes der gestohlenen Sache davon, bei geringwertigen Sachen eine wenig empfindliche Strafe. Der Prätor war in das gerade entgegengesetzte Extrem des älteren Rechts verfallen: in eine Milde, die sich mit den Interessen der Rechtssicherheit wenig vertrug. Erst das spätere Recht hat diesen Fehler wieder gut gemacht, indem es zu der civilrechtlichen Verfolgung des Diebstahls noch die strafrechtliche hinzugesellte.
Den gerade entgegengesetzten Entwickelungsgang vergegenwärtigt uns das Recht der Person. Die Bestimmungen der XII Tafeln über os fractum, membrum ruptum, injuriae werden durch neue vollkommnere ersetzt, die beiden ersten durch die actio legis Aquiliae utilis, die dritte durch die actio injuriarum aestimatoria, beide Klagen setzen den Richter in den Stand, den Ansprüchen des Verletzten im vollsten Umfang gerecht zu werden. Und zu dem privatrechtlichen Schutz gesellt noch das Strafrecht den seinigen hinzu, und zwar nicht bloß wegen solcher Vergehen gegen die Person, welche vom älteren Recht gar nicht berücksichtigt waren wie z. B. Freiheitsberaubung ( lex Fabia), Notzucht ( lex Julia de vi publica), sondern auch wegen schwerer Ehrenkränkungen ( lex Cornelia de injuriis). Die Strafe, welche die lex Cornelia festsetzte, war keine Geldstrafe, So fälschlich Rudorff Röm. R. G. I § 100. was angesichts der actio injuriarum völlig überflüssig gewesen wäre, sondern Kapitalstrafe, Macrobius Sat. II 9 ... capital putavit. d. i. Verbannung, und die strafrechtliche Praxis der Kaiserzeit ging darüber sogar noch hinaus. l. 45 de injur. (47. 1) Paulus S. R. V, 4 § 7, 13, 14, 16, 17, 22 Ein schmerzloser Schlag, dem geringsten Mann aus dem Volk versetzt, mit Verbannung bestraft Ovid. Amor. I 7, 29 Si pulsassem minimum de plebe Quiritem, plecterer. Über pulsare s. l. 5 § 1 de injur. (47, 10): verbrare est cum dolore caedere, pulsare sine dolore. – welcher Contrast zu den 25 As der alten Zeit, wofür man den Mann braun und blau prügeln konnte. Wie hoch muß das Ehrgefühl der spätern Zeit gespannt, oder richtiger wie überreizt muß es gewesen sein, um solche alles vernünftige Maß übersteigende Strafen zu erheischen. Bezeichnend für diese Empfindlichkeit desselben ist auch die außerordentlich weite Ausdehnung, welche die römischen Juristen dem Begriff der Ehrenkränkung gegeben haben. Eingehend von mir nachgewiesen in meiner Abhandlung über frivole Rechtsverletzung in meinen Jahrbüchern B. 23 VI. Sie lassen die actio injuriarum zu in Fällen, in denen ein Römer der alten Zeit auch nicht den leisesten Schatten einer Ehrenkränkung gesehen haben würde, z. B. bei einer frivolen in jus vocatio, einer Mahnung an den Bürgen mit Übergehung des Hauptschuldners, der wissentlichen Geltendmachung einer unbegründeten Forderung. S. meine Abh. S. 157.
Woher diese excessive Spannung des nationalen römischen Ehrgefühls? Haben wir darin lediglich das Ergebnis der fortgeschrittenen Verfeinerung zu erblicken? Ich glaube nicht, ich bin vielmehr der Ansicht, daß dazu ganz wesentlich das aufs höchste gesteigerte politische Selbstgefühl des römischen Bürgers der spätern Zeit mitgewirkt hat. Man muß sich in seine Seele versetzen, um es ihm nachzuempfinden, welchen Inhalt die stolzen Worte: civis Romanus sum für ihn in sich schlossen. Civis Romanus hieß in seinem Munde: im Besitz einer Rechtssicherheit und einer Freiheit, die niemand anzutasten wagen darf, untertan nur dem Gesetz, entscheide ich mit in der Volksversammlung über die wichtigsten Angelegenheiten des Staats: über Annahme und Verwerfung der Gesetzvorschläge, über Wahl und Verantwortung der Beamten, über Leben und Tod des Bürgers, und als Glied des souveränen, die Welt beherrschenden Volks bin ich zugleich Mitbeherrscher der Welt.
Das richtige Selbstgefühl ist zugleich Ehrgefühl. Das Ehrgefühl betätigt sich daran, daß es nichts duldet, was mit der eignen Selbstschätzung, der Vorstellung, welche die Person sich von ihrem idealen Wert macht, unverträglich ist, nicht bloß im fremden, sondern auch im eignen Handeln. Je höher dieser Wert von ihr angeschlagen wird, um so empfindlicher ihr Ehrgefühl, gleichmäßig bei Individuen wie bei Völkern.
Damit glaube ich die außerordentliche Steigerung des Rechtsschutzes der Person im spätern Recht erklärt zu haben. Der Wert der Person selber war ein anderer geworden, die Gesetzgebung erkannte die Tatsache an durch erhöhten Rechtsschutz der Person in Bezug auf Ehre. Das Gegenstück dazu gewährt die Steigerung der Anforderungen der spätern Zeit in Bezug auf die eigne Behauptung der Ehre durch Vermeidung alles dessen, was sich mit ihr nicht verträgt, wofür es genügen mag, auf die nota censoria des Censors und die bekannten Bestimmungen des Edicts über die Infamie und die Erweiterung derselben durch das Leben in Form der turpitudo Bezug zu nehmen.
Nur in Bezug auf die außerordentlich weite Ausdehnung, welche die Jurisprudenz der Kaiserzeit dem Begriff der Ehrenkränkung bei der actio injuriarum gegeben hat, glaube ich auf einen andern Grund zurückgreifen zu sollen. Sie läßt sich nicht mehr auf Rechnung des politischen Selbstgefühls des römischen Bürgers bringen, da sie in eine Zeit fällt, wo dasselbe eher abgenommen als zugenommen hatte. Ich kann darin vielmehr nur das Produkt des bis zur äußersten Empfindlichkeit gesteigerten socialen Ehrgefühls der höheren Stände der Kaiserzeit erblicken. An die Stelle des gesunden Ehrgeizes der höheren Stände zur Zeit der Republik, der seine Befriedigung in der Machtstellung und in dem Bewußtsein, das gemeine Beste gefördert zu haben, gesucht hatte, war eine krankhafte Ehrsucht getreten, die ihr Genüge bereits daran fand, wenn ihr statt der Sache der Name zuteil ward, der Schein der Macht statt der wirklichen, ein von den Kaisern in ausgiebigster Weise benutztes Mittel, um die höheren Stände in Abhängigkeit von sich zu bringen. Mittelst der weiten Erstreckung, welche die Juristen dem Begriff der Ehrenkränkung bei der Beleidigung gaben (Beispiele sind S. 420 mitgeteilt), haben sie nur der krankhaften Überreizung des Ehrgefühls der höheren Gesellschaftsklassen nachgegeben. Sie waren die Kinder ihrer Zeit, den Juristen zur Zeit der Republik war diese weite Erstreckung des Ehrbegriffs gänzlich fremd – selbst noch den Juristen am Anfang der Kaiserzeit – sie atmeten eine gesundere Luft ein als die schwüle der Kaiserzeit, es bedurfte erst der Treibhausatmosphäre dieser Zeit, um das Treibhausgewächs hervor zu bringen, dem die Jurisprudenz ihre Pflege angedeihen ließ. Als lebensfähig hat es sich nicht erwiesen, unserer heutigen Rechtsprechung ist diese excessive Ausdehnung des Ehrbegriffs fremd.
Wie die erhöhte Schätzung der Person in äußeren Verhältnissen ihren Grund hatte, die den Wert der Person in den Augen des Volks und damit auch des Rechts erhöhten, ebenso die durch die Abschwächung des Eigentumssinnes herbeigeführte verminderte Schätzung des Eigentums. Der Grund lag in zwei außerordentlich folgenreichen Veränderungen, die im Lauf der Zeit in dem Güterleben der Nation vor sich gegangen waren. Die eine war die ganz enorme Steigerung des Nationalreichtums. Die Gütermasse, welche sich in den Händen des Staats und der einzelnen befand, war zur Zeit, wo Rom die Weltherrschaft erlangt hatte, gegenüber der Zeit der XII Tafeln unermeßlich gestiegen. Jeder siegreiche Krieg brachte ungeheure Beute, das Gold und die Schätze der halben Welt strömten in Rom zusammen. Die zweite war die Art des Erwerbes. Der alte Römer bestellte sein Feld selber, er arbeitete. Der Römer der spätern Zeit ließ es durch Sklaven bestellen, das verachtete Handwerk fiel den Freigelassenen zu oder ward in Form von Fabriken, in denen Sklaven die Arbeit verrichteten, durch Kapitalisten betrieben – der Römer zur Zeit der Weltherrschaft arbeitete nicht mehr. Ihm standen andere Erwerbsquellen zu Gebote, die es ihm ersparten, sich selber schwerer Arbeiten zu unterziehen: als Statthalter oder als Gefährte desselben Plünderung der Provinzen in Form von Gewalttätigkeiten und Erpressungen aller Art – als Kapitalist das Geldgeschäft, der Großhandel, das Redereigeschäft, die Seeversicherung, die Pachtung öffentlicher Abgaben, Übernahme öffentlicher Lieferungen und Accordarbeiten u. a. m., als Soldat der Sold und die Aussicht auf Beute und Landanweisung, als stimmberechtigtes Mitglied der Volksversammlung oder des Geschworenengerichts Verkauf seiner Stimme. Die Masse des Proletariats in Rom, die sich nach mehreren Hunderttausenden bemaß, lebte auf Kosten des Staats und der Freigebigkeit der Großen – um in Rom nicht Hungers zu sterben, brauchte niemand die Hand zu rühren.
So war das Verhältnis zwischen Arbeit und Erwerb, wie es in alter Zeit bestand, in der spätern Zeit in sein gerades Gegenteil umgeschlagen: dort mühseliger Erwerb bei mäßigem Wohlstand, hier unermeßlicher Reichtum bei Mühelosigkeit des Erwerbs. Daß diese reale Veränderung in den Erwerbsverhältnissen den Wert des Eigentums in den Augen des Römers herabsetzen mußte, liegt auf der Hand. Der alte Römer hielt es hoch, er wußte, was es ihm an Schweiß und Mühe gekostet hatte, er war nicht bloß sparsam, sondern geizig. Der Gedanke, einem andern etwas zu schenken, war ihm unfaßbar, Polybius berichtet uns, daß viele Jahrhunderte hindurch in Rom nie eine Schenkung vorgekommen sei. So wird es begreiflich, daß das alte Recht keine besondere Form für Schenkung kannte. Luxus, Verschwendung waren unbekannt, wer von der Weise der Väter so weit abfiel, daß er sie sich zu schulden kommen ließ, ward von dem Censor zur Verantwortung gezogen und konnte sogar unter Vormundschaft gestellt werden. Wie ganz anders der Römer der späteren Zeit. Das Geld hat wenig Wert mehr für ihn, leicht erworben, geht es ihm leicht aus der Hand, Luxus und Verschwendung sind in dem Maße an der Tagesordnung, daß die Gesetzgebung sich genötigt sieht, dagegen durch eine Menge von Gesetzen ( lex Oppia, Orchia, Fannia, Didia, Licinia, Cornelia, Julia) einzuschreiten. Selbst dem Hang zur Freigebigkeit – es war nicht die des selbstverläugnenden Wohlwollens, sondern die ostentative der Eitelkeit, die von sich reden machen will – selbst ihm sieht sie sich genötigt, entgegenzutreten, indem sie den Geschenken unter Lebenden ( lex Cincia), den Freilassungen im Testament ( lex Furia Caninia) und den Legaten ( lex Furia, Voconia, Falcidia) ein Maß setzt.
Abschwächung des Eigentumssinns, Steigerung des Ehrgefühls, beide als Folge der realen Veränderungen, welche im Leben der Nation vor sich gegangen waren, beide im Recht der späteren Zeit deutlich erkennbar – das ist das Ergebnis, mit dem ich meine Betrachtung abschließe.
Von dem für die Gestaltung gleichmäßig des Privatrechts wie des Prozesses einst so einflußreichen Gegensatz von reich und arm ist im neuern Recht keine Spur mehr zu entdecken. Nur auf dem Gebiete des öffentlichen Strafrechts taucht er in der Kaiserzeit in etwas veränderter Gestalt von neuem auf, in der des Gegensatzes zwischen den höheren und niederen Ständen ( honestiores, honestiore loco positi – humiles, tenuiores, plebeji u. a. m.), – Die Untersuchungen, welche ich über das erste Aufkommen desselben angestellt habe, haben mich auf das gesellschaftliche Leben der Griechen in der Periode des Hellenismus zurückgeführt. In dem Rom der Kaiserzeit fand er einen fruchtbaren Boden. dem man für die Zumessung der Strafe einen Einfluß einräumte, der sich mit den Forderungen der Gerechtigkeit ebensowenig vertrug, wie das Unrecht, das die alte Zeit gegen den Armen begangen hatte. Im Hinblick darauf kann man also sagen, daß Rom den ständischen Gegensatz im Recht niemals überwunden hat. Ob wir es getan haben? Ich empfehle demjenigen, den die Frage interessiert, und der Zeit und Mühe daran wenden will, das Thema: Reich und arm in Bezug auf die Vermögensstrafe im heutigen Strafrecht, – an Stoff dafür wird es ihm nicht fehlen.