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Deutsche Gerichtszeitung, Jahrg. IV 1862, Nr. 55.
Erinnern Sie sich noch Ihres Anonymus, der Ihnen im vorigen Jahre zwei Briefe (in Nr. 51 und 85 des vorigen Jahrganges der Gerichtszeitung abgedruckt) über die neuere Jurisprudenz schrieb?
Ich hätte es in der Tat um Sie verdient, daß Sie mich vergessen hätten und daß Sie meinen Brief, anstatt ihn zum Abdruck zu bringen, einfach in den Redaktions-Papierkorb würfen.
Fragen Sie mich nicht nach dem Grunde meines langen Schweigens; gedrängt, mich zu rechtfertigen, könnte ich auf die Idee geraten, eine der neuesten auf österreichisch-postalischem Boden gewachsenen Exceptionen vorzuschützen, die exceptio Kallabbiana, oder zu Deutsch, die Einrede der unterschlagenen Briefe – für saumselige Korrespondenten eine der unschätzbarsten Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts Zur Zeit des Erscheinens dieses Briefes war die Anspielung im Text jedem verständlich, zum Verständnis der heutigen Zeit füge ich die Notiz hinzu: daß Kallab ein österreichischer Postoffiziant war, der geraume Zeit hindurch alle Briefe, in denen er Papiergeld oder Wertpapiere vermutete, unterschlagen hatte, ein Briefmarder größten Stils; man fand in seiner Wohnung eine unglaubliche Masse abgeschlachteter Briefe – ein Schlachtfeld, ein Kirchhof von Briefen..
Wenn Sie sich die Mühe nehmen wollen, meinen letzten Brief aufzuschlagen, so werden Sie finden, daß Sie denselben (wozu ich Sie ja autorisiert hatte) mit Noten versehen haben, in denen Sie die spekulative Methode in der Jurisprudenz gegen mich in Schutz neunten. Ich habe dieselben ihrer gänzlichen Bedeutungslosigkeit wegen weggelassen, der Verfasser (Hiersemenzel, ein persönlicher Freund von Lassalle) ist längst gestorben und ich brauche daher mit meinem Urteil über den Wert derselben nicht zurückzuhalten. Ich könnte es mit Ihren Noten ebenso halten, wie das dänische Kabinett mit den österreichischen und preußischen in der schleswig-holsteinschen Frage, d. h. mich dadurch nicht anfechten lassen; allein ich würde mich dazu nur dann entschließen, wenn zwischen uns beiden wirklich eine Meinungsverschiedenheit bestände. Die ist aber in der Tat gar nicht vorhanden, was ich in jenem Briefe habe bekämpfen wollen, ist nicht die spekulative Richtung schlechthin, sondern die Verirrungen derselben, und letztere werden auch Sie nicht in Schutz nehmen. Ich benutze übrigens gern diese Gelegenheit, um dem glänzenden Talente, das der neueste Verfechter dieser Richtung, F. Lassalle, für sie in die Schranken geführt hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; besäße ich ein solches Talent, ich wüßte etwas Besseres zu tun, als solche Briefe zu schreiben, und ich wollte in wenig Jahren einer der ersten lebenden Juristen sein! Für die minder begabten Naturen bestehen jene Gefahren gar nicht, die gerade für die Begabtesten in der Regel etwas so verlockendes haben – auf den Klippen lassen sich nur die Gemsen und Steinböcke, nicht die Schafe betreffen! Ein Moment gesellt sich allerdings noch hinzu: jene Gefahren drohen nur den Theoretikern, nicht den Praktikern. Es gehört die Stille und Abgeschiedenheit der Studierstube dazu, um excentrische Ideen zur Reife zu bringen; in Geschäftslokalen gedeihen sie nicht, wenn das Individuum von Haus aus auch noch so sehr zu ihnen inkliniert – einige Jahre in der Praxis, und der unbändigste Steinbock ist ein nützliches, gesetztes Haustier geworden und ist zufrieden, wenn er im Staatsdienst nach dem Gesetz der Anciennität einen jener Höhenpunkte erklimmen kann, die der Staat in Gestalt von Kreis-, Stadt-, Land- und Hofrichterstellen, der Oberappellationsgerichtsratsposten ganz zu geschweigen, dem strebenden Ehrgeiz vor Augen hält. Nur hier und da taucht einmal ein Advokat auf, den das Gefühl, zum Reformator der Jurisprudenz geboren zu sein, nicht schlafen läßt, und der die unfreiwillige Muße, die seine Klienten ihm lassen, zum Heile der Menschheit benutzt, um mit urwüchsiger, wilder Kraft welthistorische Ideen unter das erstaunte Volk der juristischen Philister zu werfen. Vielleicht gibt mir der Verlauf meiner Wanderung über das Gebiet der Jurisprudenz Gelegenheit, auch diese eigentümliche Spielart unserer modernen juristischen Titanen etwas näher zu beleuchten; bis dahin habe ich aber noch viel vor mir, denn Sie werden darin mit mir einverstanden sein, daß ich den eigentlichen Gelehrten von Fach den Vorrang einräume.
Wenn Roland und Bayard sich ihre Klingen selber hätten schmieden müssen, so würden sie wahrscheinlich, statt als Helden die Welt mit ihrem Ruhme zu füllen, als unbekannte Schwertfeger gestorben sein; die Möglichkeit ihres tatenreichen Lebens beruhte darauf, daß die damaligen Waffenschmiede ihnen jene Mühe abnahmen. Die Moral von dieser Betrachtung aber ist die: müßten wir Praktiker uns selber das uns nötige theoretische Rüstzeug fabrizieren, müßten wir die Basiliken herausgeben, den Gajus auffinden, das corpus juris kommentieren, Pandekten-Kompendien schreiben u. s. w., wir würden vor lauter Vorarbeiten nicht zur eigentlichen Berufsarbeit gelangen; statt das Schwert der Gerechtigkeit zu schwingen, müßten wir es hämmern und wetzen – und mit den Bayards und Rolands hätte es bei uns gute Weile. Darum können wir der Vorsehung gewiß nicht genug dafür danken, daß sie uns jener Mühe überhoben hat und mittelst unausgesetzter Hervorbringung von Theoretikern dafür Sorge trägt, daß jene Vorarbeiten regelmäßig von statten gehen. Auch in dieser Anwendung bewährt das Gesetz der Teilung der Arbeit wiederum seinen großen Segen. Denn während wir einerseits unsere ganze Kraft ungeschwächt und ungeteilt unserem Stück Aufgabe widmen und die Muße, die uns übrig bleibt, auf Jagd, Whist, Politik u. s. w. verwenden können, verstattet die ausschließliche Beschäftigung mit ihrer Aufgabe den Theoretikern, es darin bis zur grüßten Meisterschaft zu bringen. Unter ihren Händen hat das Schwert der Gerechtigkeit auf dem theoretischen Schleifstein eine Schärfe erlangt, um welche die meisten Rasiermesser es beneiden könnten; man kann ein Haar damit spalten, und wer des Gebrauchs desselben nicht völlig mächtig ist, der hat sich schon geschnitten und geschunden, bevor er es noch in der Hand hat, und wohin er es wendet, setzt es Blut und Wunden. Kein Wunder, daß dasselbe den Parteien nicht selten ein Gegenstand des Schreckens wird, und daß manche von ihnen eine ungeschickte Bewegung desselben von selten eines unerfahrenen Richters mit dem Verluste des ganzen Prozesses zu büßen hat.
Sowenig man dem Schwertfeger zum Vorwurf anrechnen darf, daß er die Klinge nicht zu führen versteht, sowenig sollte man dem Theoretiker daraus einen Vorwurf machen, daß er das Schwert der Gerechtigkeit nicht zu handhaben weiß, wozu denn die Teilung der Arbeit, wenn jeder das Ganze verrichten soll? Der Scherenschleifer schleift das Messer, der Barbier rasiert damit; so gehört es sich, und dabei gedeiht ein jeder von ihnen, während sie sonst beide Pfuscher bleiben würden. Wer sich vom Scherenschleifer barbieren läßt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er geschunden von dannen geht. Beim Barbiergeschäft ist es nun freilich üblich, daß man den zukünftigen Barbier nicht in die Lehre zu einem Scherenschleifer schickt; allein darin weicht eben unser Beruf von dem genannten ab: wir Praktiker gehen in die Lehre bei dem Theoretiker. Darin liegt allerdings ein gewisser Übelstand, und ihn recht anschaulich vor Augen zu bringen, ist der Zweck des gegenwärtigen Briefes. Wollte ich für meine Aufgabe einen anspruchsvollen, hochtönenden Namen suchen, so würde ich Ihnen sagen, sie beträfe das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Gegenwart. Wenn ich den Zusatz »in der Gegenwart« hinzufüge, so erraten Sie, daß ich damit auf eine andere Gestaltung dieses Verhältnisses in der Vergangenheit hindeuten will, und zwar habe ich dabei nicht etwa das alte Rom im Auge, wo die Professoren im heutigen Sinn, d. h. die ausschließlichen Theoretiker, erst zum Vorschein kamen, als es mit der Jurisprudenz zu Ende ging, sondern ich ziele damit auf Zeiten hin, die kaum ein Menschenalter hinter uns liegen. Unsere namhaften Theoretiker aus der frühern Zeit waren sämtlich zugleich gewiegte Praktiker; die Spruchfakultäten und Schöppenstühle führten ihnen einen praktischen Arbeitsstoff zu von einem Reichtum und einer Mannigfaltigkeit, wie er sonst sich nur an einem höchsten Tribunal findet. Diese Quelle der praktischen Belehrung ist zwar in der Gegenwart nicht völlig versiegt, Inzwischen gänzlich. Für die Rechtsprechung meines Erachtens ein Vorteil, für den Theoretiker aber ein bedenklicher Ausfall; die einzige Gelegenheit zur Rechtsanwendung ist damit für letzteren hinweggefallen. Die Folgen werden nicht ausbleiben! aber doch im Vergleich mit früher sehr arm geworden, wozu sich noch der Umstand gesellt, daß der Aufschwung, den unsere Jurisprudenz mit der historischen Schule genommen hat, sie zwar dem Quellenstudium mehr zugeführt, der Praxis aber mehr entfremdet hat.
Sollte ich das obige Thema behandeln, wie es sich gehört, in wissenschaftlicher Form und erschöpfend, ich würde wegen unzureichender Kräfte darauf verzichten müssen. Ich wähle statt dessen eine Form, die mir geläufiger ist, und deren ich mich schon einmal im vorigen Briefe bei Besprechung der spekulativen Jurisprudenz bedient habe, nämlich die, daß ich Ihnen schilderte, wie jener Gegensatz der Theorie und Praxis sich in meinem kleinen Leben bemerklich gemacht hat. Spiegeln Sonne, Mond und Sterne sich im kleinsten Gewässer ab, so können es auch die Erscheinungen an unserm juristischen Firmaments in dem engen Spiegel des bescheidenen Lebenslaufes eines gewöhnlichen Praktikers.
Das Leben des Juristen zerfällt bekanntlich in zwei Abschnitte, in die Universitätsjahre oder die Zeit der Aussaat, und in die des praktischen Lebens oder die Zeit der Ernte. Ernte? – Anmerkung des Setzers. Es gab nun Zeiten, und sie reichen bis in unser Jahrhundert hinein, wo man es jedem überließ, wie gut und wie schlecht er die Aussaat bestellen wollte, indem man davon ausging, daß wer Disteln säet, keine Feigen ernten wird, und daß das eigene Interesse wie den Bauersmann so auch den zukünftigen Juristen bei der Aussaat leiten solle, ich meine mit andern Worten die Zeiten, wo es noch kein Examen gab. Wir Jüngeren kennen dieses goldene Zeitalter der Jurisprudenz nur noch aus einzelnen mehr und mehr verklingenden Traditionen. Direkt von der Universität zog man damals in seine Vaterstadt, kaufte sich einen schwarzen Hut, die Gesetzsammlung und Aktenpapier – und der praktische Jurist, wenigstens wenn er sich beschied, Advokat zu werden, war fertig. Wie manchem armen, in Examensnöten begriffenen Rechtskandidaten mag das Bild dieser entschwundenen Zeit ähnliche Klagen hoffnungsloser Sehnsucht ausgepreßt haben, wie einst Schillern die Erinnerung an die Götter Griechenlands, und wie tief mag auch ein solcher in seiner Weise die Worte empfunden haben:
»Damals trat kein gräßliches Gerippe
An das Bett des – Strebenden.«
Wer aus guter Familie war, fand damals ohne weitere Prüfung im Staatsdienst sehr bald einen Posten, der seinen Mann nährte; ja mancher stieg damals gleich einem Luftballon um so schneller und höher, je leichter er war, und für die übrigen, welche besser daran taten, sich der Advokatur zu widmen, galt letztere als gemeine werde, auf der jeder sein Schäfchen frei grasen lassen durfte. Jetzt ist das alles anders; selbst der geborne zukünftige Staatsminister und Präsident hat sein Examen zu machen. Ich bedauere, daß ich seinerzeit diese Gelegenheit nicht benutzt habe, um daran erbauliche Betrachtungen über die politische Bedenklichkeit des Examens zu knüpfen, – wäre Bismarck seinerzeit durch das Examen gefallen, so existierte das Deutsche Reich nicht! Die Stimme eines einzelnen Examinators kann das Schicksal Europas bestimmen – gewiß eines der triftigsten Motive für die Milde der Examinatoren, das sich diejenigen, welche zur letzteren neigen, gegen ihre strengern Kollegen nicht entgehen lassen sollten. und dem Advokaten hat man die gemeine Weide eingehegt, und er kommt nicht hinein, ohne den Schlagbaum zu passieren, bei dem die Prüfung zu bestehen ist.
Dieser Schlagbaum, der die Universität und das praktische Leben, oder, lassen Sie mich kurzweg sagen, Theorie und Praxis trennt, ist wie alle Grenzschlagbäume gewissen Aufsichtsbeamten, Grenzzollwächtern, Revisoren und Kontrolleuren anvertraut, welche man im Leben bekanntlich Examinatoren nennt. Rücksichtlich der Wahl der dazu geeigneten Personen herrschen in Deutschland noch verschiedene Ansichten, deren Gegensatz sich principiell auf die Formel zurückführen läßt, ob die Untersuchung an der Stelle stattfinden soll, wo der Rechtskandidat auspassiert, oder wo er einpassiert. Betrachtet man die Kenntnisse, die er mit sich führt, als Exportartikel, so muß die Revision diesseits, betrachtet man sie als Importartikel, so muß sie jenseits der Barriere stattfinden – mit andern Worten, in dem einen Fall examinieren ihn die Professoren, in dem andern praktische Juristen. Ohne mir ein vollgültiges Urteil anzumaßen, so glaube ich doch meine schlichte Ansicht darüber äußern zu dürfen. Ich bin entschieden für das Exportsystem. Nicht daß ich meinte, als handele es sich hier um die Ausstellung eines Ursprungs-Certifikats von seiten der ehemaligen Lehrer des Kandidaten oder gar um die Entrichtung eines Ausfuhrzolles; vielmehr glaube ich, daß nicht bloß das Interesse aller beteiligten Personen, sondern auch das der akademischen Lehrfreiheit dies mit sich bringt. Versetzen Sie sich in die Lage eines Kandidaten, der schwerbeladen mit Kenntnissen des Weges kommt, und der jetzt vor einer aus Praktikern besetzten Examinationskommission Halt machen muß. Er führt die schönsten Sachen mit sich: Versteinerungen aus den ältesten Zeiten der römischen Rechtsgeschichte, Mammutknochen, Mumien und das Allerneueste an bahnbrechenden Entdeckungen, scharfsinnigen Theorien und kühnen Hypothesen, was zu haben ist. Aber was hilft ihm das bei dem Praktiker? Der hat für diese Dinge in der Regel ebensowenig Interesse und Verständnis, wie ein gewöhnlicher Zollbeamter für die kostbarsten Kristalle, Versteinerungen und anatomische Präparate, Holen Sie aber in beiden Fällen den Kenner her, und Sie sollen erfahren, wie der darüber in Entzücken gerät! Wofür hat nun aber ein armer Student seinem Kopfe Gewalt angetan, um alle die vielen Dinge aufzunehmen, die er im spätern Leben gar nicht gebrauchen kann, wenn er sie nicht wenigstens einmal im Leben, im Examen, soll auskramen dürfen?
Doch dem sei, wie ihm wolle, entscheidend ist die Rücksicht auf die akademische Lehrfreiheit. Es gibt allerdings Leute, welche gerade diese Rücksicht für das Gegenteil anführen, indem sie meinen, daß die Professoren mittelst des Examens gewissermaßen ein Zwangs- und Bannrecht für ihre Vorlesungen erhielten. Es kann nichts Verkehrteres geben! Was heißt denn die Lehrfreiheit? Lehrer und Schüler sind korrelate Begriffe, es kann niemand lehren, wenn nicht jemand zum Lernen da ist. Wenn nun die Lehrfreiheit nicht ein völlig hohler Begriff sein soll, so muß Sorge dafür getragen werden, daß nicht bloß Lehrer, sondern auch Schüler da sind, und da die Anwendung von gewöhnlichen polizeilichen Zwangsmaßregeln unsern empfindlichen Anschauungen von akademischer Freiheit widerstrebt, so läßt sich die obige Voraussetzung der Lehrfreiheit nur dadurch herstellig machen, daß man den Professoren das Staatsexamen überträgt. Ich möchte wissen, wie es mit dem Besuch oder auch nur mit dem bloßen Belegen so mancher Vorlesungen bestellt sein würde, wenn der Docent plötzlich aufhören würde, Examinator zu sein! Sein Auditorium würde sich so leeren, daß es mit dem Lehren vorbei wäre und irgend ein kecker Privat-Docent würde mit der ganzen Zuhörerschaft davonlaufen. Was wäre aber die notwendige Folge davon? Um die Zuhörerschar nicht in die Hände von solch einem unerfahrenen Menschen geraten und sich dort wissenschaftlich ruinieren zu lassen, müßte der Professor, statt sich lediglich durch seinen Geschmack, durch seine Neigungen, durch seinen Genius leiten zu lassen, den Geschmack und die Wünsche seiner Zuhörer berücksichtigen, er müßte sich Zwang auferlegen; der Zwang aber ist das direkte Gegenteil der Freiheit – um die Lehrfreiheit wäre es geschehen!
Könnten die bisher entwickelten Gründe noch irgend einen Zweifel über die obige Frage für mich übrig lassen, so würden meine eigenen Erfahrungen ausreichen, ihn zu heben. Auf der Universität hatte ich jahrelang mit einem Freunde zusammen gewohnt, studiert und repetiert, und obschon ich selbst unter meinen Bekannten wegen meiner Kenntnisse ein gewisses Ansehen genoß, so hatte doch nicht bloß ihr, sondern auch mein eignes Urteil diesem meinem Freunde im Punkte des juristischen Wissens entschieden die Palme zuerkannt. Was geschah nun im Examen? Mein Freund hatte dasselbe in seinem Vaterlande vor einer Kommission von Praktikern zu bestehen, ich in dem meinigen vor der juristischen Fakultät, – und während ich den ersten Charakter mit Auszeichnung erhielt, kam er mit genauer Not durch das Examen; während meine Examinatoren mir ihr Bedauern aussprachen, daß ich meine frühere Absicht, die akademische Laufbahn einzuschlagen, aufgegeben habe, sprachen seine Examinatoren ihm jede Zukunft ab. Woher das? Ihm hatte man, wie es dort üblich, zwei Akten zur Relation gegeben, und was ihm in unserm Examen zum größten Verdienst angerechnet worden wäre, daß er nämlich infolge der angestrengtesten Arbeit von beinahe dreiviertel Jahren zwei Relationen angefertigt hatte, aus denen der Unkundige ganze Abschnitte der römischen Rechtsgeschichte, der Pandekten und des Kriminalrechts hätte lernen können, gerade dieser Umstand gereichte ihm bei seinen Examinatoren zum Nachteile. Mir dagegen war das Examen, ganz abgesehen von dem überaus günstigen Erfolge desselben, ein wahrer Genuß. Da ich bei sämtlichen Examinatoren sämtliche Vorlesungen gehört und meine sorgfältig nachgeschriebenen Hefte vermöge meines guten Gedächtnisses fast wörtlich auswendig gelernt hatte, so konnte ich, gleich einem nach Art einer Spieluhr aufgezogenen Kollegienheft, alles mit den verbis ipsissimis herunterleiern, und ich sehe noch das freundliche Schmunzeln meiner Examinatoren, mit dem sie diese echoartige Wiedergabe ihrer Vorträge belohnten. Bei einem derselben, der mich im römischen Rechte eine ganze halbe Stunde lang über die Infamie examinierte, verfehlte ich keine einzige Frage. Alle Fälle der infamia mediata und immediata hatte ich wie am Schnürchen; von den 25 Fällen der ersteren Sorte, die v. Vangerow in seinem Pandekten-Lehrbuch §. 47 aufzählt, war mir nur Nr. 22: »wer zum Ackerbau bestimmte Gerätschaften oder Tiere beschädigt oder wegnimmt«, entfallen, und rücksichtlich Nr. 2: »die Großjährigen, welche als Schauspieler öffentlich aufgetreten sind«, hatte ich das Moment der Großjährigkeit vergessen. Der andere Romanist examinierte mich über die capitis deminutiones und den » unus casus« der Institutionen, mit dem er sich seit Jahren mit Vorliebe beschäftigt hatte, und über den er eine »Monographie«, die aber wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes und der Umfänglichkeit der Literatur noch immer nicht erschienen ist, vorbereitete, und dieser Gegenstand nahm ihn so sehr in Anspruch, daß ihm für die servitus luminum, bekanntlich ebenfalls ein rechtshistorisches Rätsel, eine wahre Sphinx von Servitut, über die unendlich viel geschrieben ist, nur noch wenig Zeit übrig blieb.
In der römischen Rechtsgeschichte ging es mir nicht ganz so gut. Zwar die tres partes und das infortiatum kannte ich genau und entwickelte meinem Examinator zu seiner großen Befriedigung mit allen Gründen die von ihm verteidigte Ansicht, der zufolge diese Einteilung auf Absicht beruht; auch die 7 partes der Pandekten, der umbilicus Digestorum und Antipapinian, die libri terribiles, die Namen für die Füchse und alten Burschen auf den Universitäten zu Justinian's Zeit, die kürzeste und längste lex in den Pandekten, die Zahl der Titel in den Institutionen, Pandekten und Codex – lauter Punkte, auf die mein Examinator großes Gewicht legte Fragen aus dem Doktorexamen von Hugo in Göttingen.– waren mir gut in der Erinnerung; dagegen war mir das zweite Kapitel der lex Aquilia total entfallen, und die verwünschte Homöophonie der lex Atinia, Atilia, Acilia, Aquilia konfundierte mich etwas, auch die lex Furia Caninia und Aelia Sentia über die Freilassung der Sklaven hielt ich nicht ganz genau auseinander und schließlich fehlten mir gar von den berühmten Juristen mit dem Vornamen »Anton« zwei, wovon der eine der eines der anwesenden Examinatoren war Ebenfalls eine Frage aus dem Doktorexamen bei Hugo. Der anwesende Examinator war der Kriminalist Anton Bauer; die Frage war auf eine Bosheit abgesehen: »Rechnen Sie meinen Kollegen Anton Bauer nicht zu den berühmten Juristen?«.
Doch ich will Sie mit Examensfragen nicht weiter behelligen; das Gesagte genügt, um Ihnen zu zeigen, daß ich, wenn ich bei Praktikern mein Examen zu bestehen gehabt hätte, gar nicht in die Lage gekommen wäre, meine Kenntnisse zu entfalten. Ich hätte unter dieser Voraussetzung meinem ganzen Studium eine andere Richtung geben müssen, namentlich was die Pandekten betrifft. Von den Pandekten kamen in unserm Examen regelmäßig nur gewisse Materien vor, für welche die Examinatoren sich besonders interessierten. aus dem Eigentum die Lehre vom thesaurus, von der accessio und specificatio, dem alveus derelictus und der insula in flumine nata, aus dem Obligationenrecht die verschiedenen römischen Formen der Bürgschaft, die act. de pauperie, die Deliktsklagen und die actiones adjectitiae qualitatis, aus dem Familienrecht die Adoption, Emancipation, die Pekulien und vor allem der Unterschied zwischen tutela und cura, aus dem Erbrecht die bonorum possessio Löhr, mein Vorgänger in Gießen, kannte nur drei Materien, über die er examinierte: die bonorum possessio, die dos und die Pekulien. Seine Kollegen versuchten ihn einmal zu bestimmen, ein anderes Thema zu wählen, und er ging bereitwillig darauf ein und beschloß über das Eigentum zu examinieren. Erste Frage: Was ist das Eigentum? »Richtig!« Zweite Frage: Wer hat an den Dotalgegenständen das Eigentum, der Mann oder die Frau? »Richtig – da wollen wir uns doch die dos einmal etwas genauer ansehen.« Fortan hatte das Examen nur die Dos zum Gegenstande. Seit der Zeit verzichteten seine Kollegen darauf, ihn aus seiner Bahn zu bringen, es war vorauszusehen, daß wie auch die erste Frage gelautet hätte, die zweite die Anwendung derselben auf die bonorum possessio, die dos, die Pekulien enthalten hätte., das Privattestament, das altrömische Noterbrecht und der Unterschied zwischen Legaten und Fideikommissen. Wer in diesen Materien gut gesattelt war, dem konnte man einen glücklichen Erfolg des Examens garantieren.
Lassen Sie mich jetzt in meiner Geschichtserzählung weiter fortfahren. Das Examen war bestanden: Ex (erat) Amen! Der Schlagbaum ward aufgezogen, und ich trat als Praktikant in den Staatsdienst und zwar bei dem Amtsgerichte zu X. Wie sehr kontrastierten aber die ersten Eindrücke, die ich hier erhielt, mit den letzten aus meinem Leben! Mein wohlbestandenes Examen hatte mir ein gewisses Selbstgefühl und Vertrauen eingeflößt, es dauerte aber keinen Monat, daß dasselbe der bittersten Mutlosigkeit Platz machen sollte. Ich kam mir vor wie einer, der auf dem Trocknen das Schwimmen gelernt hat und jetzt ins Wasser gesetzt wird. Die Glanzpartien meines Wissens erwiesen sich als völlig wertlos, ja sie dienten, wie z. B. die verschiedenen Formen der römischen Bürgschaft, zum Teil nur dazu, mich völlig rat- und hilflos zu machen, und mehr und mehr stellten sich bei mir Zweifel darüber ein, ob ich statt etwas vom Recht, etwas Rechtes gelernt habe. Im Laufe einer 15jährigen praktischen Tätigkeit ist mir auch nicht eine einzige von alle den Fragen aus dem römischen Rechte vorgekommen, die mir im Examen vorgelegt wurden. Wie sehr würde ich mich gefreut haben, meinen mühsam errungenen Besitz in der Lehre von der Infamie, der mich viele Tage angestrengten Lernens gekostet hatte, zu verwerten. Wie lechzte ich nach »Söhnen von perduelles« ( Vangerow a. a. O. Nr. 15), oder nach jemandem, »der individuelle Verfügungen des Regenten arglistig interpretiert oder sich dabei einer Erschleichung schuldig macht« (Nr. 19), oder nach einem, »der in einzelnen vom Gesetz hervorgehobenen Fällen auf unerlaubte Weise bei dem Regenten suppliziert« (Nr. 20)! Ich würde allenfalls auch mit »Notaren und Richtern, welche eine von einem Juden an einen Christen geschehene Schuldcession aufsetzen« (Nr. 24), oder »Advokaten, welche sich bei Führung des Prozesses unnötiger (?) Injurien schuldig machen« (Nr. 17), vorlieb genommen haben; »Huren, Ehebrecherinnen, Witwen, die das Trauerjahr verletzen, Zinswucherer« (Nr. 5, 6, 8, 10) waren mir zu gemein und uninteressant, – allein sowenig ich bezweifelte, daß die schönsten Exemplare jener Kategorien sich ohne Treibjagd würden auffinden lassen, so sah ich doch nicht ein, wie man ihnen eigentlich mit der Infamie beikommen sollte. Das einzige Mttel, ihre Infamie gerichtlich zu konstatieren, nämlich ihnen diesen Vorwurf ins Gesicht zu schleudern und der von ihnen angestellten Injurienklage die exceptio veritatis entgegenzusetzen, schien mir zu gewagt, insbesondere in Anwendung auf Notare, Richter und Advokaten. Auch der unus casus der Institutionen und die servitus luminum wollten sich nicht blicken lassen, und so oft mir im Leben Fälle vorkamen, wo jemand total den Kopf verloren hatte, so wollte sich doch keiner derselben unter den Begriff der römischen capitis deminutio subsumieren lassen. Das Leben brachte mir ganz andere Fragen als das Examen, und ich darf sagen, daß im Vergleich mit dem fortgesetzten Examen, das ich im Leben zu bestehen hatte, jenes der Schule Kinderspiel war, daß ich das eine ebenso schlecht bestand, wie ich das andere gut bestanden hatte. Das Verwünschte dabei war, daß gerade die einfachsten Fälle mich am meisten in Verlegenheit setzten, und meine Bücher mich dabei regelmäßig gänzlich im Stich ließen.
Was kann es Einfacheres geben, als ein Darlehn und ein darüber ausgestellter Schuldschein? Aber der erste Fall desselben, der mir vorkam, hat mich wahrhaft gedemütigt und beschämt.
Schulze hatte dem Zwickauer – der Kladderadatsch möge mir erlauben, daß ich statt des römischen Aulus Agerius und Numerius Negidius seine Namen zu meinem Rechtsfall verwende – Schulze also hatte dem Zwickauer in Gegenwart von zwei Zeugen 100 Tlr. geliehen und sich darüber folgenden Schein ausstellen lassen:
»Endesunterschriebener bekennt hiermit, Herrn Schulze 100 Tlr. schuldig zu sein, verzinslich zu 5 pCt. Und gegen beiderseitige monatliche Kündigung.
Schilda, den 31. September 1847.
Zwickauer«.
Unter diesem Scheine folgte folgender Zusatz:
»Für das Obige stehen ein
A. Schmidt und K. Meier«.
Schulze hatte Klage erhoben, in der er anführte, daß er dem Zwickauer 100 Tlr. gegen den beigelegten Schein geliehen und vor einem Monat gekündigt, sein Geld aber bisher nicht erhalten habe. Zwickauer hatte sich mit seiner Vernehmlassung kontumazieren lassen, was nach der Praxis unseres Landes die Annahme negativer Litiskontestation nach sich zog. Mein Amtmann fragte mich, wie ich erkennen würde, und da ich auf die Frage eine bestimmte Antwort sofort nicht zu erteilen vermochte, so bat ich mir Bedenkzeit aus. Ich unterwarf das Verhältnis dann zu Hause der eingehendsten Untersuchung, wobei Puchta, Vangerow und das corpus juris nicht geschont wurden, und gelangte zu folgendem Resultat. Die vom Kläger angestellte Klage war die condictio ex mutuo; nach römischem Recht aber gehört zum Begriffe des Darlehns der Übergang des Eigentums, eventuell die spätere Konsumtion der geliehenen Geldstücke (Puchta, Pandekten § 304, l. 2 §, 4 de reb. cred. 12. ). Da nun Kläger in der Klagschrift weder das eigene Eigentum an den Geldstücken und den dadurch erst ermöglichten Eigentumsübergang, noch auch die Konsumtion von seiten des Empfängers behauptet hatte, so war die Klage unschlüssig und mußte »angebrachtermaßen« abgewiesen werden. Das Lachen meines alten Amtmanns unterbrach mich in der ferneren Entwickelung meiner Ansicht. Ob ihm jene Bestimmung des römischen Rechts über das Darlehn gar nicht bekannt war – kurzum, er geriet fast in Harnisch, als ich in theoretischem Sicherheitsgefühl mich auf das römische Recht und Puchta berief, und schnitt mit dem Paschaspruch, daß wenn auch alle Gesetzbücher der Welt einen so unsinnigen Satz enthielten, er ihn nie zur Anwendung bringen würde, indem derselbe jedes Darlehn unmöglich mache, alle ferneren Erörterungen über diesen Punkt ab, und mein eventueller Antrag: das Eigentum des Gläubigers, beziehungsweise die Konsumtion alternativ zum Beweise zu verstellen, kam gar nicht mehr zur Sprache.
Über den Schuldschein liefen unsere Ansichten nicht weniger auseinander. Meiner Ansicht nach hatte derselbe nicht den geringsten Wert, denn einmal lautete derselbe auf einen Tag, der im Kalender gar nicht existiert, den 31. September, er enthielt also etwas juristisch Unmögliches; denn wie kann jemand an einem nicht existierenden Tage etwas schuldig werden? Sodann war er, da ihm die Angabe der causa debendi fehlte, eine cautio indiscreta, mithin weder geeignet, eine Schuld zu begründen, noch auch sie zu beweisen (Puchta, § 257). Dem Gläubiger, der nicht darauf dringt, daß die causa im Scheine genannt wird, geschieht es schon recht, wenn derselbe nichts gilt. Zwar wenn er Ursache hat, die causa zu verdecken, wird er schon dafür sorgen, daß irgend eine erdichtete causa, regelmäßig das Darlehn, im Scheine zum Schein angeführt wird, und dann ist die Sache in Ordnung. Aber auch die ehrlichen Leute sollen, wie ihre Pässe, so auch ihre Schuldscheine in Ordnung haben, und sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie in den Schlingen der Polizei und Justiz, die dem geriebenen Betrüger nichts anhaben, hängen bleiben. Würde an ihnen nicht mitunter ein Exempel statuiert, was sollte die Spitzbuben zur Vorsicht veranlassen! Trotz dieser guten Gründe aber machte ich auch hier wiederum bei meinem Chef mit der Theorie Fiasko; er meinte: jenes auf bloßes »Schulden« gerichtete Bekenntnis bedeute bei gemeinen Leuten regelmäßig ein Darlehn, und ganz abgesehen davon, müsse es jedem frei stehen, im Einverständnis mit der Gegenpartei dem Richter den nähern Einblick in ihr Geschäft und ihre beiderseitigen Geschäftsbeziehungen zu verwehren, mit andern Worten, bei Konstituierung einer Geldschuld von der causa zu abstrahieren. Ich konnte mich davon nicht überzeugen und freue mich, daß trotz der in der Praxis mehr und mehr hervortretenden Hinneigung zu dieser Ansicht und trotz der von Bähr in seiner Schrift über die Anerkennung versuchten wissenschaftlichen Rechtfertigung derselben die Theoretiker sich derselben bisher hartnäckig widersetzt haben, wie dies namentlich jüngst noch von Schlesinger (Zur Lehre von den Formalkontrakten, Leipzig 1858) geschehen ist. Mit Recht achtet dieser Gelehrte einen solchen Schein für nichts, während sich, um seine Worte zu gebrauchen (S. 141): »die Sache plötzlich ganz anders stellt, wenn wir uns an jene Erklärung (des bloßen Schuldigseins) noch den Beisatz: »»und verspreche, dieselben daher zu bezahlen«« angefügt denken. Dieses Versprechen macht, in Verbindung mit der Acceptation der andern Seite, offenbar einen obligatorischen Vertrag aus, und zwar, da es sich als ein Versprechen eines schon geschuldeten Objekts angekündigt, ein Konstitutum ( debiti proprii)«. Ganz natürlich! Denn wenn schon bei dem ausdrücklich abgelegten Versprechen der ernstliche Wille, es zu halten, so oft im Leben fehlt, um wieviel weniger wird man ihn bei einem solchen bloßen Schuldbekenntnisse voraussetzen dürfen, wo der Schuldner die Erklärung, daß er auch wirklich zahlen wolle, umgeht, während dieselbe doch so höchst nötig ist, um dem Schuldner die Ausflucht abzuschneiden, daß er zwar die Absicht gehabt habe, Schuldner zu werden und auch zu bleiben, durchaus aber nicht die, später aufzuhören es zu sein, mit andern Worten, zu zahlen. Das bloße Schuldbekenntnis ist etwas Halbes, es konstatiert zwar den Willen der Errichtung, durchaus aber nicht den der Lösung der Obligation. Ob letzterer bereits mit den Worten »und verspreche dieselben daher zu zahlen«, hinreichend dokumentiert ist, wie Schlesinger annimmt, ist mir mehr als zweifelhaft, vielmehr scheint es mir nötig, diesem Versprechen noch das hinzuzufügen: »es auch wirklich halten zu wollen«. So wenig sich aus dem bloßen Schuldbekenntnis die Zahlungsverbindlichkeit von selbst ergibt, so wenig folgt aus dem bloßen Versprechen die Verpflichtung dasselbe zu halten, denn versprechen und halten ist bekanntlich zweierlei.
Auch über die Bedeutung der Unterschrift der beiden Zeugen A. und B. gingen Theorie und Praxis weit auseinander. Mein Chef erklärte das Geschäft rundweg für eine Bürgschaft, während ich nach dem Satz, daß in dubio das Geringere anzunehmen sei, darin um so eher ein bloßes Attest über den vor den Zeugen geschehenen Vorgang der Konstituierung des Schuldverhältnisses erblicken zu müssen glaubte, als A. und B. zugestandenermaßen zunächst als Zeugen hatten dienen sollen, und in dubio anzunehmen sei, daß sie diese Eigenschaft auch bei der Unterschrift beibehalten haben. Und wenn es denn einmal eine Bürgschaft sein sollte, welche Form derselben war es? Fidejussio, mandatum qualificatum oder constitutum debiti alieni? Denn daß diese Formen noch heutzutage fortdauern, entspricht der Ansicht bewährter Theoretiker Auch die, welche, wie z. B. Puchta (§ 404), Girtanner (Bürgschaft S. 373 f.), die fidejussio und das constitutum zusammenwerfen, retten wenigstens doch noch das mandatum qualificatum. Vangerow (§ 579) und andere haben sich auch des constitutum angenommen, während Arndts (Pandekten § 353) den Theoretiker so weit verleugnet, daß er alle drei Formen in den einen Begriff der Bürgschaft aufgehen läßt. Er hätte eigentlich nicht Theoretiker werden sollen, denn was soll aus der Theorie werden, wenn die Theoretiker selber die feinsten Unterschiede des römischen Rechts opfern?.
Kennt das heutige Recht keine Bürgschaft in abstracto, sowenig wie die Natur einen Vogel in abstracto, sondern nur die römischen species, so kann man sich nicht dabei beruhigen, daß A. und B. zugestandenermaßen den Willen, sich zu verbürgen, gehabt haben, sondern es muß schon der anzustellenden Klage wegen für eine der drei Formen der Ausschlag gegeben werden, und läßt sich zu dem Zweck kein ausschlaggebendes Moment entdecken, so kann von einer Bürgschaft überall nicht die Rede sein, der auf sie gerichtete Wille schwankt zwischen allen diesen in der Mitte, ohne sich für eine derselben zu erklären.
Doch genug über diesen meinen ersten so völlig verunglückten Versuch, meine theoretischen Kenntnisse in der Praxis zur Geltung zu bringen. Er sollte nicht lange allein stehen bleiben; ein Fall nach dem andern brachte mir neue Verlegenheiten, und um so größere, je tiefere theoretische Studien ich zur Bewältigung derselben anstellte, und ich gelangte schließlich zu dem Punkte, auf dem ich jetzt stehe, und den ich in den Satz zusammenfassen kann: daß man erst den Glauben an die Theorie vollständig verloren haben muß, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können. Interessiert es Sie, noch einige jener Fälle zu vernehmen, die diesen Skepticismus bei mir zuwege gebracht haben, so zeigen Sie es mir an, und ich werde Ihnen mit einigen aufwarten.