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Ich war gestorben. Eine Lichtgestalt empfing meine Seele bei dem Austritt aus dem Körper.
»Du bist jetzt von den Banden der Sinnlichkeit befreit, die Fesseln, mit denen Deine Seele an den Körper gekettet war, sind gesprengt, Du bist fortan nur Geist. Als solcher hast Du nicht mehr nötig, den ›Geist‹ einer Sache erst mühsam zu suchen, denn alles, was Dich umgibt, die ganze Welt ist Geist d. i. Ge-ist C. F. Christiansen, Institutionen des röm. Rechts. Altona 1848, S. 7. »Der Geist ist: rechtes Ist, Sein, esse, denn er ist nicht: » das sein«, sondern ist: » Sein sein«, » Ist sein«; der Geist ist Ge–ist.«. Die Welt, welche Du bisher wahrzunehmen glaubtest, existierte nur in Deiner Vorstellung, ebenso wie Zeit und Raum, es waren Formen Deiner subjektiven Anschauung, wie Du, wenn Du Kant und Schopenhauer studiert und verstanden hast, bereits wissen mußt, – alles war Blendwerk und Sinnestäuschung. Das wahre Sein ist immaterieller Art, die ganze Welt ist Geist, und Du selber bist ein Stück davon. Was Du denkst, das ist, – Denken und Sein sind eins. Darauf beruht die Macht des zur Höhe seiner selbst erhobenen Willens, den Du auf Deiner irdischen Vorstufe nur in seiner unvollkommenen Form, in seinen ersten Ansätzen in der Welt der Erscheinung hast kennen lernen. Die Qual des Willens, wie euere Philosophen es nennen, die dabei nur den irdischen Willen vor Augen haben, hat nunmehr für Dich aufgehört, fortan ist Dein bloßes Denken Wollen, – was Du gedacht hast, hast Du gewollt, und was Du gewollt hast, ist Wirklichkeit, – Gedanke und Wirklichkeit sind eins.«
Habe Dank für die Unterweisung. Ich habe mir die Sache ungefähr so gedacht, aber es ist mir lieb, daß ich aus Deinem Munde die Bestätigung erhalte. Wie habe ich Dich zu nennen?
»Wir Geister tragen keinen Namen, wir sind keine Individuen mehr, wie der Mensch es ist. Die Individualität ist ebenfalls eine der Formen des beschränkten irdischen Daseins, sie beruht gleich allen andern auf der Verkettung des Geistes mit dem Körper; hat der Geist sich von letzterem abgelöst, so geht er in die Geistessubstanz, welche die wahre Welt ist, auf, gleich dem Tropfen, der ins Meer fällt. Ich bin Du, Du bist ich, wir alle sind unterschiedslos eins, eine und dieselbe Geistessubstanz; die Vorstellung des individuellen Fürsichseins, der Du Dich bisher hingegeben hast, und die noch eine Zeitlang in Dir nachwirken wird, wird demnächst von Dir als Täuschung erkannt werden, Du wirst inne werden, daß nicht Du bist, daß nicht Du denkst, sondern daß Es ist, daß Es denkt, daß Dein Sein und Denken dem allgemeinen Sein und Denken gegenüber ebensowenig selbständig ist, als der Tropfen im Strom, die Welle auf der See. Hast Du's verstanden?«
Könnte es nicht sagen.
»Du hättest Dich auf Erden mehr mit Philosophie beschäftigen sollen. Euern Philosophen macht es nicht die mindeste Schwierigkeit, das unpersönliche Sein und Denken zu begreifen. Aber auch mit Dir wird es sich mit der Zeit schon machen. Der Übergang von der Subjektivität zum unpersönlichen Sein ist für den Ungeübten nicht so leicht, auch ich habe mich erst daran gewöhnen müssen.«
»Zur Zeit befindest Du Dich noch in einem Übergangsstadium, es ist das der Puppe, die aufgehört hat Raupe zu sein und noch nicht Schmetterling geworden ist. Du wirst in diesem Zustande nicht wissen, ob Du wachst oder träumst, ob das, was Du siehst und erlebst, Vorstellung oder Wirklichkeit ist; es ist das erste Symptom des schwindenden Subjektivitätsbewußtseins; Du wirst wissen, daß alle schwierigen Übergänge durch Mittelstufen bewirkt werden.«
»Ich werde übrigens, um mich Dir verständlich zu machen, zu Deinem bisherigen Standpunkt herabsteigen und mich Deinen Vorstellungen von Zeit, Raum und Individualität accommodieren. Darum magst Du mich als ein Individuum ansehen und mich, um uns beide, die wir in Wirklichkeit nur eins sind, auseinanderzuhalten, bei Namen nennen.«
Wie darf ich Dich denn nennen?
»Nenne mich Psychophoros, den Seelenführer. Ich bin derjenige, welcher Dich an den Ort Deiner Bestimmung zu führen hat. Ich sage ›Ort‹ und ›führen‹, um das, was jetzt mit Dir geschieht, Deiner Vorstellungsweise anzupassen. Wärest Du schon weiter vorgerückt, so würdest Du wissen, daß die Annahme eines bestimmten Orts im Raum auf der Unvollkommenheit des menschlichen Denkens beruht, und daß es auch des Führens meinerseits nicht bedarf, da Du selber den Ort Deiner Bestimmung nur zu denken brauchst, um dort zu sein.«
Ich will es einmal versuchen. Eohin soll ich mich durch mein Denken versetzen?
»Da Du Romanist bist, so kommst Du in den juristischen Begriffshimmel. In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt, in ihrer Verunstaltung, die sie auf Erden durch die Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben, sondern in ihrer vollendeten, fleckenlosen Reinheit und idealen Schönheit. Hier werden die juristischen Theoretiker belohnt für die Dienste, die sie denselben auf Erden geleistet haben, hier erblicken sie dieselben, welche sie dort nur in verschleierter Gestalt sahen, in voller Klarheit, sie erschauen sie von Angesicht zu Angesicht und verkehren mit ihnen wie mit ihresgleichen. Die Fragen, für die sie sich im Diesseits vergebens nach einer Lösung umgesehen haben, hier werden sie ihnen von den Begriffen selber beantwortet. Hier gibt es keine civilistischen Rätsel mehr, die Konstruktion der hereditas jacens, der Korrealobligation, der Rechte an Rechten, die Natur des Besitzes, der Unterschied des Prekarium vom Kommodat, das Pfandrecht an eigener Sache und wie alle die Probleme heißen mögen, die dem Jünger der Wissenschaft in seinem Erdenwallen so viel zu schaffen machen, hier sind sie alle gelöst.«
»Das ist der Himmel, dessen Du als Theoretiker jetzt teilhaftig werden wirst.«
Also bloß für Theoretiker? Wohin kommen denn die Praktiker?
»Sie haben ihr eigenes Jenseits. Dasselbe gehört noch zum Sonnensystem. Die Sonne wirft ihre Strahlen hinein, und es gibt dort eine atmosphärische Luft, wie sie für die derbe Konstitution des Praktikers paßt, der einmal in dem luftleeren Raum, wie er für die Begriffe nötig ist, nicht zu existieren vermag, und es herrscht dort ein Leben ganz wie auf der Erde, kurz der Praktiker findet alle Bedingungen des irdischen Daseins auch dort wieder. Im theoretischen Himmel würde er nicht zu atmen vermögen, und er würde auch, da seine Augen auf die dort herrschende tiefe Finsternis nicht eingerichtet sind, keinen Schritt von der Stelle tun können.«
Ist es denn dort dunkel?
»Völlig! Es herrscht die finsterste Nacht. Der Weltkörper, auf dem das theoretische Jenseits sich befindet, gehört nicht mehr zum Sonnensystem, es scheint kein Sonnenstrahl hinein. Die Sonne ist die Quelle alles Lebens, aber die Begriffe vertragen sich nicht mit dem Leben, sie haben eine Welt für sich nötig, in der sie ganz für sich allein existieren, fern von jeglicher Berührung mit dem Leben.«
Aber wie können denn die Theoretiker, die dorthin kommen, in dieser Dunkelheit sehen?
»Die Augen des Theoretikers sind schon auf Erden daran gewöhnt ins Dunkle zu sehen. Je dunkler der Gegenstand, den er behandelt, einen desto höheren Reiz hat er für ihn, desto mehr kann er seinen Scharfblick an ihm zeigen, er gleicht der Eule, dem Vogel der Minerva, der im Dunkeln sieht. Welchen Reiz würde die römische Rechtsgeschichte für ihn haben, wenn die Quellen es ihm ermöglichten, auf alle Fragen eine klare und bestimmte Antwort zu erteilen! Gerade die Lückenhaftigkeit und das oft gänzliche Schweigen derselben geben der Sache den größten Reiz, gerade die dunkelsten Partien sind die interessantesten, denn sie verstatten jenes freie ungebundene Umherschweifen der Phantasie, in welchem der wahre Hochgenuß ihres Besitzes besteht. Das Licht an die Stelle der Dunkelheit gesetzt – und alles wäre dahin! Und selbst die Pandekten! Was würde aus den Vorlesungen über sie, wenn es keine Dunkelheiten z. B. keine dunklen Stellen in den Quellen gäbe! Gerade sie sind ja die Würze des Vortrags, auf welche der Lehrer sich schon lange freut. Welche Einbuße würde die Wissenschaft erleiden, wenn die Stellen, die jetzt seit Jahrhunderten vielen Tausenden von Romanisten Gelegenheit gegeben haben, ihren Scharfsinn zu zeigen, in einer Weise erklärt würden, welche keinem Zweifel mehr Raum ließe, – es gäbe an ihnen dann nichts weiter zu tun, der Reiz derselben wäre dahin.«
»Doch es ist des Redens genug! Mache Dich bereit. Wir treten unseren Weg an, und Du hast zu dem Zweck nichts zu tun, als Dir das jenseits, wie ich es Dir soeben geschildert habe, mit aller Energie zu denken, dann ist es da.«
Ich tue es.
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»Wir sind bereits da! Meine Mission ist nunmehr beendet. Vielleicht komme ich noch einmal wieder, um Dich abzuholen, wenn Du die Prüfung nicht bestehst.«
Eine Prüfung im Himmel? Ich sollte meinen, auf Erden würde man genug geprüft, und nach dem Tode müsse das Examinieren endlich einmal aufhören.
»Glaubst Du denn, daß in den Begriffshimmel jeder Jurist ohne Unterschied zugelassen wird? Da könnten ja auch Praktiker kommen und Aufnahme begehren. Er ist nur für die Theoretiker bestimmt und auch nur für die Auserwählten unter ihnen. Es wird sich bei Deinem Examen zeigen, ob Du zu letzteren gehörst, sonst mußt Du in den allgemeinen Juristenhimmel wandern. Melde Dich bei dem Wächter, den Du dort siehst.«
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Ich soll mich bei Dir melden. Ich wollte in den Himmel.
»Es wird sich finden, ob Du aufgenommen wirst. Vorläufig hast Du die Quarantäne zu bestehen, dann die Prüfung.«
Eine Quarantäne? Zu welchem Zweck?
»Um uns sicherzustellen, daß Du uns keine atmosphärische Luft mitbringst.«
Vertragt ihr die denn nicht?
»Sie ist Gift für uns. Eben darum ist unser Himmel im äußersten Winkel der Welt angebracht, damit keine Luftwelle und kein Lichtstrahl hineindringe. Die Begriffe vertragen die Berührung mit der realen Welt nicht. Wo sie leben und herrschen sollen, muß letztere mit allem, was ihr angehört, gänzlich fern bleiben. In der Begriffswelt, die Du hier vor Dir hast, gibt es kein Leben in eurem Sinne, es ist das Reich der abstrakten Gedanken und Begriffe, die unabhängig von der realen Welt, auf dem Wege der logischen generatio aequivoca, sich aus sich selber heraus gebildet haben, und die darum jede Berührung mit der irdischen Welt scheuen. Selbst die Erinnerung an letztere muß derjenige, welcher hier Aufnahme finden will, gänzlich abgetan haben, sonst ist er des Anschauens der reinen Begriffe, in dem die höchsten Freuden unseres Himmels bestehen, nicht würdig und nicht fähig. Für diejenigen, welche dies noch nicht fertig gebracht haben, ist hier, wie in der Unterwelt der Griechen der Lethestrom, ein eigener Brunnen angebracht, aus dem ein Trunk genügt, um alles, was ihnen noch an Anschauungen vom wirklichen Leben anhaftet, in Vergessenheit zu tauchen. Aber die wenigsten, die sich bei uns zur Aufnahme melden, finden es nötig, ihn zu benutzen.«
Bekommt Ihr viele?
»Nur wenige und diese fast nur aus Deutschland, und von dorther auch erst seit einiger Zeit. Jahrhundertelang kam niemand von dort, die damaligen Theoretiker zogen mit den Praktikern in den allgemeinen Juristenhimmel, erst seit fünf bis sechs Decennien sind die ersten eingetroffen. Der erste, der sich meldete, nannte sich Puchta, aber nach ihm steigerte sich der Zugang in ganz erfreulicher Weise. Einige, die sich meldeten, mußten allerdings abgewiesen werden.«
Das interessiert mich. Erinnerst Du Dich noch ihrer Namen?
»Zwei kann ich Dir noch nennen, sie hießen Arndts und Wächter.«
Wächter? Das begreife ich, der Mann hatte für das höhere in der Jurisprudenz keinen Sinn, sein Geist bewegte sich stets in der niederen Region des Praktischen. Aber von Arndts hätte ich es nicht geglaubt, sein Pandektenkompendium war ja nur eine Überarbeitung von dem von Puchta.
»Er muß sich doch wohl etwas von ihm emanzipiert haben, man machte seinen Ansichten den Vorwurf, daß sie nicht theoretisch genug seien, daß er den Bedürfnissen des praktischen Lebens auf Kosten der reinen Theorie zuviel koncediert habe, kurz er bestand die Prüfung nicht.«
Da wird es mir bange um mich; in nicht wenigen Punkten habe ich es auf Erden mehr mit Arndts als mit Puchta gehalten.
Savigny ist doch da?
»Mit dem hat es seinerzeit große Schwierigkeiten gemacht. Er verstand das Konstruieren noch nicht recht und wäre beinahe durchgefallen, aber schließlich hat doch seine Schrift über den Besitz den Ausschlag gegeben, man war der Ansicht, daß er damit die Befähigung, welche jeder dartun muß, der hier Aufnahme finden will, ein Rechtsinstitut ohne Anschauung der realen praktischen Bedeutung desselben rein aus den Quellen oder dem Begriff heraus aufzubauen, genügend dargetan habe, S. Anm. 1 am Ende des Aufsatzes und im Hinblick darauf drückte man ein Auge zu. Auch seine Schrift vom Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft ward wegen der guten Intentionen und der vorteilhaften Wirkungen, welche sie auf die Zeitgenossen ausgeübt hat, zu seinen Gunsten mit in Anschlag gebracht. Man meinte, daß ohne sie die Anträge auf Beseitigung des römischen Rechts in Deutschland und auf Abfassung eines einheimischen Gesetzbuches schon viel früher Erfolg gehabt haben würden, als es der Fall gewesen ist.«
Habt Ihr hier denn ein Interesse an der Beibehaltung des römischen Rechts?
»Wie kannst Du nur eine solche Frage tun! Was soll aus uns werden, wenn dasselbe einmal aufgehört hat, – ich mag mir die Zeit gar nicht denken, dann wird es hier recht einsam werden.«
Rechnet Ihr denn bloß auf die Romanisten?
»Nicht schlechthin, aber vorzugsweise. Das römische Recht liefert uns die besten. Aber wir sind nicht exklusiv, wir nehmen auch Germanisten, Kriminalisten u. a., wenn sie sonst nur den Glauben an die Herrschaft der Begriffe mit den Romanisten teilen. Die meisten von ihnen sind Professoren, aber Du findest auch Mitglieder aus Eurem Reichstage und Euren Abgeordnetenhäusern hier, die sich gottlob durch Euren Bismarck in dem Glauben, daß die Welt durch abstrakte Principien regiert werden müsse, nicht haben irre machen lassen. Der unerschütterliche Glaube an die Herrschaft der Begriffe und abstrakter Principien ist allen, die Du hier antreffen wirst, gemeinsam. Dadurch sind sie gegen die Versuchung, sich um die praktischen Folgen derselben zu kümmern, vollständig gesichert; regelmäßig treffen dieselben auch nicht sie selber, sondern andere.«
»Melde Dich jetzt zur Aufnahme in die Quarantäne. Was noch von atmosphärischer Luft an Dir ist, wird dort verdunsten. Du erhältst dann den Einlaßzettel, womit Du Dich dort beim Tor zu melden hast.«
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Ich möchte um Einlaß bitten.
»Dein Zettel ist in Ordnung, Ordnungsnummer 119, Professor des römischen Rechts. Du kannst eintreten. Willst Du sofort Dein Examen bestehen oder willst Du Dir unseren Himmel erst einmal ansehen? Letzteres steht Dir frei.«
»Ich gebe Dir einen Geist mit, der Dich herumführen und Dir alles erklären soll; er war bei Lebzeiten ebenfalls Professor des römischen Rechts wie Du.«
Wie nennen Sie sich, wertester Herr Kollege?
»Ich habe, seitdem ich aus dem Vergessenheitsbrunnen trank, wie meine ganze Vergangenheit so auch meinen Namen vergessen. Wahrscheinlich bin ich auf Erden Professor gewesen und werde, wie es sich für einen solchen gehört, dicke Bücher geschrieben haben; sonst wäre ich wohl nicht hier. Ich vermute, daß letztere die Korrealobligation betroffen haben, denn beim Anblick derselben in der Begriffshalle überfällt mich jedesmal ein ganz eigentümliches Gefühl, ein sympathisches Rieseln, als ob zwischen uns früher einmal eine nähere Beziehung bestanden habe.«
Da könnten sehr viele dasselbe Gefühl empfinden, denn es gibt kaum einen Romanisten, der sich nicht über sie hat vernehmen lassen; es geht kein Jahr hin, daß nicht Bücher und Abhandlungen darüber erscheinen.
»Das verdient sie auch! Sie gehört zu den tiefsinnigsten juristischen Gebilden, die es in unserem Himmel gibt, für den Juristen enthält sie ein ebenso interessantes und unerschöpfliches Problem, wie für die Theologen die Dreieinigkeit, man kann sich in sie so gänzlich hineinversenken, daß man für nichts anderes mehr Sinn behält. Wer sie in unserem Himmel einmal von Angesicht zu Angesicht geschaut hat, der ist ihrem Zauber für immer erlegen und für alles andere verloren.«
Dann habe die Güte, mich nicht zu ihr zu führen, ich möchte mir meine Empfänglichkeit für andere Dinge nicht nehmen lassen.
Wohin geht unser Weg?
»Zunächst zur Palästra. Es ist der Turnplatz für die gymnastischen Übungen, in denen die seligen Geister, wenn sie vom Anschauen der Begriffe ermüdet sind, ihre Erholung suchen. Auf diesen Platz wirst Du später zurückgeführt werden, um hier Deine Prüfung zu bestehen.«
Seltsame Dinge, die ich hier wahrnehme! Was ist denn dies für eine wunderliche Maschine?
»Das ist die Haarspaltemaschine. Wenn Du Dein Examen zu machen hast, mußt Du auf ihr ein Haar in 999 999 ganz akkurat gleiche Teilchen zerlegen; wenn auch nur ein einziges auf der daneben befindlichen Wagschale, die durch einen Sonnenstrahl zum Sinken gebracht werden kann, sich als zu leicht erweist, so bist Du durchgefallen. Zuerst bekommst Du ein Haar, das Du noch mit bloßem Auge wahrzunehmen vermagst, dann immer feinere, die Du bei der noch nicht ausgebildeten Sehkraft Deines Auges nur mittelst einer Lupe wahrnehmen kannst. Späterhin hast Du letztere gar nicht mehr nötig; es ist unglaublich, wie das Auge sich ausbildet, und wie die Virtuosität im Haarspalten durch die Übung wächst, wir haben hier einige, welche den angegebenen Normalteil wiederum in 999 999 Teile zerlegen. Wer es am besten kann, erhält als Meisterpreis nach Art eines Lorbeerkranzes einen aus den selbstgespaltenen Haaren gewundenen Kranz, und er behält ihn so lange, bis ein anderer ihn überbietet. Das Haarspalten hat bei uns noch nie ein Ende gefunden.«
Was ist denn das da für eine lange Stange?
»Das ist die Kletterstange der schwierigen juristischen Probleme. Sie ist so glatt, daß ein Sonnenstrahl, wenn der hier möglich wäre, daran abgleiten würde. Dreimal darfst Du es versuchen, mißlingt es Dir, so bist Du durchgefallen. Du siehst, daß die Stange drei Mastkörbe hat. Auf den ersten mußt Du bei Deinem Examen hinauf, um irgend eins der dort befindlichen Probleme herunterzuholen und es dann wieder hinaufbringen. Die beiden übrigen Mastkörbe sind nur von denen zu erreichen, die im Klettern bereits eine große Fertigkeit erlangt haben. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß die Schwierigkeiten mit jeder Abteilung sich steigern. Auf den obersten Mastkorb ist nur ein einziger ein einziges Mal hinaufgekommen, und er hatte nachher die äußerste Mühe, das Problem wieder hinaufzubringen.«
Warum muß das denn geschehen?
»Welche unverständige Frage von Dir! Das ganze Vergnügen würde aufhören, wenn keine Probleme mehr da wären, die man herunterholen könnte. Unsere Probleme sind bloß dazu da, um zum Klettern anzufeuern, nicht um gelöst zu werden. Was sollten denn alle, die den Trieb zum Klettern in sich verspüren, beginnen, wenn keine Probleme mehr oben wären? Darum müssen dieselben immer wieder hinaufgebracht werden.«
Da verhält es sich ja mit Euren Problemen ebenso wie mit den drei Hasen, von denen mir an einem Ort, an dem ich früher Professor war, berichtet ward. Sie waren die einzigen auf dem ganzen Jagdgebiet der Gemarkung und waren den Jagdliebhabern individuell bekannt. Es war eine stillschweigende Übereinkunft unter den Jagdfreunden, zwar Jagd auf sie zu machen und auf sie zu schießen, aber sie nicht zu treffen, man wollte sich das Vergnügen der Jagd bewahren. Einer von ihnen traf einst den einen Hasen, – wie er fest versicherte: aus Versehen, und erregte dadurch die allgemeine Entrüstung; die Hasen, hieß es, seien hier nur dazu da, um gejagt, nicht aber um geschossen zu werden. Ganz dasselbe scheint mit Eueren Problemen der Fall zu sein.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, das Verständnis für unsern juristischen Himmel scheint Dir allmählich zu tagen.«
Erlaube mir noch eine Frage: sind die schwierigen juristischen Probleme, welche Ihr da oben aufgestellt habt, praktischer Art, haben sie Bedeutung für das Leben?
»Jetzt zeigst Du wieder einmal, daß Dir das Verständnis für unsern Himmel noch gänzlich abgeht. Praktischer Art? Den Namen praktisch darfst Du hier gar nicht nennen; wenn ein anderer als ich das Wort gehört hätte, so hätte dies Deine sofortige Ausschließung zur Folge gehabt. Bedeutung der Probleme für das Leben? Gibt es denn hier ein Leben? Hier herrscht nur die reine Wissenschaft, die Rechtslogik, und die Bedingung ihrer Herrschaft und all der Herrlichkeit, die sie aus sich entläßt, besteht gerade darin, daß sie mit dem Leben nicht das mindeste zu schaffen hat. Du wirst später, wenn wir die Begriffe in Augenschein nehmen, sehen, was aus ihnen wird, wenn sie sich dem Leben zu fügen haben. Es befindet sich dort neben der Begriffshalle, in der Du die reinen, d. h. lediglich sich selber lebenden und aller Beziehung zum Leben enthobenen Begriffe erschauen wirst, ein eigenes anatomisch-pathologisches Begriffskabinett, welches die Mißbildungen und Verrenkungen enthält, denen die Begriffe in der wirklichen Welt ausgesetzt gewesen sind. Es sind lauter Präparate. Solche Mißgeburten können, wenn sie auch auf Erden eine kümmerliche Existenz führen, doch in unserem Himmel nicht leben, denn hier lebt nur, was wissenschaftlich gesund d. i. begrifflich rein, logisch korrekt ist. Das Leben, an welches Du denkst, ist gleichbedeutend mit dem Tod der wahren Wissenschaft. Es ist die Knechtschaft der Wissenschaft, der Frondienst der Begriffe, die anstatt, wie sie es beanspruchen können, sich selber zu leben, in das erniedrigende Joch der Bedürfnisse des irdischen Lebens gespannt werden. Hier leben die Begriffe sich selber, und wenn Du Dir die Aussicht auf Aufnahme nicht gänzlich abschneiden willst, so richte an niemanden die Frage: wozu denn alles, was Du hier siehst, dienen solle. Dienen! Das fehlte noch, daß die Begriffe auch in unserm Himmel dienen sollten; – hier herrschen sie und entschädigen sich für die Dienstknechtschaft, welche sie auf Erden erdulden mußten.«
»Gehen wir weiter. Ich werde Dir einige unserer juristischen Maschinen zeigen. Ich kann sie Dir nicht alle erklären, sie sind auch nicht alle gleich interessant, und einige, wie z. B. hier den Fiktionsapparat, dessen hohen Wert für juristische Zwecke Du aus Erfahrung kennst, wirst Du auch ohne meine Beihilfe erkennen. Ich nehme nur die interessantesten heraus.«
»Dieses hier ist der Konstruktionsapparat. Es trifft sich gut, daß er sich gerade in Tätigkeit befindet. Wir wollen einmal sehen, was der Geist, der sich seiner bedient, vor hat.«
»Hehrer Geist, verstatte die Frage: womit beschäftigst Du Dich augenblicklich?«
»Ich konstruiere den Vertrag.«
Den Vertrag? Der ist ja ein ganz einfaches Ding; was läßt sich denn daran noch konstruieren?
»Eben weil er so einfach ist, recht viel! Du scheinst hier noch Neuling zu sein, sonst würdest Du dies wissen. Gerade an den einfachsten Dingen besitzt die Kunst des Konstruierens ihre interessantesten und dankbarsten Objekte. Das Einfache kann ein jeder begreifen, aber das Begreifen ist auch danach. Der Kenner weiß, daß die einfachsten juristischen Phänomene die größte Schwierigkeit in sich schließen, und in Bezug auf den Dir so einfach erscheinenden Vertrag weiß ich noch gar nicht einmal, ob es mir überhaupt gelingen wird ihn zu konstruieren; ich bin nahe daran, den Vertrag für eine logische Unmöglichkeit zu erklären.« Anm. 2.
Aber was soll ...
»Schweig, ich errate was Du sagen willst. Du meinst, wie man im Leben ohne den Vertrag auskommen soll. Das Wort Leben darfst Du, wie ich schon gesagt habe, hier nicht nennen, sonst bist Du verloren. Verbessere Deine Frage.«
Ich – ich – ich meinte: was soll erst aus solchen Aufgaben werden, wie die Konstruktion der Rechte an Rechten, der hereditas jacens, des Pfandrechtes an eigener Sache?
»Reine Bagatellen! Damit bin ich lange fertig. Je komplizierter das Verhältnis, desto leichter die Konstruktion; je einfacher, desto schwieriger. Das einzige, was außer dem Vertrage noch einen Reiz für mich hat, ist die Obligation und die direkte Stellvertretung.«
Darf ich fragen, zu welchem Resultate Du bei ihnen gekommen bist?
»Bei der Obligation zu dem, daß sie ein Recht an der Handlung des Schuldners ist.«
Aber das kann ich mir ja gar nicht denken. Solange die Handlung nicht vorgenommen ist, existiert sie noch gar nicht, folglich ist auch kein Recht an ihr möglich.
»Existieren? Da merkt man, daß Du nicht zu uns gehörst. Was wir uns denken, existiert. Die Handlung des Schuldners, die für Dein beschränktes Denken, das die Kategorie der Zeit noch nicht überwunden zu haben scheint, erst in der Zukunft existiert, existiert für mich, der diese Schranke des Denkens nicht kennt, bereits jetzt; ich denke sie mir, und sie ist da. Denken und Sein ist für uns eins.«
Auf diesem Wege allerdings. Und wie ist Deine Konstruktion der direkten Stellvertretung ausgefallen?
»Sie ist einfach unmöglich. Man kann sich nicht denken, daß die Handlung des A die des B sei, was doch nötig sein würde, damit die Wirkungen derselben letzterem zugute kämen. Sowenig der eine für den andern eine Medicin einnehmen kann, sowenig für ihn eine Handlung vornehmen, das eine ist eine physische, das andere eine logische Unmöglichkeit, – die Wirkung kann nur in der Person dessen eintreten, in dem die Ursache ihr vorausgegangen ist. Wenn das positive Recht bestimmt, daß aus einem im fremden Auftrage und auf fremden Namen abgeschlossenen Vertrage nur der Mandant, nicht der Mandatar berechtigt und verpflichtet werden soll, so ist das die reinste Willkür, ein Verstoß gegen alle Gesetze des juristischen Denkens, und die Römer haben daher das allein Richtige getroffen, indem sie die Wirkungen des Vertrages zunächst in der Person des Stellvertreters eintreten lassen und sie von ihr auf die des Vertretenen hinüberleiten.«
Aber beim Besitz- und Eigentumserwerb lassen sie dieselbe direkt eintreten.
»Schlimm genug! Das gehört der Periode des Verfalls des römisch-juristischen Denkens an.«
»Lasse Dich hier mit niemandem in Streit ein, Du stehst noch nicht auf der Höhe des begrifflichen Denkens.«
»Wir gehen weiter.«
»Was Du hier erblickst, ist die dialektisch-hydraulische Interpretationspresse. Mittelst ihrer bringt man aus jeder Stelle das heraus, was man nötig hat. Von den zwei Pumpen, die sich neben dem Hauptcylinder befinden, enthält die eine den dialektischen Infiltrationsapparat, den Injektor, wodurch Gedanken, Voraussetzungen, Beschränkungen, die dem Schreiber der Stelle gänzlich fremd waren, in sie hineingetrieben werden. Es ist eine Erfindung der Theologen, die Juristen haben sie bloß nachgemacht, und ihr Apparat ist mit dem der Theologen nicht von weitem zu vergleichen, er leistet kaum ein Zehntel von dem der letzteren, die dadurch ganze Systeme in ein einziges Wort hineintreiben; aber für die juristischen Zwecke reicht sie vollkommen aus. Die andere Pumpe ist der Eliminationsapparat, der Eliminator, wodurch unbequeme positive Äußerungen der Stellen beseitigt werden. Bei richtiger Handhabung der Maschine lassen sich die widersprechendsten Stellen vereinigen.«
Und jene Maschine ihr zur Seite?
»Sie ist die dialektische Bohrmaschine. Sie dient dazu, um schwierigen Fragen auf den Grund zu kommen. Sie enthält die mechanische Verwirklichung des Problems der wissenschaftlichen Gründlichkeit. Sie will übrigens mit großer Geschicklichkeit gehandhabt werden. Bei minder geschicktem Gebrauch bohrt sie so tief, daß der Bohrer auf der andern Seite wieder herauskommt, was uns seligen Geistern stets eine große Erheiterung gewährt. Zur Demütigung des Ungeschickten und zur Warnung der andern werden die mißlungenen Probestücke aufbewahrt und ausgestellt, – Du siehst sie hier vor Dir.«
Sie überraschen mich nicht, ich war schon gefaßt darauf, daß es in euerem Himmel an Verbohrtem nicht fehlen würde.
»Enthalte Dich gefälligst aller boshaften Anspielungen. Um Dir übrigens fortan keine Gelegenheit mehr dazu zu geben, werde ich Dir die übrigen Maschinen und Apparate gar nicht zeigen. Wir gehen sofort zum letzten, das Du auf der Palästra in Augenschein zu nehmen hast, es ist die Schwindelwand, sie schließt den Platz ab.«
Sie steigt ja zu immenser Höhe hinauf; mein Auge erreicht ihr Ende kaum.
»Strenge Deine Augen einmal recht an. Siehst Du nicht dort oben auf der Mauer sich etwas bewegen?«
In der Tat! Es scheint einer von Eueren Geistern zu sein. Was macht er dort?
»Er übt sich gegen die Anfechtungen des Schwindels. Die Wand erhebt sich in Absätzen. Auf dem niedrigsten ist der Pfad, der sich an ihr hinzieht, noch so breit, wie der Fuß von uns Geistern, bei den folgenden wird er immer schmaler und spitzt sich schließlich bis zur Schärfe eines Rasiermessers zu. Es ist der Pfad der dialektischen Deduktion, auf dem die Vernunft bei dem geringsten Fehltritt Gefahr läuft in den Abgrund des Unsinns zu fallen. Von den höheren Stufen fallen viele hinunter. Blicke hinauf, Du hast gerade das Beispiel vor Dir: der Mann fällt.«
Schrecklich! Von dieser Höhe! Und noch dazu ist er auf den Kopf gefallen. Wie schwer muß er sich beschädigt haben.
»Das macht ihm nicht viel, Du siehst, er steht sofort wieder auf, um das Experiment von neuem zu versuchen. Unsere Köpfe sind danach eingerichtet, daß sie einen Stoß vertragen können. Auch Du mußt bei Deinem Examen auf die Schwindelwand hinauf, aber nur auf den niedersten Absatz.«
Mir wird nach alledem, was Du mir bisher über die Probestücke, die ich bei meinem Examen zu bestehen habe, berichtet hast, so bange, daß ich daran verzweifle, es bestehen zu können; ich werde mich am Ende gar nicht dazu melden.
»Das ist Deine Sache. Ich führe Dich jetzt zu der rechtshistorischen Akademie.«
Eine eigene Akademie für Rechtsgeschichte?
»Nicht für die Rechtsgeschichte überhaupt, sondern nur für die römische, und auch für sie nicht schlechthin, sondern nur für einen Zweig derselben, der aber an wissenschaftlichem Wert und Interesse alle andern weit überragt.«
Die Urgeschichte?
»Nein! Ihr erkennen wir hier nur die zweite Stelle zu, die erste nimmt die Restitution römischer Formeln und Texte ein. Sie gilt für den schwierigsten und wertvollsten Teil der Beschäftigung mit der römischen Rechtsgeschichte; wer sich auf sie nicht versteht, wird nicht in die Akademie aufgenommen.«
Da habt ihr wohl nicht viele Akademiker?
»O, doch! An die Texte wagen sich allerdings nicht so viele, den meisten fehlt der Mut oder die philologische Kenntnis dazu, aber an solchen, die sich an der Restitution römischer Formeln versuchen, haben wir gottlob keinen Mangel. Danach zerfällt die Akademie in zwei Klassen: in die für Text- und in die für Formeln-Restitution, jene ist die höhere, diese die niedere. Nur die Mitglieder der ersten Klasse rechnen sich für voll und nennen sich, wenn sie unter sich sind, die »Ganzen«, während sie die der zweiten bloß als die »Halben« bezeichnen, was diesen nicht unbekannt und höchst empfindlich ist. Sie halten sich ihrerseits wieder dadurch schadlos, daß sie auf diejenigen Rechtshistoriker herabsehen, die es nicht einmal bis zur Restitution römischer Formeln bringen.«
Darf ich das Innere der Akademie betreten?
»Gewiß! Nur darfst Du dort, da Du selber nicht Akademiker bist, niemanden der Anwesenden anreden; wenn Du etwas wissen willst, richte die Frage an mich.«
»Ich führe Dich nur in die erste Abteilung; die zweite ist ohne erhebliches Interesse.«
Was ist denn dies für eine Tafel, die hier ausgehängt ist?
»Es ist die Versuchstafel für Restitutionen. An dieselbe werden lückenhafte Texte römischer Gesetzestafeln geschrieben, welche zu restituieren sind. Jeden Monat kommt der Abwechslung wegen ein neuer daran. Zu Versuchen der Restitution römischer Schrifttexte liegen dort verschiedene verstümmelte Codices; auf manchen Blättern sind nur einige Buchstaben zu erkennen, auf einigen selbst die nicht einmal. Sehen wir zu, was augenblicklich an der Tafel steht.«
U | N | · | · | · | · | · | · | · | · | · | · |
· | · | · | · | · | · | · | · | F | R | U | C |
· | · | · | · | · | · | · | · | H | T | B | · |
A | R | E | · | · | · | · | · | · | · | · | · |
S | P | · | · | · | · | · | · | · | · | · | I |
E | L | E | · | · | · | · | · | · | · | · | · |
R | E | · | · | · | · | · | · | · | · | · | · |
I | · | · | · | · | · | · | · | E | N. | · | · |
»Würdest Du Dir getrauen, dieses Bruchstück zu ergänzen?«
Ich habe mich an Restitutionen nie versucht und schrecke auch hier zurück. Höchstens würde ich die Buchstaben S P, bei denen Q R ausgefallen sein werden, als Senatus Populus ( que Romanus) deuten.
»Das haben auch sämtliche Akademiker angenommen, es ist der einzige Punkt, in dem sie übereinstimmen, im übrigen gehen ihre Textrestitutionen gänzlich auseinander. Bis jetzt hat noch keiner von ihnen das Richtige getroffen, weder bei dieser noch bei einer früheren Aufgabe. Wer es trifft, wird Präsident der Akademie und bleibt es so lange, bis ein anderer ihn auf demselben Wege aus dem Sattel hebt, – bis jetzt ist der Posten noch nie besetzt gewesen.«
Das muß ja aber sehr entmutigend sein, ich würde von ferneren Versuchen gänzlich abstehen.
»Das verstehst Du nicht. Jeder von ihnen ist der festen Überzeugung, daß er das Richtige getroffen hat, und in diesem Glauben findet er seine Befriedigung. Für denjenigen, der den Reiz dieser wissenschaftlichen Beschäftigung einmal gekostet hat, gibt es keinen höheren Genuß als sie, denn sie verschafft ihm das Gefühl, ein verlorenes Stück des Altertums wieder ans Tageslicht gebracht zu haben, ein Schliemann auf dem Gebiet der römischen Rechtsquellen zu sein. Quellen lesen kann ein jeder, aber Quellen machen – das ist die Kunst. Da liegen allerhand Worte der alten Zeit wie Schutt und Moder bei Festus und Varro durcheinander – wertloses Gerümpel für denjenigen, der sie nicht zu würdigen versteht. Aber da kommt der richtige Mann, und mit Hilfe dieser Worte liefert er uns einen neuen Satz der 12 Tafeln. Auch Gajus – doch da treffe ich den Akademiker, der ihn seit längerer Zeit in Behandlung genommen hat, gerade in Arbeit. Hören wir, was er augenblicklich macht.«
»Hehrer Geist, womit beschäftigst Du Dich augenblicklich am Gajus?«
»Ich bin mit der Ergänzung der Lücken bei Gajus soeben fertig geworden und verbessere jetzt den Text. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß Gajus mehrfach grobe Flüchtigkeitsfehler begangen hat, so z. B. bei der Wiedergabe der römischen Testamentsformel (II, 104), wo er das ex jure Quiritium meam esse ajo weggelassen hat; das habe ich soeben in den Text gesetzt.« Huschke, Jur. Ant. a. a. O.
Mir scheint ...
»Enthalte Dich jeder Bemerkungen ihm gegenüber, Du müßtest sonst den Saal wegen ungehörigen Betragens sofort verlassen. Sprich mir leise ins Ohr. Was also scheint Dir?«
Mir scheint das zu passen, wie die Faust auf das Auge. Der familiae emtor, der die Formel spricht, will ja gerade betonen, daß er nicht Eigentümer, sondern, um mich eines Ausdrucks des germanischen Rechts zu bedienen, nur Treuhänder, Salmann werden, die Erbschaft nur in seine Obhut und Verwaltung nehmen will ( familia pecuniaque tua endo mandatela(m) custodela(m) que mea(m) ... est emta). Das ex jure Quiritium meam esse ajo, würde gerade das Gegenteil involvieren. Wäre der familiae emtor dominus ex jure Quiritium geworden, so hätte er alle Erbschaftssachen verkaufen können, und die Erben und Legatare hätten das Nachsehen gehabt, eben darum bekommt er an der Erbschaft lediglich die mandatela custodelaque.
»Ist auch meine Ansicht. Aber an solchen Bedenken stößt er sich nicht. Das » ex jure Quiritium meum esse« klingt ihm voller in die Ohren, als das bloße »meum esse«, und wo der Zusatz fehlt, fügt er ihn hinzu.« Anm. 3.
Jetzt legt er ja den Gajus zur Seite; was nimmt er denn jetzt vor?
»Den Paulus. Er verbessert die von letzterem ( S. R. III 4a, 7) überlieferte Formel der interdictio bonorum, indem er aus dem ea re des Schlußpassus: ob eam rem tibi ea re commercioque interdico. – lare macht.« Huschke, Jur. Ant. a. a. O.
Was denkt er sich dabei?
»Wahrscheinlich soll lar den Hausgottesdienst bedeuten, was die Römer wohl nicht weniger überrascht haben würde, als es Dich zu überraschen scheint. Demzufolge würde dem Verschwender nicht bloß die Vermögensverwaltung entzogen, sondern auch die Teilnahme am Hausgottesdienst untersagt.«
Durch den Prätor? Der hatte ja in Rom mit den Religionsangelegenheiten nichts zu schaffen, diese gehörten bekanntlich zur Kompetenz der Pontifices, und ich habe nie vernommen, daß der Prätor in ihren Kompetenzkreis übergegriffen hat. Man lernt doch in Eurem Himmel Dinge, von denen man auf Erden gar keine Ahnung hatte, – der Prätor als Inhaber der oberkirchlichen Gewalt! Aber warum nicht? Kommt es doch bei uns vor, daß der Präsident eines Oberlandesgerichts oder der Regierung zum Präsidenten des Oberkonsistoriums ernannt wird.
»An solche Kleinigkeiten stoßen wir uns hier nicht; im Himmel hören die Kompetenzfragen, die den Behörden auf Erden so viel zu schaffen machen, auf.«
Mag sein! Aber die römischen Juristen sprechen bloß von bonis interdicere. So gut, wie sie aqua et igni interdicere sagen, hätten sie auch lare bonisque sagen können und müssen.
»Du weißt schon aus der obigen Stelle von Gajus her, daß im Sprachlichen wenig Verlaß auf sie ist.«
In der Tat! Aber diese Ungenauigkeit setzt ihren religiösen Sinn in ein recht schlechtes Licht. Es ist ihnen nur ums Geld zu tun, der lar ist ihnen gar nicht der Rede wert. Erst wenn der Verschwender vor den Prätor kommt, merkt er, daß es sich nicht bloß um die interdictio bonorum handelt, von der er die Juristen allein hat reden hören, sondern daß auch der lar ein Wörtchen mit zu sprechen hat.
»Er hätte sich vorher genauer erkundigen sollen.«
Alles gut! Aber wenn ich auch die Bedenken preisgebe, welche ich dem Prätor und den römischen Juristen entnommen habe, so will mir doch der Zusammenhang der religiösen Exkommunikation mit der Verschwendung und der Entmündigung nicht in den Sinn; man könnte ebensogut heutzutage einem Verschwender oder Bankerotteur das Betreten der Kirche verbieten. Welches Interesse hatten denn die Kinder, welche die Formel als diejenigen nennt, in deren Interesse die Maßregel angeordnet ward, Quando tibi (?) bona paterna avitaque nequitia tua disperdis liberosque tuas ad egestatem perducis. daran, daß der Vater nicht mehr am häuslichen Gottesdienst teilnahm? Man sollte meinen: eher das gerade Entgegengesetzte, denn die Teilnahme am häuslichen Gottesdienst bewirkte vielleicht, daß er in sich ging und sich besserte. Und wenn der Verschwender unwürdig war beim Hausgottesdienst zu erscheinen, wie erst wird dies von Dieben, Räubern, Mördern, Ehebrechern, Meineidigen gegolten haben! Ich habe nirgends gelesen, daß auch ihnen der » lar« interdiziert worden ist.
Auch das ist mir unklar, wer an Stelle des von seinem häuslichen Priesteramt entsetzten Verschwenders fortan den Gottesdienst besorgte. Der Kurator? der hatte damit nichts zu schaffen. Die Haussöhne? Sie waren als solche unfähig, das Priesteramt des Hausvaters zu bekleiden. Die Hausfrau? Sie konnte es nur neben dem Manne. So hätte der Hausgottesdienst im Hause des Verschwenders sistiert werden müssen, – eine Folge, mit der manche in der Zeit des religiösen Verfalls, in der man die sacra als Last empfand und sich von ihnen loszumachen suchte, allerdings schon zufrieden gewesen wären, welche aber die Pontifices nicht geduldet haben werden.
Ich bin mit meinen Bedenken noch nicht am Ende. Mittelst des » ea re« der Formel, wie es übereinstimmend in allen Handschriften zu lesen ist, untersagt der Prätor lediglich die Veräußerung der in dem Vordersatz der Stelle genannten » bona paterna avitaque«, dem Verschwender wird die Verfügung über das selbsterworbene Vermögen belassen. Der Sinn der interdictio bonorum war ursprünglich lediglich der, das Erbgut in der Familie zu erhalten, und zwar Erbgut im engsten Sinn, nämlich dasjenige, welches dem Verschwender durch Intestaterbfolge von seinen Ascendenten zugefallen war Ulp. XII, 5 ... lege curator dari non poterat, cum ingenuus quidem non ab intestato, sed ex testamento factus sit. Betonung des Erbguts bei Valer. Max. III, 5, 2: pecuniam, quae Fabiae gentis splendori servire debebat, und in der obigen Stelle von Paulus.), – was er nicht dem Gesetz, sondern einem Erwerbsakt seinerseits verdankte, wozu auch die Antretung einer Erbschaft gehörte, darüber konnte er ungehindert schalten und walten. Aber der Lar macht ihm einen Strich durch die Rechnung! Mittelst des » lare« wird das » ea re«, wodurch der Prätor die Entziehung des commercium auf die bona paterna avitaque beschränkt, beseitigt und der Maßregel eine Ausdehnung auf alles und jedes gegeben, was der Verschwender hat und erwirbt. Der Mann muß die Veränderung des e mit l durch jenen Gelehrten teuer bezahlen!
Aber der Fall bleibt immer höchst interessant, man entnimmt daraus, was man mit der Veränderung eines einzigen Buchstabens ausrichten oder anrichten kann, er erinnert mich an den Setzer, der durch Verwechslung von i und t in einem Gedicht den »berauschenden Duft von Mairosen« in den von » Matrosen« verwandelte. Eine andere Moral, die ich mir daraus entnehme, ist, daß es leichter ist, einen Buchstaben in den andern zu verwandeln, als sich die Tragweite der Veränderung klar zu machen.
Ich habe übrigens nunmehr vollkommen genug von Eurer Akademie, und ich verstehe jetzt auch, warum sie in der Nähe der Schwindelwand errichtet ist. Was gibt es jetzt noch zu sehen?
»Das Höchste und Beste, das ich bis zuletzt aufgespart habe. Du siehst es dort in jenem Prachtbau vor Dir. Die hohe Kuppel in der Mitte desselben wölbt sich über unserm höchsten Heiligtum, es ist die Halle der Begriffe. Neben derselben befinden sich in dem einen Flügel das Cerebrarium, in dem andern das anatomisch-pathologische Begriffskabinett. Wir verfügen uns zunächst in jenes.«
Wo ist denn der Eingang? Ich finde nirgends eine Tür.
»Türen kennen wir hier nicht, wir sind gewohnt mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, dann gibt sie nach und läßt uns durch. Hättest Du auf Erden den Mut der vollen principiellen Konsequenz gehabt, die in dem Bewußtsein der Richtigkeit des einmal eingeschlagenen Weges unverrückt oder, wie Ihr Euch jetzt auszudrücken pflegt, unentwegt geradeaus geht, ohne links und rechts zu schauen, ohne sich darum zu kümmern, ob der Weg in Sümpfe und zu Abgründen führt, oder minder bildlich gesprochen, ohne sich an die praktischen Folgen zu kehren, – hättest Du auf Erden diesen Mut gehabt, so würde es Dir auch hier ein Leichtes sein, mit dem Kopf gegen diese Mauer zu rennen und Dir den Eingang zu erzwingen. An Deiner Statt will ich es tun; folge mir.«
»Wir sind im Cerebrarium.«
Was ist denn das?
»Es ist unser spiritisches Laboratorium. Hier wird die Gehirnsubstanz für die Theoretiker hergestellt.«
Bedarf es denn für sie eines besonderen Gehirns?
»Das solltest Du, der das seinige sein Leben lang mit sich herumgetragen hat, doch wissen; hast Du denn nie gemerkt, daß dasselbe anders organisiert ist, als das eines gewöhnlichen Praktikers?«
Ich habe so etwas gefühlt, aber klar geworden ist es mir nicht.
»Du findest hier Gelegenheit Dich nachträglich darüber zu belehren. Hier sind zum Zweck der Vergleichung zwei künstlich in Wachs genau nachgebildete Gehirne aufgestellt, das eine von einem Theoretiker, das andere von einem Praktiker. Nimmst Du nicht einen Unterschied wahr?«
Gewiß! In dem ersteren befindet sich in der substantia medullaris eine eigentümliche Erhöhung.
»Das ist der mons idealis. Er bildet das unterscheidende Merkmal des juristischen Theoretikers vom Praktiker. Die Substanz, aus der er sich in dem zum Theoretiker berufenen Juristen nach und nach entwickelt, wird hier angefertigt. In der atmosphärischen Luft verflüchtigt sie sich, und darauf beruht die Möglichkeit, sie der Frau, welche begnadet ist, einen Theoretiker in die Welt zu setzen, beizubringen; sie atmet dieselbe bei der Konzeption ein, ohne es in dem Moment zu merken; hinterher empfindet sie an der Unruhe des Fötus schon, daß es etwas Besonderes ist, – der künftige Theoretiker kündigt sich schon im Mutterleibe dadurch an, daß er es nicht abwarten kann, bis er von sich reden macht.«
Worin besteht die Funktion des mons idealis?
»Er verschafft dem Theoretiker die Gabe des idealen Denkens, welches Du nicht mit dem abstrakten Denken verwechseln darfst. Letzteres ist jedem nötig, dem praktischen Juristen in erster Linie, und sein Beruf sorgt dafür, daß es in ihm, auch wenn die Natur ihn in dieser Beziehung nicht sonderlich ausgestattet hat, so weit ausgebildet wird, als für seine Berufsarbeit erforderlich ist. Aber das ideale Denken bildet den eigentümlichen Vorzug des juristischen Theoretikers, es beruht auf der Fähigkeit sich bei dem Denken juristischer Dinge von den Voraussetzungen ihrer praktischen Verwirklichung frei zu machen. Die Frage der Anwendung und des Beweises kommt für ihn gar nicht in Betracht, – was er sich denkt, existiert. Damit ist er aller Schwierigkeiten überhoben, welche dem Praktiker so viele Mühe machen, der Frage, woran die von ihm aufgestellten feinen Unterschiede in concreto zu erkennen sind, wie die in abstracto mögliche Differenzierung des Willens im einzelnen Fall sich nachweisen lasse, – sein Reich bildet ausschließlich das Abstrakte, das Konkrete überläßt er dem Praktiker, mag er sehen, wie er damit fertig wird. Dadurch ist für ihn der Gegensatz zwischen dem Denken und der Wirklichkeit, welcher allen andern Sterblichen so viel zu schaffen macht, beseitigt, er befindet sich auf der Höhe des philosophischen Idealismus, für den die reale Welt bloßer Schein, bloße Vorstellung des Subjekts ist. Dem Satz des Cartesius: cogito ergo sum, setzt er den unendlich viel inhaltreicheren entgegen: cogito ergo est. Ausgerüstet mit dieser schöpferischen, das Sein setzenden und damit ersetzenden Macht des Denkens kennt er auf dem Gebiete des Rechts kein Hindernis, das seinen Gedankenkombinationen Halt zuruft. Dem Adler gleich, der sich in die Wolken erhebt, schwingt er sich in die Regionen des idealen Denkens und badet sich hier in dem reinen Gedankenäter, unbekümmert um die reale Welt, die tief unter ihm liegt und seinen Blicken entrückt ist.«
Ich danke Dir für die Belehrung. Nahezu habe ich mir die Sache so vorgestellt, ich habe mir stets die Jurisprudenz als die Mathematik des Rechts gedacht. Der Jurist rechnet mit seinen Begriffen, wie der Mathematiker mit seinen Größen; wenn nur das Facit logisch korrekt ist, so hat er sich um nichts weiter zu bekümmern.
»Das sollte er, wenn er sich dieses Namens würdig erweisen will; aber der Praktiker ist schwach genug, sich durch den Blick auf die praktischen Folgen in dem konsequenten logischen Denken irre machen zu lassen. Freilich ist es ihm nicht zur Schuld anzurechnen, seinem Gehirn fehlt der mons idealis.«
Wie wird denn die Substanz für letzteren hergestellt?
»Das kannst Du zur Zeit noch nicht begreifen, die Procedur ist eine sehr komplizierte. Übrigens ist die Substanz, die für ihn erforderlich ist, nicht die einzige, die hier bereitet wird; außerdem wird noch die für die rechtshistorische Intuition hier hergestellt; sie beruht auf dem richtigen Zusatz der Phantasie zu der allgemeinen theoretischen Gehirnsubstanz.«
Bedarf denn bloß der Rechtshistoriker der Phantasie? Ich erinnere mich in einer Schrift von Thomasius gelesen zu haben, daß kein Jurist, auch der praktische nicht, ohne eine gehörige Dosis von Phantasie auskommen könne; sie sei, sagt er, nötig, »um sich die sonderbaren casus juris fürzustellen«.
»Das ist die ganz gewöhnliche, die phantasia communis seu vulgaris. Aber sie reicht für den Rechtshistoriker nicht aus. Er hat seine ganz besondere nötig, und die wird hier bereitet. Ihre Herstellung beruht auf dem richtigen Zusatz der dichterischen Phantasie, der phantasia poetica seu eximia, zur juristisch-theoretischen Gehirnsubstanz. Wenn das richtige Verhältnis um etwas überschritten ist, so hat der künftige Träger des Gehirns nicht wenig darunter zu leiden. Die dichterische Phantasie, die an den rein rechtshistorischen Problemen kein Genüge findet, nicht durch sie absorbiert, gebunden wird, gärt und tobt und rumort in ihm, und Dichter und Jurist geraten sich in die Haare. Dabei kommt denn alles darauf an, wer von beiden den andern unterkriegt. Erweist sich der Dichter als der Stärkere, so findet die dichterische Substanz in einer Weise Auslaß, die der Jurisprudenz nicht weiter gefährlich wird; der Mann macht Gedichte, Dramen, Novellen, Romane, wie dies auch bei Gelehrten anderer Fächer, welche in derselben Weise ausgestattet sind, vorkommt. Schlimm aber ist es, wenn der Jurist die Oberhand behält; dann kommt der ganze Überschuß der dichterischen Phantasie, da er sich doch irgendwo Auslaß verschaffen und sich ablagern muß, auf dem Gebiet der juristischen Literatur zum Vorschein. Es ist das schwache Rinnsal, das nicht mächtig genug, wie der volle Strom sich ein eigenes Bett zu bahnen, in der flachen Ebene, in kein festes Ufer eingeschlossen, sich hierhin und dorthin ergießt, Lachen, Tümpel, Sümpfe bildend, – die Inundation der Jurisprudenz durch halbe Poesie. Die ganze ist ihr nicht gefährlich, denn die gerät nicht in Versuchung sich an juristischen Stoffen zu vergreifen. Aber die halbe – mit der hat es etwas auf sich! Unvermögend sich zur reinen dichterischen Gestaltung zu erheben, benutzt sie die Jurisprudenz dazu, sich Erleichterung zu verschaffen. Und sie ist in der Wahl des Platzes, wo sie ihre Ergüsse abladet, nicht wählerisch. Nichts, auch die trockensten juristischen Dinge nicht, sind sicher davor, daß sie bei ihrem Anblick nicht in Verzückung gerate und Himmel und Erde in Bewegung versetze, um sie mit dichterischem Glanze zu verklären. Was kann nüchterner sein als die Fiktion? Und doch hat ein neuerer Schriftsteller es fertig gebracht, den Olymp und den olympischen Zeus, Orkane und Vulkane, Blitz und Wetter, den Lenz und die schwirrenden Bienen herauf zu beschwören, um ihr Wesen ins richtige Licht zu setzen, – die Fiktion in bengalischer Beleuchtung. Anm. 4.
Als die ersten von diesen Leuten zu uns kamen, verwies man sie in den Himmel der Dichter, aber dort wurden sie mit Protest zurückgeschickt. Sie hätten, hieß es, von den Dichtern nur den äußeren Aufputz, die Phrasen entlehnt; der wahre Dichter empfinde gegen alles Phrasentum und alles Gespreizte in der Sprache ein inneres Widerstreben, er wisse, daß die Form dem Inhalt entsprechen müsse, und würde nie in Gefahr kommen, juristische Begriffe mit dichterischen Fetzen zu behängen. So kamen sie denn zu uns zurück, und wir dulden sie, aber die meisten gehen ihnen aus dem Wege. Gewöhnlich sitzen sie in sich gekehrt und dumpf brütend im Winkel, bis irgend etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann springen sie auf, schlagen um sich und geraten in einen Zustand der Ekstase, der alle, welche von ihnen nichts weiter wissen, in große Angst versetzen könnte. Aber es sind ganz harmlose Leute, die niemandem etwas zuleide tun, und die, wenn der Anfall vorüber ist, ganz vernünftige Reden führen und nicht selten weiter blicken als andere, die über sie lachen. Sie haben vor letzteren, welche nur mit dem Verstande operieren, die Phantasie und die Beweglichkeit des Geistes voraus; hätten sie nur die Kraft, ihren Geist im Zaum zu halten, sie würden es mit den anderen reichlich aufnehmen können. Aber daran fehlt es ihnen eben.
Wir verfügen uns jetzt in die Rotunde: die Begriffshalle. Da Du noch nicht aufgenommen bist und darum noch nicht das Recht hast, die Halle zu betreten, so führe ich Dich auf die Galerie, von dort magst Du Dir die Sache ansehen.«
— — — — — — — — — —
Welches Getümmel, das ich da vor mir sehe! Es erinnert mich an die Hamburger Börse. Nur die Gestalten, die sich hier bewegen, sind gänzlich anderer Art, als man sie dort zu sehen pflegt. Welche majestätische, imposante Erscheinungen! Und welche Verschiedenheit des Gesichtsausdrucks, – lauter scharf umrissene Typen! Wie sehr tritt doch der menschliche Gesichtsausdruck gegen den der Begriffe zurück.
»Das sollte Dich doch nicht verwundern! Das Gesicht ist der Ausdruck des Innern. Wie viel aber bewegt sich ein ganzes langes Leben im Innern des Menschen, wie verschiedenartig sind die Gefühle und Empfindungen, von denen er heimgesucht wird, und an wie unendlich vielen Gegenständen versucht sich das menschliche Denken. Aber das Denken der Begriffe beschränkt sich einzig und allein auf sie selber, sie haben vom Beginn der Welt an bis auf den heutigen Tag nichts weiter zu tun gehabt als sich selber zu denken. Die einzige Versuchung in Affekt und Leidenschaft zu geraten, der sie ausgesetzt sind, besteht darin, wenn sie über die Grenzen ihrer Herrschaftsgebiete untereinander uneins werden, dann können sie allerdings recht lebhaft und selbst unangenehm werden. Bei dieser abgesehen von solchen vorübergehenden Affektsanfällen stets ungetrübten und gänzlich auf sich selber gerichteten Intensität ihres Denkens ist es kein Wunder, daß ihr Wesen in ihrem Gesichtsausdruck und selbst in ihrer äußeren Haltung in unverkennbarer Weise zum Ausdruck gelangt. Es wird Dir sicherlich nicht schwer fallen, die meisten von ihnen sofort zu erkennen. Wofür hältst Du z. B. diese drei Begriffe, die dort zusammenstehen?«
Das verschlagene Gesicht des einen charakterisiert ihn unverkennbar als den dolus, man sieht ihm die Tücke an, die er im Herzen birgt. Der andere mit dem äußerst einfältigen Gesicht kann nur die culpa lata sein; es ist die vollendete Gedankenlosigkeit. Den dritten kann ich nach der Sorglosigkeit seines Gesichtsausdrucks und seinem schlenkernden Gang nur für die culpa levis halten.
»Richtig! Du könntest es auch daraus entnehmen, daß er in diesem Moment den Begriff, der dort in der Ecke liegt und seine Beine ausgestreckt hält, auf die Füße tritt.«
Was ist denn das für einer? Er scheint ja zu schlafen.
»Es ist die mora. Sie liegt gewöhnlich träg hingestreckt in der Ecke. Wenn nicht die Interpellation sie mitunter einmal aufschreckte, so würde sie sich gar nicht rühren.«
»Den Begriff, der jetzt zum dolus herantritt, wirst Du sicherlich erkennen.«
Das muß die bona fides sein. Der unverkennbare Ausdruck der Offenheit, Ehrlichkeit, Wahrheit in ihren Mienen verkündet sie als solche.
»Sie war allerdings leicht zu erkennen. Auch der Begriff, der gerade in der Mitte des Saals steht, wird Dir keine Schwierigkeit machen.«
Es kann nur das Eigentum sein. Es entspricht dem Bilde, das ich mir von ihm gemacht habe: vierschrötig, derb, mit robusten Gliedern, wohlgenährt und den Ausdruck des Satten und Behaglichen im Gesicht. Man sieht es ihm an, daß es sich durch nichts anfechten läßt, sich vollkommen sicher fühlt, ganz im grellen Gegensatz zu dem andern Begriff, der da neben ihm steht, und der im äußersten Maße den Ausdruck des Ängstlichen, Sorgenvollen in seinen Zügen trägt.
»Es ist die obligatio, die sich stets Sorgen macht, ob sie auch zu ihrem Recht kommt. Die einzigen, die es verstehen, sie auf andere Gedanken zu bringen, sind die Bürgschaft und das Pfandrecht; in ihrer Gesellschaft fühlt sie sich stets gut aufgelegt.«
Da finde ich ja auch einige ganz griesgrämige Gesellen, die schmollend im Winkel stehn.
»Die ärgern sich darüber, daß sie so wenig Beachtung finden. Die beiden, die dort zusammenstehen, sind die capitis deminutio und die Infamie. Einst hatten sie es besser, aber ihre Zeit ist vorüber. An dem Zittern ihrer Hände und ihrem ganzen Habitus merkst Du, daß sie völlig gebrechlich und altersschwach sind, und sie haben selber wohl schon die Aussicht aufgegeben, je wieder zu Ehren zu kommen. Vorübergehend schöpften sie neue Hoffnung. Einer der neueren Juristen von Vangerow, Lehrbuch des Pandektenrechts I, § 34, § 46-51. hatte ihnen in seinem Lehrbuch und in seinen Vorlesungen über das heutige römische Recht einen Platz eingeräumt und ihnen die liebevollste Behandlung zuteil werden lassen. Du hättest sehen sollen, wie zuversichtlich sie da wieder wurden, und welchen Empfang sie dem Manne bereiteten, als er hier eintraf. Aber hier gab man darauf nichts, man betrachtet sie als abgetane Größen. Eigentlich gehörten sie auf unseren rechtshistorischen Kirchhof, aber aus Pietät duldet man sie noch.«
Also einen Kirchhof habt Ihr auch?
»Gewiß! Ich habe ihn Dir nicht gezeigt, weil er zur Zeit noch völlig leer ist. Wir scheuen uns die Begriffe zu begraben, auch wenn alles Leben und alle Kraft aus ihnen gewichen ist, man verstattet ihnen hier wie quieszierten Beamten mit Rücksicht auf ihre Vergangenheit ein otium cum dignitate. Die habitatio und die operae animalium, die dort ebenfalls im Schmollwinkel stehen, sollten eines Tages bestattet werden, und es war schon alles zu ihrem Leichenbegängnis vorbereitet, allein es war auch bei ihnen nicht durchzusetzen, sie befinden sich bis auf den heutigen Tag noch hier unter den Begriffen des heutigen Rechts.«
Da finde ich noch drei Begriffe, die sich ebenfalls von der Menge zurückgezogen haben und verdrossen und gelangweilt im Winkel stehen; sie scheinen aber noch ganz lebenskräftig und rüstig zu sein.
»Gewiß! es sind die superficies, die emphyteusis und der usus, sie ärgern sich darüber, daß sie so wenig Ansprache finden, und neiden den übrigen jura in re ihren lebhaften Verkehr, insbesondere den Prädialservituten und dem Pfandrecht, – es sind die reinen Neidhammel und noch dazu höchst einsilbige Gesellen, mit denen man am besten die Unterhaltung vermeidet. Ich selber weiß davon zu erzählen. Neulich hatte ich einen Streit mit dem usus über die höchst wichtige Frage, welche Wirkung die ademtio fructus auf das legatum ususfructus ausübe. Er behauptete, daß sie ihm nichts anhaben könne, und erwies sich allen meinen Gegengründen und Vorstellungen so unzugänglich, daß ich die Unterhaltung mit dem festen Entschluß abbrach, mich nie wieder mit ihm einzulassen.«
Ich bemerke unter den Begriffen einen erheblichen Unterschied in Bezug auf die Größe; ist das Zufall oder hat es einen Grund?
»Bei uns ist nichts Zufall! Du hättest Dir die Frage selber beantworten können: die Größe der Begriffe richtet sich nach ihrer Bedeutung. Durch dies Kennzeichen heben sich z. B. die generellen Begriffe von den speciellen ab. Du hast hier unmittelbar unter Dir das Beispiel vor Augen: da unterhält sich augenblicklich der Vertrag mit dem Darlehn und dem Commodat. Häufig ist diese Unterhaltung der generellen mit den speciellen nicht, ihre Beziehungen sind geregelt und geben kaum zu Streitigkeiten Anlaß. Auch die der speciellen unter sich bieten nur selten den Stoff zu einer Differenz; nur das precarium und commodatum sind bis auf den heutigen Tag über ihre Erkennungsmerkmale nicht einig geworden. Um so mehr aber haben die generellen Begriffe miteinander zu schaffen. Manche ihrer Zwistigkeiten datieren erst aus jüngster Zeit; sie sind durch einige neu eingetroffene Theoretiker angezettelt worden. Da siehst Du z. B. die Nichtigkeit und Anfechtbarkeit im heftigsten Gespräch miteinander; früher vertrugen sie sich aufs beste miteinander, seit kurzer Zeit aber sind sie sich in die Haare geraten. Womöglich noch schlimmer steht es mit der Korreal- und Solidarobligation; des Zankens unter ihnen ist gar kein Ende, jeden Tag beginnt es von neuem! Früher lebten sie im friedlichsten Verhältnis miteinander, aber ein vor einiger Zeit angelangter Jurist hat sie gegeneinander aufgehetzt; seit der Zeit ist es mit dem Frieden vorbei, sie leben auf höchst gespanntem Fuß miteinander, sagen sich die bittersten Dinge, und alle Versöhnungsversuche erweisen sich als fruchtlos. Ich meinerseits bin dieses Haders längst müde und beteilige mich gar nicht mehr dabei.«
Aber ein Zanken sollte doch eigentlich in Euerem Himmel gar nicht stattfinden.
»Tor, der Du bist! Der Streit ist die wahre Würze der Wissenschaft, ohne ihn wäre es in unserm Himmel vor Langeweile gar nicht auszuhalten, das ewige Anschauen der Begriffe bekommt selbst unsereiner auf die Dauer satt; nur der Streit und das Eintreffen neuer Ankömmlinge bringen etwas Leben und Abwechselung hinein.«
Streiten sich die Begriffe bloß untereinander oder auch mit den Geistern?
»O nein! Das halten sie unter ihrer Würde, und es ist auch noch niemand so vermessen gewesen, es zu versuchen. Aber sie verschmähen es nicht sich mit ihnen ganz vertraulich zu unterhalten und sie über ihr wahres Wesen zu belehren. Noch gestern unterhielt sich der Besitz lange und eingehend mit Savigny.«
Weißt Du, was sie verhandelten?
»Gewiß! sie behandelten die Frage, ob der Besitz ein Recht oder Faktum sei.«
Schade, daß ich das Gespräch nicht mit angehört habe; da hätte man etwas lernen können! Der Besitz interessiert mich aufs äußerste. Bisher bin ich seiner noch nicht ansichtig geworden; habe die Güte mir ihn zu zeigen.
»Augenblicklich finde ich ihn nicht. Die meisten Begriffe haben bei uns, ähnlich wie auf Erden die Geschäftsleute in Eueren Börsen, ihren bestimmten Standort, wo man stets sicher sein kann sie zu finden. Nur einige wenige haben sich dazu nicht verstehen wollen, sie sind unstäter Natur und halten es nicht lange an derselben Stelle aus, bald sind sie hier, bald dort. Da siehst Du z. B. das Pfandrecht, das augenblicklich bei den Sachenrechten steht. Aber ich bin nicht sicher, daß es sich nicht im nächsten Moment ins Obligationenrecht hinüber verfügt. Auch das Erbrecht, das sonst ruhig an seinem Platz verblieb, hat einmal Miene gemacht sich ins Familienrecht zu verfügen, aber es hat sich hinterher wieder beruhigt. Der schlimmste von allen Begriffen aber ist der Besitz, er ist ein höchst unruhiger Geselle, der es an einer Stelle nie lange aushält, bald hat er seinen Standplatz im allgemeinen Teil Thibaut, System des Pandektenrechts. Aufl. 8, I, § 2 und 3 u. ff. Kierulff, Theorie des gemeinen Civilrechts Kap. V., bald im Recht der Persönlichkeit Puchta, Pandekten § 122 u. ff., bald im Sachenrecht Die zur Zeit herrschende Stellung des Besitzes., gewöhnlich neben dem Eigentum, sei es vor, sei es hinter ihm, aber er ist selbst letzterem einmal ins Gehege gekommen Arndts, Pandekten Buch II, Kap. 2., selbst in das Obligationenrecht hat er sich eingedrängt Savigny, das Recht des Besitzes (Aufl. 7 von Rudorff S. 48)..«
»Jetzt sehe ich ihn, er steht augenblicklich in der Abteilung Sachenrecht, dort neben dem Eigentum.«
Das also ist der Besitz? Seltsam! den hätte ich mir anders vorgestellt, ich habe ihn für ein Recht gehalten, hier stellt er sich dar als Faktum. Anm. 5.
»Warte nur ab; Du wirst ihn auch noch als Recht erblicken; er verwandelt sich unausgesetzt, es ist der Proteus unter unsern Begriffen.
»Sieh Dir ihn jetzt einmal an: was ist er jetzt?«
In der Tat jetzt ist er ein Recht. Anm. 6.
»Nun warte noch einen Moment.«
»Was ist er jetzt?«
Beides zugleich: »seinem Wesen nach ein Faktum, aber seinen Folgen nach einem Rechte gleich«. Savigny a. a. O. Übersicht von § 5: »Der Besitz ist Recht und Faktum zugleich.« S. 44 »Der Besitz ist Faktum und Recht zugleich, nämlich seinem Wesen nach Faktum, in seinen Folgen einem Rechte gleich.« Wunderlich! Soeben hätte ich noch darauf geschworen, daß er seinem Wesen nach ein Recht sei, da er alles, was zum Wesen des Rechts gehört, an sich trägt. Siehe die Citate aus Savigny in Anm. 6. 1) »In seinen Folgen dem Rechte gleich – 2) als Recht anerkannt – 3) erworben wie alle Rechte überhaupt.« Aber es hilft nicht: sein Wesen scheint gerade darin zu bestehen, daß er das nicht ist, was er ist, oder daß er in jedem Moment dasjenige ist, was ihm gerade einfällt, – bald »in Wahrheit kein Recht«, »kein Rechtsverhältnis«, sondern ein Faktum, dann ein Recht »wie alle andern«, dann »beides zugleich«. Er ist wie ein Aal, der aller Versuche, ihn zu fassen, spottet; man glaubt ihn in den Händen zu haben, und er ist wieder entschlüpft.
»Damit hast Du das Richtige getroffen. So bewährt er sich auch in Bezug auf Erwerb und Verlust, Du wirst nie mit Sicherheit zu bestimmen vermögen, ob er vorhanden oder nicht vorhanden ist. Anm. 7. Und ganz dasselbe gilt auch für den Besitzesschutz, – in diesem Moment hältst Du denselben für ein geniales Werk des römischen Prätors, im nächsten für einen groben Fehler desselben, Du überzeugst Dich durch blendenden Schein getäuscht zu sein.« E. J. Bekker, das Recht des Besitzes bei den Römern, Leipzig 1880 S. 99: »Die Erfindung der interdicta retinendae possessionis ... eine geradezu geniale.« S. 234 »Grober Fehler ... Zwittergestalt der interd. ret. poss.« S. 235 Note: Noch habe ich das Gefühl ... als sei die Schöpfung der int. ret. poss. eigentlich ein geniales Werk gewesen, glaube aber jetzt infolge nüchterner Überlegung doch nur durch blendenden Schein getäuscht zu sein.«
Ja der verwünschte Besitzesschutz, – der hat auch mir auf Erden viel zu schaffen gemacht. Ich habe geglaubt, als Jurist die Frage nach seinem Grunde aufwerfen zu müssen, aber da bin ich schön angekommen, man hat mir eingewandt, das sei eine philosophische Frage, Anm. 8. und ich habe daraus entnommen, daß auch die römischen Juristen die Grenzlinien zwischen Jurisprudenz und Philosophie nicht gekannt haben, denn auch sie lassen sich verleiten, die Frage nach dem »philosophischen Grund« der Usukapion aufzuwerfen. l. 1 de usurp. (41. 3) l. 5 pr. pro suo (41. 10). Das Beispiel, das sie mir in Bezug auf diese Wirkung des Besitzes gegeben haben, hat mich verleitet, dieselbe Frage auch in Bezug auf den Besitzesschutz zu erheben, und ich stehe in dieser Hinsicht auch nicht ganz allein. Hat doch einer von unseren Juristen sogar die Hunde entboten, um mit ihrer Hilfe den Grund des Besitzschutzes klar zu machen. Anm. 9. Die Allianz ist ihm selber aber bei ruhigem Blut etwas bedenklich erschienen, denn später hat er die Hunde ihres Dienstes wieder entlassen. Sein vorübergehender Versuch, die Hunde als Vorspann für die Besitztheorie zu benutzen, hat es verschuldet, wenn böse Zungen der Jurisprudenz den Vorwurf gemacht haben, sie sei mit ihrer Besitztheorie auf den Hund gekommen.
»Das geschah ihr recht. Warum frägt sie nach dem Grunde der Rechtsinstitute? Um die Gründe des Besitzesrechtes hat sie sich gerade so viel und so wenig zu bekümmern, wie um die aller übrigen Rechte. Anm. 10. Savigny selber hat dies zwar auch getan, aber vom Standpunkt der Savigny'schen Schule, will sagen der Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts muß die bisher beliebte Methode, den Grund des Besitzschutzes zu ergründen, verworfen werden.« Worte von Bekker a. a. O. S. 16.
Da sehe ich allerdings, daß ich der letzteren nicht angehöre, ich habe nie die Frage nach dem legislativen Grunde der Institute unterdrücken können, es ist mir geradezu zur zweiten Natur geworden bei allen Rechtssätzen nach dem Zweck zu fragen.
Daraus, daß Du Zweck und legislativen Grund identifizierst, geht hervor, daß Du Dich über einen wichtigen Unterschied: den zwischen dem legislativen Grunde der lex lata und der lex ferenda, gänzlich im unklaren befindest.«
Er ist mir in der Tat völlig unbekannt.
»Ich werde Dich belehren. Der legislative Grund de lege lata fällt stets und überall zusammen mit dem historischen Grunde des Rechtsschutzes; wir haben keinen Grund, die Erwägungen, ohne welche das Gesetz niemals zustande gekommen wäre, von dem historischen Grunde auszuschließen.« Worte von Bekker a. a. O. S. 17.
Damit kann ich mich einverstanden erklären. Ich kann mir denken, daß das Bedürfnis des Gesetzes erst an einem recht eklatanten Fall zu Tage trete, was wir als occasio legis zu bezeichnen pflegen, aber wie würde dieser einzelne Fall den Erlaß des Gesetzes haben bewirken können, wenn nicht gerade an ihm die Gründe de lege ferenda recht augenfällig zu Tage getreten wären? Diese letzteren haben ihre Natur doch dadurch nicht verändert, daß das Gesetz erlassen ist; die angeblichen Gründe de lege lata nach Erlaß des Gesetzes, sind nichts als die Gründe de lege ferenda vor Erlaß desselben. Man könnte ebensogut die Motive, welche jemanden zu einer Handlung bestimmten, vor der Handlung als Motive, nach derselben als den historischen Grund derselben bezeichnen; das scheint meinem allerdings noch nicht auf die Höhe Eures Denkens erhobenen Verstande ein Spiel mit Worten zu sein.
»Eben weil er sich dazu noch nicht erhoben hat, enthalte Dich jeden Urteils. Ich muß übrigens bei dieser Gelegenheit allen Ernstes die Dir bereits früher erteilte Warnung wiederholen, hier in unserem Himmel nie nach dem Warum zu fragen. Hier fragt niemand nach dem Warum, »die Savigny'sche Schule, will sagen die Rechtsschule des neunzehnten Jahrhunderts« ist längst darüber hinaus. Das fehlte noch, daß unsere erhabenen Begriffe einem Erdenwurm wie Dir über ihr Woher und Warum Rede und Antwort stehen müßten. Da müßten sie am Ende noch gewärtigen, daß Dir die Antwort nicht behagte. Die Begriffe, die Du hier siehst, sind, und damit ist alles gesagt. Sie sind absolute Wahrheiten, – sie sind von jeher gewesen – sie werden ewig sein. Nach ihrem Wesen und Warum zu fragen ist um nichts besser, als zu fragen: warum zweimal zwei vier sei. Es ist vier. Mit diesem Ist ist alles gesagt, einen Grund dafür gibt es nicht. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen, sie ruhen als absolute Wahrheiten in sich selber, einen Grund für sie gibt es nicht. Das einzige, was dem denkenden Geist ihnen gegenüber obliegt, ist sich mit voller, rückhaltloser Eingebung in sie zu vertiefen und die Fülle des Inhalts, der in ihnen beschlossen liegt, für die Erkenntnis zu Tage zu fördern. Was er auf diesem Wege zu Tage schafft, ist Wahrheit und hat wie jede Wahrheit Anspruch auf absolute Geltung.«
In Euerem Himmel – mag sein! Aber auf Erden ...
»Geh mir mit Deiner Erde! Auf ihr teilt die Wahrheit das Los des Pegasus im Joche, sie wird dort geknechtet von eueren Gesetzgebern und Praktikern, denen der Sinn für die Wahrheit, welche den alleinigen Leitstern im Recht abzugeben hat, abgeht. An die Stelle des Wahren, welches ewig ist, setzen sie in ihrer Verblendung das Praktisch-Nützliche, welches vorübergehend und vergänglich ist. Was vermag der Gesetzgeber über die Wahrheit? Kann er etwa bestimmen, daß zweimal zwei fünf sei? Ebensowenig, daß etwas, was der Vernunft des Rechts widerspricht, gelten solle. Mag der Praktiker schwach genug sein sich dem zu fügen, der Theoretiker, der sich dieses Namens nicht unwürdig erweisen will, versagt einem so widersinnigen Gesetz den Gehorsam Anm. 11., ihm steht die Wahrheit höher als Menschenfurcht. Glücklicherweise kommt er gegenwärtig nicht mehr in die Lage, das Recht praktisch anwenden zu müssen, und diese Trennung der Theorie und Praxis ist eine der größten Errungenschaften der Gegenwart, erst durch sie hat die Wissenschaft die völlige Freiheit der Bewegung gewonnen, wie sie im Interesse der Erforschung der Wahrheit unerläßlich ist. Gestellt auf den felsenfesten Grund der Theorie, entbunden von jeder Rücksicht auf das praktische Leben, dem Naturforscher gleich, der die Geheimnisse der Natur zu ergründen sucht, kennt der Forscher auf dem Gebiete des Rechts kein anderes Ziel, als die wunderbaren Geheimnisse der Rechtswelt zu erschließen, das feine Geäder in dem logischen Organismus des Rechts bloßzulegen. Und staunenswert ist es, was er lediglich mit Hilfe des logischen Denkens zustande bringt, – die feinste dialektische Filigranarbeit, wahre Wunderwerke des menschlichen Scharfsinns, Denkmäler der Denkkraft des neunzehnten Jahrhunderts, die gleich denen der Scholastiker noch der fernsten Nachwelt Bewunderung abnötigen und sie zur Nachahmung anfeuern werden. Alles dies ist aber erst ermöglicht, seitdem die Theorie von der Praxis vollständig emanzipiert und ausschließlich auf sich selbst gestellt worden ist, denn die Bedingung dieser freien dialektisch-schöpferischen Tätigkeit ist die Fernhaltung jeder Berührung mit dem praktischen Leben, welche letztere auf den Theoretiker denselben verderblichen Einfluß ausübt wie nach dem Urteil einer Fachautorität der Krieg auf den Soldaten Es war der Großfürst Constantin, der Bruder von Kaiser Nikolaus I. Er verstand sich auf die Soldaten. Er hatte es in der Dressur derselben so weit gebracht, daß sie auf dem Exerzierplatz in Warschau mit einem bis an den Rand gefüllten Glase Wasser auf dem Tschako marschieren konnten, ohne einen Tropfen zu verschütten. Aber der Krieg, sagte er, verderbe den Soldaten; alles, was ihn ausmache: die stramme Haltung, der Paradeschritt, die tadellose Sauberkeit der Uniform, der fleckenlose Glanz der blanken Knöpfe, alles ginge durch den Krieg verloren, es sei nichts mit dem Kriege, – er haßte ihn!.
Ein abschreckendes Beispiel in dieser Beziehung gewähren die so viel gepriesenen römischen Juristen, welche sich dem Leben zuliebe nicht selten durch schale Utilitätsgründe leiten lassen, und von denen Du daher auch keinen in unserem Himmel antriffst. Die Aufhebung der Spruchfakultäten hat die Gefahr der Berührung mit dem Leben für unsere heutige Rechtswissenschaft beseitigt.«
Ich glaube, daß Du die Gefahr, welche sie in sich schloß, zu hoch anschlägst, ich habe Urteile von Spruchfakultäten erlebt, die in echt wissenschaftlicher Beziehung nichts zu wünschen übrig ließen. Ich habe mich darüber schon bei einer andern Gelegenheit ausgesprochen, siehe meine vermischten Schriften, Leipzig 1879, S. 242.
»Mag sein. Ich denke nicht an die Zeit des Wiedererwachens der echten Rechtswissenschaft, sondern an die frühere. Damals hat sich die Einrichtung jedenfalls als entschieden schädlich erwiesen. Die Mittelstellung, welche die Mitglieder der Spruchfakultäten zwischen Theorie und Praxis einnahmen, mochte ihren Urteilen zugute kommen, aber auf ihre schriftstellerische Tätigkeit hat sie den nachteiligsten Einfluß ausgeübt. Eine Menge ihrer Ansichten haben sich als Irrtümer neuerer Juristen erwiesen Anm. 12..«
Ich kenne jetzt die Anforderungen, die Ihr hier an den Theoretiker stellt, und ich möchte einmal den Versuch machen, ob ich imstande bin ihnen zu entsprechen und die korrekte theoretische Methode zur Anwendung zu bringen. Gib mir doch eine Aufgabe.
»Versuche Dich einmal an dem Quasibesitz.«
Wenn ich mich durch meine bisherige Auffassung leiten lassen wollte, so würde ich sagen: wo das Recht keinen Schutz des Quasibesitzes anerkennt, ist ein Quasibesitz nicht anzunehmen. Das römische Recht aber knüpft jenen Schutz an ein von Zeit zu Zeit wiederholtes uti l. 1 pr. de itin. (43. 19) Quo itinere actuque privato ... hoc anno usus es. l. 1 pr. de aq. quot. (43. 20) Uti hoc anno aquam ... duxisti. l. 1 § 29 ibid. Uti priore aestate. l. 1 pr. de rivis (43. 21) ... non aliter, quam uti priore aestate ... duxit. l. 22 pr. de fonte (43. 22) Uti ... hoc anno usus es. , ohne dasselbe ist mithin ein Quasibesitz vom praktischen Standpunkt nicht vorhanden. Aber wenn ich mich auf den theoretischen Standpunkt erhebe, gewinnt die Sache allerdings eine gänzlich andere Gestalt. Erworben wird diese Art des Besitzes durch dasselbe Handeln, wie der Besitz der Sache selbst. Fortgesetzt wird dieser Besitz, wie jeder andere Besitz, durch die ununterbrochene Möglichkeit, die ursprüngliche Herrschaft zu reproduzieren; verloren also durch die Aufhebung dieser Möglichkeit Anm. 13.. Die einmalige Ausübung der Servitut genügt also, um den Quasibesitz zu begründen, und da er wie der Sachenbesitz fortdauert, bis die Möglichkeit der Reproduktion des ursprünglichen Verhältnisses sich in Unmöglichkeit verwandelt, so besteht er, auch wenn jahrelang keine Ausübungshandlungen mehr vorkommen, unangefochten fort.
»Recht gut für den Anfang. Des Moments des wiederholten uti, das mit seiner sinnlichen Realität nur für die Erde paßt, haben wir uns entledigt, indem wir dem uti den an keine Sinnlichkeit geknüpften, lediglich der juristischen Vorstellung angehörigen Begriff des Quasibesitzes substituiert haben. Es ist die Erhebung von der Realität des Seins zur Idealität des Denkens. Die einzige Konzession, die wir der Wirklichkeit machen, besteht in dem Erfordernis, daß das Recht ein einziges Mal ausgeübt sein muß. Diese einmalige Ausübung hat für den Quasibesitz nicht mehr zu bedeuten als die Nabelschnur beim Kinde – wir zerschneiden die Nabelschnur, und der Begriff ist für immer von der Wirklichkeit abgelöst, er führt wie das Kind fortan sein Leben für sich, die Wirklichkeit ist abgetan, der Begriff existiert für sich.«
»Ich stelle Dich jetzt auf eine neue Probe. Wie verhält es sich mit dem Anspruch des Quasibesitzers auf die quasipossessorischen Interdikte?«
Letztere kümmern mich nicht. Es genügt mir, daß der Quasibesitz existiert; sein Schutz ist Sache der positiven Bestimmung, durch welche die Theorie sich in ihrer Begriffsentwicklung des Quasibesitzes nicht beirren läßt. Spricht das positive Recht demjenigen, dem wir den Quasibesitz zuerkennen, den Schutz ab, wie dies das römische Recht unverantwortlicherweise getan hat, so muß er dies wie so manche Willkür, welche der Schwache auf Erden vom Mächtigen erdulden muß, mit Fassung ertragen, – es wird ihm nicht schwer fallen, da er das beruhigende Bewußtsein hat, daß die Theorie ihn als Quasibesitzer anerkennt.
»Wiederum recht gut! Jetzt haben wir den Begriff des Quasibesitzes auch von dem unbequemen Moment des Schutzes abgelöst, – fortan kann ihm keine praktische Voraussetzung mehr etwas anhaben.«
»Aber meine Fragen sind noch nicht am Ende. Du mußt Dich noch über das Verhältnis des Quasibesitzes zum Untergang der Servitut durch non-usus aussprechen. Denke Dir: der Inhaber einer Prädialservitut hat am 31. Dezember 1799 die letzte Ausübungshandlung vorgenommen, dann aber 10 Jahre hindurch sich nicht mehr gerührt; wie verhält es sich am 1. Januar 1810 mit dem Quasibesitz und der Servitut?«
Ganz einfach! Den Besitz, den er am 1. Januar 1800 hatte, behält er, solange die Möglichkeit, den ursprünglichen Zustand zu reproduzieren, ununterbrochen fortbesteht. Was verschlägt es für den Quasibesitz, daß die Servitut durch non-usus untergeht? Er ist seinem Begriff nach völlig unabhängig von ihr, es kann einen Quasibesitz geben ohne bestehende Servitut und eine Servitut ohne Quasibesitz, folglich kann er auch fortdauern ohne die Servitut Anm. 14., ja ich behaupte sogar: er kann die untergegangene Servitut wieder ins Leben rufen, denn letztere entsteht bekanntlich durch Ersitzung, wo aber Besitz vorhanden ist, knüpft sich an ihn, wenn es an den sonstigen Voraussetzungen nicht fehlt, die Ersitzung. Anm. 15. Der Hergang ist also folgender. Im Decennium 1800-1810 geht die Servitut durch non-usus unter, im folgenden entsteht sie, da der Quasibesitz fortdauert, durch Ersitzung von neuem, im folgenden geht sie wieder unter, und so geht es, da der Quasibesitz eo ipso auf den Nachfolger im Grundstück übergeht l. 3 § 6-10 de itin. (43. 19), l. 1 § 37 de aq. (43. 20), l. 2 § 3. l. 3 Si serv. (8. 5). Früher half man durch ein interdictum adipiscendae possessionis. l. 2 § 3 de int (43. 1)., oder wenn wir uns eine juristische Person als Inhaberin der Servitut denken, die Möglichkeit der Reproduktion des ursprünglichen Zustandes stets vorausgesetzt, bis ans Ende aller Tage. Der Quasibesitz ist ewig, er rangiert auf einer Linie mit der Klage aus dem Darlehn, die nicht verjähren kann, weil der Gläubiger dasselbe nicht zurückgefordert hat, und folglich keine Rechtsverletzung eingetreten ist Die bekannte Theorie von Savigny, System des heutigen römischen Rechts V, § 239. Die Anwendung auf die Darlehnsklage S. 292: »Der Anfang einer Klagenverjährung ist unmöglich. Diese setzt Nachlässigkeit voraus, und wo wäre hier eine solche zu finden?« S. 293: »es ist hier keine Veranlassung zur Klage, keine Verletzung vorhanden«. Was verschlagen der erklärte Zweck des Institutes und die ausdrückliche Bestimmung Justinian's, die gerade einer solchen durch konstruktive Gesichtspunkte vermittelten Verewigung der Klagen den Weg versperren soll: (l. 1 § 1 Cod. de ann. exc. 7. 40: jubemus omnes personales actiones, quas verbosa quorundam interpretatio extendere extra metas triginta annorum conabatur, triginta annorum spatiis concludi), gegen das Interesse der juristischen Theorie, den Gesichtspunkt der Verletzung durchzuführen? Gegen ihren Begriff der actio nata hat das Gesetz keine Macht!, und mit der Kompensationseinrede aus einer obligatio naturalis, für die es ebenfalls keine Verjährung gibt. Ein erhebendes Gefühl für den Juristen! Throne stürzen, Völker vergehen, die ganze Welt unterliegt dem Wechsel der Dinge, aber auf dem Gebiete der begrifflichen Jurisprudenz gibt es Rechtsverhältnisse, die allem Wechsel der irdischen Dinge spotten, denen keine Zeit etwas anhaben kann.
»Ohne es zu wissen, hast Du eines der Prachtstücke unserer Begriffswelt beschrieben, es ist das juristische Mobile perpetuum . Das Problem, das die Mechanik bisher vergebens zu lösen versucht hat, – die Jurisprudenz hat es auf ihrem Gebiet verwirklicht. Ist der Quasibesitz einmal begründet, so geht bei der Prädialservitut die Bewegung in gleichmäßigem Rhythmus unausgesetzt bis in alle Ewigkeit fort. In dem einen Decennium entsteht sie durch Ersitzung, in dem andern geht sie durch non-usus unter, in dem einen Decennium kehrt sie den Quasibesitz, in dem andern den non-usus heraus.«
Beide Seiten muß sie aber allerdings genau auseinander halten; versieht sie sich einmal darin, so kommt sie gar nicht aus der Stelle.
»Du meinst: weil Entstehung und Untergang dann in demselben Decennium zusammentreffen, und zwei entgegengesetzte Kräfte oder Bewegungen sich aufheben?«
Das meinte ich.
»Gerade darauf beruht die höchste Vollkommenheit unseres Mobile perpetuum, es vereinigt mit der Möglichkeit der ewigen Bewegung zugleich die des ewigen Stillstandes und verwirklicht damit für die Prädialservitut den Gedanken der absoluten Freiheit, für sie gibt es kein Muß, sie kann nicht bloß entstehen und untergehen, sondern auch völlig stillstehen, ganz wie es ihr beliebt. Niemand kann daher im voraus wissen, was sie tun wird, neulich z. B. stand sie ein ganzes Jahr still, sie fühlte offenbar das Bedürfnis sich einmal auszuruhen und die Annehmlichkeit der praescriptio dormiens zu genießen. Dann aber fing sie von neuem wieder an zu laufen und vollendete das Decennium der Ersitzung.«
In der Tat ein juristisches Phänomen, wie es kein zweites gibt! Es geht doch nichts über den Quasibesitz. Ihm würde ich von allen Begriffen den Preis zuerkennen.
»Vergiß nicht, daß er alles, was er leistet, nur dem Sachenbesitz verdankt, er enthält nichts als einen Abklatsch des letzteren. Hat man den Begriff des Besitzes bei der Sache einmal richtig erkannt, so versteht sich die Anwendung auf die Rechte von selbst. Alle unsere Geister sind längst darüber einig, daß der Sachenbesitz in Bezug auf seine wunderbare begriffliche Textur alle anderen hinter sich läßt, und auch die Begriffe selber gestehen ihm einstimmig die erste Stelle zu, während sie im übrigen über ihr Rangverhältnis im heftigsten Streit liegen. Was er fertig bringt, macht ihm keiner von ihnen nach. Seinem Ursprung nach Faktum, ist er seinem Wesen nach bald Faktum, bald Recht, bald beides zusammen, bald endlich »als wirkliches Nichtrecht, ein selbständiger dritter Begriff neben jenen beiden«. Kierulff, Theorie des gemeinen Civilrechts S. 349. Ausgehend von der sinnlichen Wirklichkeit reißt er sich sofort von ihr los, die bloße Möglichkeit genügt ihm. Kein sichtbares Verhältnis zur Sache, kein Akt ist fernerhin mehr nötig, um ihm das Leben zu fristen, die bloße Vorstellung des denkenden Juristen reicht dazu aus. Dadurch überflügelt er sogar die Rechte. Die Servituten und die Klagen erlöschen durch Nichtausübung, aber ihm kann der Mangel des ihm entsprechenden tatsächlichen Verhältnisses nichts anhaben, das Rangverhältnis zwischen ihm und den Rechten ist also gerade das entgegengesetzte von demjenigen, welches man vom Standpunkt der natürlichen Auffassung aus erwarten würde: der Besitz erweist sich als stärker, als das Recht, – das Faktum läßt das Recht weit hinter sich. Das römische Recht hat sich in dieser Beziehung noch nicht auf die Höhe der idealen Auffassung erhoben, es erkennt dem Rechte eine höhere Lebens- oder Resistenzkraft zu, als dem Besitz, es setzt die Zeit des Unterganges bei jenem doppelt so hoch an, als bei diesem und dabei begeht es noch den zweiten Fehler, daß es sich durch den begrifflich völlig gleichgültigen Unterschied der beweglichen und unbeweglichen Sachen beeinflussen läßt und dem Rechtsschutz bei letzteren die doppelte Frist von dem bei ersteren gewährt. Untergang des Eigentums durch usucapio im älteren Recht bei unbeweglichen in zwei, bei beweglichen in einem Jahre. Untergang der Prädialservitut durch non-usus in zwei Jahren (dasselbe wird nach der lex Scribonia auch für die Ersitzung gegolten haben), des ususfructus nach Verschiedenheit der unbeweglichen und beweglichen in zwei und in einem Jahre ( l. 13 Cod. de serv. 3. 34). Zeitfrist des Besitzesschutzes bei unbeweglichen Sachen ( interd. uti possidetis) ein Jahr, bei beweglichen Sachen ein halbes Jahr ( interd. utrubi), des Quasibesitzes der Servituten ein Jahr ( hoc anno s. S. 290 Note). Der Gedanke, welcher dieser Bemessung der Zeitfristen zu Grunde liegt, ist ein unverkennbarer, meines Wissens aber bisher noch nicht erkannter: das Recht doppelt so stark als der Besitz, die unbewegliche Sache doppelt so stark als die bewegliche. Danach kommt auf den Besitzesschutz bei beweglichen Sachen ein Viertel der Zeit von dem Schutz des Eigentums an unbeweglichen Sachen. Zur Entschuldigung darf man hinzufügen, daß diese Bestimmungen aus einer Zeit stammen, wo den Römern das Verständnis für das rein begriffliche Denken noch nicht aufgegangen war. Wie sehr hebt sich dagegen unser Besitz ab! In ihm hat der Begriff die Wirklichkeit vollständig überwunden, – der Besitz an einer Sache, die ein servus publicus der Stadt Rom zu Cäsar's Zeit im Walde hatte liegen lassen oder vergraben hatte, dauert noch bis auf den heutigen Tag fort. Savigny a. a. O., S. 541: »Wer z. B. eine Sache im Walde liegen läßt und sich nachher bestimmt derselben erinnert, hat ihren Besitz nicht verloren«. Es ist der Triumph des juristischen Denkens, welches mittelst der Kategorie der Möglichkeit die der Wirklichkeit überwunden hat. Beginnend mit der »Idee des Besitzes« endet es mit »dem Besitz in der Idee«, Worte von mir in meiner Schrift über den Grund des Besitzesschutzes S. 177. dem Besitz, der, aller seiner realen Wirkungen entkleidet, doch noch die Kraft bewährt, als »Besitz in abstracto« Die Formulierung von Puchta, s. Anm. 14. fortzudauern.«
»Doch wir haben uns in der Begriffshalle schon über Gebühr aufgehalten, es wird Zeit, daß wir in das anatomisch-pathologische Begriffskabinett gehen.«
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»Du hast bisher die Begriffe in ihrer reinen Gestalt vor Dir gehabt, hier wirst Du die Verunstaltungen kennen lernen, die sie auf Erden haben erdulden müssen.«
Auch von den Römern?
»Leider! Ich würde nichts dazu sagen, wenn bloß die Gesetzgebung sich bei ihnen in dieser Weise vergangen hätte, aber auch die römischen Juristen waren schwach genug, die streng logische Durchführung der juristischen Begriffe zu Gunsten rein praktischer Rücksichten – utilitas, wie sie das Ding nennen – hintenanzusetzen. So sind denn die Mißbildungen zu Tage gekommen, die Du hier vor Dir siehst.«
Recht garstige – in Wahrheit! Nachdem man eben die Begriffe in ihrer vollendeten Reinheit und idealen Schönheit vor Augen gehabt hat, erschrickt man förmlich, wenn man dieser Mißbildungen ansichtig wird. Was bedeuten denn die Farben, welche die Präparate an sich tragen?
»Die schwarze Farbe bezeichnet diejenigen Rechtssätze, welche zwar rein positiver Art sind, aber keinen Widerspruch gegen den Begriff enthalten, so z. B. hier bei der Klagverjährung die verschiedenen Bestimmungen über die Verjährungsfrist; sie vertragen sich vollkommen mit dem Begriff der Klagverjährung. Ebenso dort beim Intestaterbrecht die Bestimmungen über die Intestaterbfolge. Du siehst, die Zahl dieser positiven Bestimmungen ist nicht unbedeutend, und es wäre zu wünschen, daß sie kleiner wäre, und manche von ihnen würde besser fehlen. Aber auf Erden, wo man das Recht nur der Anwendung wegen, nicht seiner selbst wegen will, ist einmal eine gewisse Summe positiver Bestimmungen nicht zu entbehren, und die Wissenschaft kann sie dulden, solange sie sich nicht herausnehmen, etwas Begriffswidriges festzusetzen. Wie oft und wie vielfältig letzteres geschehen ist, siehst Du aus den beiden andern Farben: roth und blau. Jene bezeichnet die Verunstaltungen, denen die Begriffe schon bei den Römern ausgesetzt gewesen sind, diese diejenigen, welche sie erst in der modernen Welt erfahren haben, und zwar die hellere Schattierung beider Farben diejenigen, welche auf Rechnung des Gesetzgebers, die dunklere die, welche auf Rechnung der Juristen kommen. Letztere sind die gravsten und bedauerlichsten, sie dokumentieren einen Abfall der Jurisprudenz von sich selber, ein Liebäugeln mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens, die sie nichts angehen, die sie vielmehr ausschließlich dem Gesetzgeber zu überlassen hat. Denn gerade darin besteht ja ihre eigentümliche Aufgabe und ihr Beruf, die Reinheit der Begriffe zu wahren und alles Begriffswidrige fern zu halten. Dem Gesetzgeber kann man die Attentate, welche er gegen die Begriffe begeht, allenfalls zugute halten, er weiß es nicht besser, er begeht sie in aller Naivität. Aber für die Jurisprudenz, die Wächterin der Begriffe, enthalten diese Eingriffe das schwerste Vergehen, dessen sie sich schuldig machen kann, eine wahre Sünde wider den heiligen Geist. Du wirst jetzt die Symbolik der Farbenschattierung verstehen. Letztere entspricht der Schuld: die matte Schattierung ist bestimmt für den Gesetzgeber, die dunkle für die Jurisprudenz, beide graduell abgestuft nach der Schwere des Vergehens. Ich werde Dir einige Beispiele zeigen.«
»Hier zunächst das Eigentum. Der Begriff desselben hat weder von dem Gesetzgeber, noch von der Jurisprudenz etwas zu leiden gehabt. Um so mehr aber die Erwerbsarten des Eigentums und die reivindicatio. Hier siehst Du zunächst den thesaurus.«
Im Begriffssaal habe ich ihn gar nicht angetroffen.
»Da konnte er auch nicht stehen, denn er enthält eine Abnormität, die mit den sonstigen Grundsätzen über den Erwerb des Eigentums im offenen Widerspruch steht. Das Eigentum am Schatz geht bekanntlich von demjenigen, der ihn zuerst verbarg, auf dessen Erben über, auch ohne daß dieselben Kunde davon haben, von ihnen wieder auf ihre Erben – und so fort in alle Ewigkeit. Durch bloßen non-usus kann es nicht untergehen. Wird der Schatz endlich aufgefunden, und sei es auch nach tausend Jahren, so kann es theoretisch nicht dem mindesten Zweifel unterliegen, daß er auch jetzt noch im Eigentum steht, möglicherweise wenn bei jedem Erbgang recht viele Erben beteiligt waren, in dem von Millionen von Eigentümern, – bei einem Erbgang von jedesmal fünf Erben würden es im zehnten Erbgang über 10 Millionen sein. Der Anteil eines jeden einzelnen ist also ein höchst minimaler, homöopathisch verdünnter, und der Nachweis der Erbberechtigung des einzelnen Kompetenten würde mit Schwierigkeiten verbunden sein. Regelmäßig meldet sich niemand. Aber ob Kompetenten sich melden oder nicht, für die juristische Beurteilung des Verhältnisses kann dies nichts verschlagen; wir wissen: der Schatz hat seine Eigentümer, wir kennen sie nur nicht.«
»Da hast Du nun einen eklatanten Fall der begrifflichen Verirrung der römischen Jurisprudenz vor Augen. Sie sagt: die Sache hat keinen Eigentümer mehr. Die bekannte Definition des Thesaurus: cujus non exstat memoria, ut jam dominum non habeat. Dies einmal angenommen, hätte die Konsequenz erfordert, den Schatz nach Grundsätzen über die Occupation herrenloser Sachen dem Finder zuzusprechen. Aber jetzt mischt sich auch das positive Recht hinein und spricht den Schatz halb dem Finder und halb dem Eigentümer zu. So erzeugt eine Verirrung die andere; ist der feste Boden der Konsequenz einmal verlassen, so gibt es auf der abschüssigen Bahn der Willkür kein Halten mehr.
Zu Ehren unserer heutigen Jurisprudenz glaube ich annehmen zu dürfen, daß wenn die Frage vom Schatz für sie eine offene gewesen wäre, sie bei ihr ebenso wie bei der von der Verjährung der Darlehnsklage (S. 292) den theoretisch allein korrekten Gesichtspunkt durchgeführt haben würde, daß ein Recht, für dessen Untergang ein Grund nicht erfindlich ist, fortdauert, und daß daher von einem Untergang des Eigentums beim Schatz ebensowenig die Rede sein kann, wie von dem der Klage durch Verjährung, wenn es an dem Erfordernis der Nativität der Klage: der Rechtsverletzung fehlt. Damit würde das Eigentum auf eine Linie mit der persönlichen Klage gerückt sein, und der thesaurus würde es mit der unverjährbaren Klage vollkommen aufzunehmen vermögen.«
Ich sehe da noch eine andere Erwerbungsart des Eigentums, die einen überaus starken dunkelroten Strich an sich trägt.
»Es ist die Ersitzung. Ihr haben die römischen Juristen übel mitgespielt. Ihrem Begriff nach setzt sie den Besitz voraus, – eine Ersitzung ohne Besitz ist ein logisches Unding, ein begriffliches Ungeheuer. Aber selbst vor dieser Abnormität sind die römischen Juristen nicht zurückgeschreckt. Obschon sie lehren, daß der Besitz mit dem Tode untergehe, lassen sie doch die Ersitzung fortlaufen, – ein Mann, welcher läuft ohne Beine! Und als ob es damit noch nicht genug wäre, lassen sie die Usukapion auch in der Person des Pfandschuldners fortdauern, der den Besitz auf den Gläubiger übertragen hat. Ein reizendes quid pro quo ist auch die Fortdauer der Usukapion am flüchtigen Sklaven. Hier scheint sich aber doch das juristische Gewissen in ihnen geregt zu haben, denn sie beschönigen die Abnormität dadurch, daß sie den Besitz am Sklaven als fortdauernd annehmen. Aber sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus. Besitz an einem flüchtigen Sklaven! Was mag so ein Sklave, der fern von Rom in irgend einem Winkel der Erde behaglich im Sichern saß, sich über diesen Besitz seines Herrn an ihm amüsiert haben!«
»Und alles das der leidigen utilitas wegen! Das ideale Interesse der Korrektheit der Begriffe preisgegeben, bloß damit dieser und jener römische Dunkelmann usukapieren könne.«
Was stellt denn dieses Stück der Eigentumstheorie vor?
»Es ist die reivindicatio. An ihr haben die Römer sich ebenfalls schwer versündigt. Ihrer Bestimmung und ursprünglichen Anlage nach müßte sie unaufhaltsam ihren Weg geradeaus gehen, vor keinem Hindernis zurückschrecken. Aber was tut sie? Vor dem elenden tignum junctum macht sie scheu Halt, – der Eigentümer muß mit dem Doppelten des Werts der Sache vorliebnehmen. Es ist der offene Rechtsbruch, eine Strangulierung des Eigentums; zu Gunsten des schwankenden Utilitätsprincips wird das idealste aller Güter: das Rechtsprincip geopfert. Und das alles bloß darum, damit der Beklagte sein Haus nicht abzubrechen braucht. Als ob so ein elendes Haus, das mit einigen Tausenden reichlich bezahlt ist, gegenüber der Idee des Eigentums in Betracht kommen könnte! Zur Entschuldigung kann man anführen, daß diese Preisgabe der Idee des Eigentums einer Zeit zur Last fällt, die für den juristischen Idealismus noch keinen Sinn hatte.
Das böse Beispiel des Gesetzgebers hat bei den römischen Juristen reiche Früchte getragen. Die alte reivindicatio ist durch sie in einer Weise verunstaltet worden, daß man sie kaum wieder erkennt, es ist ein klägliches Zwitterding zwischen der in rem und der in personam actio. Gerichtet auf Herausgabe der Sache, hatte sie den Besitz derselben in der Person des Beklagten zur begrifflich notwendigen Voraussetzung. Was tun die Juristen? Sie entbinden sie von dieser Voraussetzung und geben sie auch gegen den Nichtbesitzer, qui liti se obtulit aut dolo desiit possidere, d. h. sie machen einen Anspruch wegen Dolus daraus. Eine actio de dolo im Gewande einer in rem actio – eine wahre Ungeheuerlichkeit! Jeder Institutionist weiß, daß der Gegensatz beider Klagen zu den elementarsten Dingen des römischen Rechts gehört.«
»Einmal vom richtigen Wege abgekommen, verirren sich die römischen Juristen dann immer weiter. Der Grundgedanke der in rem actio wird preisgegeben, beiden Parteien wird verstattet, Ansprüche rein obligatorischer Art geltend zu machen, dem Beklagten auf Ersatz der Impensen, dem Kläger auf Herausgabe der Früchte. Ersterer mag zur Not noch passieren, er steht und fällt mit der exc. doli, und mit der läßt sich bekanntlich alles ausrichten – ich mache mich anheischig, damit das ganze Recht aus den Angeln zu heben; mit ihr schlage ich jeden Rechtssatz zurück, der mir nicht zusagt. Aber der Anspruch auf die Früchte – er bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen Faustschlag ins Angesicht der Rechtslogik! Die Klage lautet auf rem meam esse: fallen die Früchte unter den Begriff der res? Nein! sie sind selbständige Sachen. Paßt auf sie das meum esse? Lediglich auf die vom malae fidei possessor gezogenen, noch existierenden Früchte, nicht auf die vom bonae fidei possessor gezogenen, denn er wird Eigentümer, nicht auf die konsumierten, denn an einer nicht mehr existierenden Sache ist kein Eigentum möglich.«
Ich stimme Dir vollkommen bei. Ich hätte keinem unserer heutigen Juristen raten mögen, einen solchen Einfall zu Markt zu bringen, er wäre gesteinigt worden, und selbst dem Gesetzgeber wäre der Vorwurf der Willkür nicht erspart geblieben Man vergleiche z. B. die Äußerung von Puchta, Pandekten § 135 Note c über die höchst verständige Neuerung Justinian's in l. 11 Cod. unde vi (8. 4): »eine ganz willkürliche Bestimmung« und über die nicht minder billigenswerte Ausdehnung derselben durch das kanonische Recht: »auf dieser Bahn der Willkür ist das kanonische Recht fortgeschritten«. Der Verstoß, den beide hier begangen haben sollen, war eine reine Bagatelle gegen den im Text., aber den römischen Juristen geht alles durch.
»Sie haben bei der reivindicatio noch viel mehr auf dem Gewissen. Sieh Dir hier einmal das jus tollendi an.« Es hat einen sehr starken roten Strich.
»Mit Recht! Es schließt einen schweren logischen Verstoß in sich. Hat der Besitzer Verwendungen auf die Sache gemacht, so fallen dieselben nach Grundsätzen über die Accession bekanntlich dem Eigentümer zu, ein jus tollendi des Beklagten ist mithin logisch unmöglich. Gleichwohl wird es gewährt. Aber wie! Wenn der Kläger sich erbietet, dem Beklagten so viel zu zahlen, als die Sache nach der Trennung wert ist, so muß die Ausübung desselben unterbleiben, ebenso wenn sie gar nichts wert ist, – malitiis non indulgendum est, sagen die römischen Juristen und tragen damit ein reines Moralprincip in das Recht hinüber. Ein sauberer Grundsatz! – auch damit getraue ich mir wiederum das ganze Recht aus den Angeln zu heben. Ein Gläubiger macht zu einem Zeitpunkt seine Forderung geltend, wo die sofortige Leistung dem Schuldner die größten Ungelegenheiten verursacht, während es ersterem nicht das mindeste verschlagen würde, noch einige Zeit zu warten. Was tue ich? Ich weise ihn ab – malitiis non indulgendum est! Sind es malitiae, wenn ich mein gutes Recht ausübe? Sprecht dem Besitzer immerhin das jus tollendi ab, aber wenn Ihr es ihm einmal zugesteht, so nehmt nicht mit der einen Hand wieder, was Ihr mit der andern gegeben habt.«
Auch ich bin stets der Ansicht gewesen, daß die römischen Juristen sich in diesem Punkt schwer vergangen haben. Dahin führt es, wenn man sich durch den Gesichtspunkt leiten läßt, den sie sich nicht scheuen offen auszusprechen: ne urbs ruinis deformetur l. 2 § 17, l. 7 Ne quid in loco publ. (43. 8). . Dem alten Recht mag man die Anwendung desselben auf das tignum junctum zugute halten, aber die römischen Juristen mußten wissen, daß das Rechtsprincip höher steht als alle Utilitätsrücksichten. Ich kann ihnen, so hoch ich sie verehre, den Vorwurf nicht ersparen, daß sie bei der obigen Bestimmung über das jus tollendi das Rechtsprincip in unverantwortlicher Weise preisgegeben haben. Selbst gegen den Staat scheuen sie sich nicht, dies Utilitätsprincip auf Kosten des Rechtsprincips zur Geltung zu bringen. Es hat jemand ohne Einspruch auf öffentlichem Grundstück unberechtigterweise gebaut. Was geschieht? Wenn der Verkehr dadurch nicht gehemmt wird, bleibt das Gebäude bestehen, und dem Erbauer wird ein entsprechender Bodenzins ( solarium) auferlegt. Warum? Ne urbs ruinis deformetur Siehe die Stellen der vorigen Note.! Da haben wir Neuern es doch weiter gebracht. Wenn bei uns ein Bau errichtet ist, den der Nachbar nicht zu dulden braucht, so muß er, auch wenn letzterer es unterlassen hat, zeitig Einsprache dagegen zu erheben ( operis novi nunciatio), ohne Erbarmen wieder abgebrochen werden. So bringt es das Rechtsprinzip mit sich, und dabei bleibt es Bis auf den heutigen Tag die herrschende Ansicht der romanistischen Theoretiker, gegen die ich in meinen Jahrbüchern VI, S. 97 ff. vergebens Einspruch erhoben habe. Schon das bloße Dasein der Operis novi nunciatio hätte m. E. auf den richtigen Weg führen sollen; was sollte sie denn, wenn die act. confessoria und negatoria zu demselben Zweck ausreichten? Ich meinerseits werde nie müde werden, eine so durch und durch ungesunde Ansicht zu bekämpfen, und ich hoffe, daß der gegenwärtige Aufsatz mit dazu beiträgt, auch diese Verirrung der modernen Begriffsjurisprudenz ins richtige Licht zu setzen.. Was liegt daran, ob es vielleicht ein Palast oder ein prachtvoller Bahnhof ist, der in dieser Weise zerstört wird? Die actio confessoria und negatoria lauten einmal auf jus esse und jus non esse, und diesem jus oder non jus kann sich kein Hindernis in den Weg stellen, es realisiert sich mit der Macht logischer Notwendigkeit, die ebenso unabwendbar ist, wie die Naturnotwendigkeit. Fiat justitia, pereat mundus! Der Begriff des Eigentums oder der Servitut hat sich behauptet, alles andere ist gleichgültig. Die Römer hatten auch hier wiederum nicht den Mut der vollen Konsequenz, sie verstatten dem Richter, den Beklagten, der dem arbitrium, das ihm das restituere d. h. den Abbruch des Gebäudes auferlegt, nicht Folge leistet, auf Geld zu verurteilen. Das Gebäude blieb bestehen, ebenso wie das auf öffentlichem Grund und Boden errichtete, – ne urbs ruinis deformetur! Bei uns aber, die wir diese völlig unjuristische Scheu der Römer vor der Zerstörung von Gebäuden nicht kennen, nimmt das Recht seinen freien Lauf. Es ist ein erhebendes Bild, das sich uns da darbietet. Auf den Ruinen des niedergerissenen Gebäudes sitzt triumphierend die Logik des Rechts, einen dankbaren Blick auf die »Rechtsschule des neunzehnten Jahrhunderts« werfend, welche sie von dem unwürdigen Lose, das ihr bei den Römern bereitet war, sich dem Utilitätsprincip unterordnen zu müssen, befreit hat. Wären ihr die Hände durch positive Bestimmungen nicht gebunden, alle die Inkonsequenzen, welche die Römer begangen haben, würden unserm heutigen Recht fremd sein.
»Die actio finium regundorum, die Du hier neben der reivindicatio erblickst, würdest Du dann auch nicht mehr antreffen. Die tief dunkle Schattierung derselben deutet auf zwei große Abnormitäten hin, die eine: daß der Grundsatz der Befreiung des Besitzes von der Beweislast bei ihr hintenangesetzt worden ist, die andere: daß der Richter bei ihr die neuen Grenzen nach reinen Zweckmäßigkeitsrücksichten setzen darf. Zweckmäßigkeitsrücksichten, wo es sich um Feststellung des Eigentums handelt, – der reine Hohn auf die Eigentumsidee! Der Fluß hat sich seinen Lauf durch die Grundstücke zweier Eigentümer gebahnt, ein Fetzen von dem einen liegt auf dieser, ein Fetzen von jenem auf der andern Seite des neuen Flußufers. Aus bloßen Zweckmäßigkeitsrücksichten spricht hier der Richter jeden der beiden Fetzen einem andern zu, als dem er gehört.«
Ich habe das Eigentum satt. Ich habe nicht geglaubt, daß es so viele Widersprüche und Begriffswidrigkeiten in sich vereinige, wie sie mir hier durch Eure Farben deutlich gemacht sind. Zeige mir andere Begriffe.
»Interessieren Dich vielleicht die jura in re? Sie sind begrifflich nicht ganz so schlimm verunstaltet worden, wie das Eigentum, aber einiges ist doch auch bei ihnen zu sehen. Hier z. B. der usus an Sachen, die gar kein uti zulassen, dort der quasiususfructus, diese Mißbildung des ususfructus, der, seiner Anlage nach ein jus in re, sich so weit vergißt, die Gestalt des Eigentums anzunehmen. Dort das Pfandrecht, das sich die Verirrung zu Schulden kommen läßt, von den Sachen auf die Rechte überzuspringen und damit das ungeheuerliche Gebilde des Rechts am Rechte zu Tage fördert, das den heutigen Juristen so viel schlaflose Nächte verursacht hat. Beim Pfandrecht findest Du manche blaue Partien; sie verkünden Dir die begrifflichen Mißhandlungen, welche sich die neuere Zeit gegen das Pfandrecht hat zu Schulden kommen lassen. Da siehst Du z. B. die Grundschuld, bei der sich das Pfandrecht von der persönlichen Forderung gänzlich frei gemacht, – eine Ungeheuerlichkeit, für die einem romanistisch richtig organisierten Kopf jedes Verständnis abgeht. Sodann das Offenhalten einer vorstehenden Hypothek für eine künftige Forderung bei Bestellung nachstehender Hypotheken.«
Das ist das Ärgste! Es enthält eine einfache logische Unmöglichkeit. Wie ist es denkbar, daß eine untere Hypothek existiert ohne eine obere? Erstere drängt mit Notwendigkeit in die Höhe, mit derselben Notwendigkeit, mit der die atmosphärische Luft in den luftleeren Raum dringt; es ist der horror vacui, der für die Rechtswelt dieselbe Geltung hat, wie für die natürliche.
Ich habe jetzt vom Sachenrecht genug, und bin überhaupt bereits so disgustiert, daß ich mich von hier wegsehne. Zeige mir nur die Obligation, dann wollen wir gehen.
»Sie ist hier. Rote Partien findest Du wenig an ihr, um so mehr aber blaue.«
Aber eine tief dunkelrote Partie finde ich doch an ihr; was bedeutet die?
»Den Satz der römischen Juristen, daß der Schuldner, der aus einem dem Gläubiger zur Last fallenden Grunde aus Versehen an den Unrechten Zahlung geleistet hat, frei wird: daß darin eine logische Unmöglichkeit enthalten ist, brauche ich Dir nicht zu sagen.«
Gewiß nicht! Die Obligation kann nur in der Person des Gläubigers oder dessen, den er zur Empfangnahme der Zahlung ermächtigt hat, getilgt werden, Zahlung an den Unrechten ist keine Zahlung, es ist mithin eine logische Unmöglichkeit, daß dadurch der Schuldner frei werde. Mag er sehen, wie er von dem Empfänger die Zahlung zurückbekommt, den Gläubiger geht dies nichts an, selbst dann nicht, wenn er letzteren zur Entgegennahme der Zahlung beauftragt, seinen Auftrag aber später wieder zurückgenommen hat; der Auftrag existiert nicht mehr, und es ist gleichgültig, ob dies dem Schuldner angezeigt worden ist oder nicht, – ein Nichtberechtigter kann von ihm nicht gültig Zahlung entgegennehmen. Das sind Dinge, die zum ABC der Jurisprudenz gehören.
»Du triffst hier noch manche andere Verstöße gegen das Wesen der Obligation, die aber der neueren Zeit angehören.«
»Da ist z. B. der Cessionsbegriff. Die römischen Juristen erblickten in der Cession bekanntlich nur eine Übertragung der Ausübung, und unter uns hier herrscht gar kein Zweifel darüber, daß sie damit das Richtige getroffen haben. Aber die neueren Gesetzgeber und die Praktiker haben aus ihr das Ding gemacht, das Du hier vor Dir siehst: die Übertragung der Forderung selber. Eine Succession in eine Forderung, – kann man sich etwas Widersinnigeres denken? Die Forderung ist kein Objekt, das man hat, sondern eine Eigenschaft, die man ist; sie verhält sich zu ihrem Subjekt ebenso wie die Prädialservitut zum herrschenden Grundstück, beide sind juristische Qualitäten. Wie in aller Welt soll man sich nun vorstellen, daß diese Qualität, Gläubiger zu sein, auf einen Andern übertragen wird? Dann müßte ja auch Schönheit, Gesundheit, Kraft, Verstand sich übertragen lassen, was allerdings sehr wünschenswert wäre, aber leider unausführbar ist. Ebensowenig läßt sich, wenn man nicht allen Gesetzen des juristischen Denkens Hohn sprechen will, die Möglichkeit einer Übertragung der Forderung behaupten. Sie ist in der Person dieses bestimmten Gläubigers zur Existenz gelangt und ihrem Begriff nach mit ihr unlöslich verbunden, – » inhaeret personae ut scabies ossibus«, wie ein mittelalterlicher Jurist nicht gerade ästhetisch sich ausdrückte. Ist B eine andere Person als A, so auch die Forderung in der Person des B ein anderes Ding als in der des A, durch Ablösung von der Person des A wird sie vernichtet und kann daher nur auf dem Wege der Novation in der des B als neue entstehen.«
»Aber selbst dieser moderne Cessionsbegriff, so sehr er allen Grundsätzen der Logik Hohn spricht, ist noch überboten worden durch das Inhaberpapier, das Du hier vor Dir siehst. Die Obligation, dieses bloß in der juristischen Vorstellung bestehende rein ideale Ding, wird mittelst desselben tradiert, sie ist eingefangen und eingesperrt worden in ein Stück Papier, – es ist das Ärgste, was ihr widerfahren ist. Ein Dieb stiehlt Dir Deine Obligationen! Ein römischer Jurist würde geglaubt haben, in Dir einen Irrsinnigen vor sich zu haben, wenn Du ihm dies gesagt hättest. Der Begriff der Auslobung, der dort steht, würde ihm ebenfalls kein geringes Erstaunen entlockt haben. Ein einseitiges Versprechen, das vom andern Teil noch nicht angenommen ist, also noch in der Luft schwebt, ohne sich auf eine bestimmte Person niedergelassen zu haben, und das gleichwohl die Kraft besitzen soll, den Promittenten zu binden – kann man sich so etwas vorstellen? Ebensowenig, als daß ein Pferd durch den Zaum, der frei auf seinem Halse schlottert, gehalten wird, der Reiter muß ihn erst in die Hand nehmen. Die Auslobung ist der Zaum, den niemand in der Hand hat, – – und dadurch soll der Auslobende gebunden werden!«
»Doch ich sehe Dir an, daß Du genug hast. Du scheinst mir nicht recht aufmerksam mehr zu sein.«
Die Sache fängt in der Tat an, mich zu ermüden, führe mich anderswohin.
»Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen, Du bist fertig. Ich werde Dich jetzt zum Examen anmelden.«
Zum Examen? Nein, hehrer Geist, der Gefahr unterziehe ich mich nicht, ich sehe doch voraus, daß ich durchfallen werde. Und sodann muß ich Dir aufrichtig gestehen: Euer Himmel lockt mich nicht sonderlich, er scheint mir trotz aller Herrlichkeiten, die hier zu sehen sind, und trotz aller der Spiele, mit denen die seligen Geister sich die Zeit vertreiben, doch etwas langweilig zu sein; ich ziehe es vor in einen anderen Himmel zu gehen.
»Das ist Deine Sache, wir begehren Dich hier nicht, Du hast sattsam gezeigt, wie wenig Du für uns paßt. In welchen Himmel willst Du? Ich muß es wissen, damit ich den Führer bestelle.«
In welchen kann ich kommen?
»Für Dich als Juristen gibt es noch zwei: den der Rechtsphilosophen und den der Praktiker.«
Ersterer würde mich schon locken.
»Aber so leicht kommst Du in ihn nicht hinein; auch dort hast Du ein Examen zu bestehen.«
Kennst Du die Einrichtung desselben?
»Gewiß! Die Rechtsphilosophie ist zwar in unserm Himmel streng verpönt, sie verträgt sich nicht mit der Herrschaft der Begriffe, weil sie der Strenggläubigkeit Abbruch tut, aber von einem unserer Geister, der in dem rechtsphilosophischen Examen durchfiel und dann zu uns kam, habe ich die Einrichtung desselben erfahren. Im Himmel der Rechtsphilosophen herrscht die Vernunft, wie bei uns die Begriffe, bei uns hast Du das Recht aus dem Begriff, dort aus der Vernunft abzuleiten.«
Das scheint mir nicht gerade so schwer zu sein. Mit dem Satz von Hegel: »Alles, was ist, ist vernünftig«, getraue ich mir alles fertig zu bringen. Wer mit mir nicht übereinstimmt, dem spreche ich einfach das Erkenntnisvermögen für das Vernünftige ab. Wie sollte man auch sonst bei dem gänzlichen Auseinandergehen der Ansichten der verschiedenen Völker und Zeiten über dasjenige, was vernünftig ist, sich helfen? Was wir haben, ist vernünftig, was sie haben, wenn es dem widerspricht, unvernünftig. Auch sie rufen für dasjenige, was sie haben, die Vernunft an, und unsere mit den ihrigen in Widerspruch stehenden Einrichtungen und Ansichten erscheinen ihnen ebenso unvernünftig, wie uns die ihrigen. Aber was sie Vernunft nennen, ist nicht die richtige. Da ich mich meinerseits sicher fühle, die richtige zu besitzen, so soll es mir nicht schwer fallen, das ganze Recht, das selbstverständlich nur das unserer Zeit sein kann, aus der Vernunft abzuleiten. Bei Einrichtungen oder Sätzen, mit denen ich mich nicht einverstanden erklären kann, berufe ich mich einfach auf meine Vernunft; die Berufung der Gegner auf ein von dem unsrigen abweichendes »Ist« fertige ich damit ab, daß es nicht das wahre »Ist« ist. Das wahre »Ist« ist nur dasjenige, was sich mit der Vernunft deckt.
Vor dem Examen in der Rechtsphilosophie ist mir nicht bange.
»Denke Dir die Sache nicht so leicht. Das Examen bewegt sich nicht in rechtsphilosophischen Allgemeinheiten, sondern es steigt tief in das Detail hinab. Es gibt dort ganz verzwickte Examensfragen, auf die schon mancher durchgefallen ist, z. B. die: ob »neugieriges Ausfragen, Eintreten zur Tür ohne Aufforderung« nach Naturrecht zulässig sei. Anm. 16. Auch die Konsequenzen des Rechts der Freizügigkeit nach Naturrecht sind nicht jedem sofort geläufig, wie leicht kann man z. B. übersehen, daß »jede Erschwerung des Reisens – wohin das Paß- und Mautunwesen gehört« – mit dem Naturrecht in Widerspruch steht. Anm. 17.«
»Ich werde Dir einmal einige Fragen vorlegen, die Du, ›da es einem jeden zusteht, den andern anzureden und eine Antwort von ihm zu verlangen, gleichviel ob die Ansprache mündlich oder schriftlich (!) geschieht‹, naturrechtlich verpflichtet bist zu beantworten. Röder, Grundzüge des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie Abt. II, Aufl. 2, S. 202. Freue Dich, daß Du hier mit einer mündlichen Antwort davonkommst.«
»Gegen welches Recht verstößt ›das Legen von Fußangeln und Selbstschüssen, das Anbringen von Glasstücken auf Mauern, von Stacheln hinter den Kutschen‹?« (Röder a. a. O. S. 81.)
Die Frage vermag ich in der Tat nicht zu beantworten.
»Gegen das Recht hinsichtlich des Körpers.« (S. 76.)
»Haben die Juden das Recht sich zu beschneiden?«
Nachdem Du mir den einschlagenden Gesichtspunkt genannt hast, wird es mir nicht schwer, die richtige Antwort zu geben: Nein! (S. 80.)
»Ist die magere Kost der Gefangenen und die Dunkelhaft und hartes Lager naturrechtlich erlaubt?«
Ebenfalls nein! (S. 81.)
»Du findest Dich schon hinein. Wie denkst Du über »den noch immer vielfach eben so schädlichen als zweckwidrigen vorschriftsmäßigen Anzug der Soldaten (besonders die Kopfbedeckung, steife Halsbinde, Tragriemen quer über die Brust und Einzwängung des Leibes)?« (S. 82.)
Entschieden gegen das Naturrecht. Wäre ich Militär-Hutmacher, Schneider, Sattler u. s. w., mein Gewissen würde mir verbieten, meine Mitwirkung dazu zu gewähren. Der Soldat darf sogar auf dem Wachtposten einschlafen, denn es ist ein natürliches Recht des Menschen des Nachts zu schlafen, und das darf auch dem Soldaten nicht verkümmert werden Nicht aus Röder, sondern Inhalt eines englischen Urteils, angeführt in F. Stoerk's Methodik des öffentlichen Rechts ( Grünhut, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart XII, 1, S. 142), Note: »Die bekannte Entscheidung über die Beschwerde eines Soldaten, der auf seinem Wachtposten eingeschlafen und deshalb – vor Aufstellung der in der Mutiny-Bill enthaltenen Specialnormen – mit Strafe belegt worden war. Letztere wurde aufgehoben, »da keinem Briten außer Constables und Watchmen bis dahin verboten war, zur Nachtzeit zu schlafen«..
»Darf die Staatsgewalt den Staatsdienern das Tragen eines Bartes verbieten oder gebieten? Die Frage ist mir seiner Zeit praktisch entgegengetreten, ich durfte mir, als ich noch Professor in X. war, wegen des dort erlassenen edictum de barbis keinen Bart stehen lassen, da ich mir das Recht dazu bei der Berufung nicht vorbehalten hatte.«
Unmöglich! Das Recht auf den Bart gehört zu den Urrechten des Menschen – was die Natur ihm zugedacht hat, darf ihm keine Menschensatzung verkümmern; selbst dem Ziegenbock läßt man seinen Bart. »Wer die Haare preisgibt Dazu die Anmerkung: »Folgewidrig nimmt Warnkönig zwar die Zähne in Schutz, gibt aber die Haare preis, will wenigstens durch Vertrag ein Recht erwerben lassen, uns zu scheren, auch wenn wir ungeschoren bleiben wollen. Das Recht ungeschoren zu bleiben hat sich noch niemand nehmen lassen, und die Sprache erkennt dasselbe an in der Wendung: »Lassen Sie mich ungeschoren«, deren historischer Ursprung offenbar darauf zurückzuführen ist, daß hie und da jemand den Versuch gemacht hat, einen andern wider seinen Willen zu scheren.« Seltsame Leute, die solche Versuche machten!, darf auch nichts einwenden gegen das (zur Hälfte) Kahlscheren der nach Sibirien verbrachten Männer.« (S. 81). Selbst die Frage könnte man aufwerfen, ob nicht auch das freiwillige Abscheren des Bartes und der Haare naturrechtlich unstatthaft sei, da man darin eine Selbstverstümmlung erblicken könnte, »welche nach Naturrecht unzulässig ist«. (S. 80.)
»Ich halte es nach diesen Proben nicht für unmöglich, daß Du das Examen in der Rechtsphilosophie bestehen wirst. Bevor Du zu demselben zugelassen wirst, mußt Du jedoch das rechtsphilosophische Glaubensbekenntnis ablegen.«
Wie lautet dasselbe?
»Ich glaube daran, daß alle Rechtswahrheiten dem Menschen von der Natur mitgegeben, ihm angeboren sind, und daß es daher nur seines energischen Denkens bedarf, um den ganzen Reichtum derselben, die embryonisch in seiner Vernunft enthalten sind, zu Tage zu fördern. Der Mensch trägt in seinem Rechtsgefühl, das, da es von der Natur selber ihm eingepflanzt ist, bei allen Völkern und zu allen Zeiten ewig dasselbe ist, sämtliche allgemeinen Rechtswahrheiten in sich; die geschichtliche Verschiedenheit der Rechte, die damit unverträglich scheint, kommt auf Rechnung teils des unvollkommenen Denkens, teils der positiven, durch Willkür oder bloße Zweckmäßigkeitsrücksichten geleiteten Gesetzgebung.«
Ein solches Glaubensbekenntnis vermag ich nicht abzulegen, ich habe auf Erden die gerade entgegengesetzte Ansicht verteidigt.
»Ich habe mir nach allem, was ich bisher von Dir gehört habe, schon gedacht, daß Du das rechtsphilosophische Glaubensbekenntnis nicht würdest ablegen können. Dein Blick ist in Deinem Erdenwallen viel zu sehr auf die Erde und irdische Dinge gerichtet gewesen. Anstatt die Begriffe und Ideen in ihrem absoluten, an keine historischen Bedingungen geknüpften Dasein, ihrer logischen oder rechtsphilosophischen Autarkie oder Aseität anzuerkennen, hast Du stets die törichte Frage nach ihrem historischen oder praktischen Warum getan, womit Du sie entwürdigt und den Beweis geliefert hast, daß Dir der Sinn und das Verständnis für den Idealismus des Rechts abgeht. Durch diese eine Frage nach dem Warum hast Du Dir den Zutritt sowohl zu unserm Himmel als zu dem der Rechtsphilosophen versperrt. Dir bleibt nur noch der Himmel der Praktiker übrig.«
Werde ich als Theoretiker da Aufnahme finden?
»Da findet jeder Aufnahme, der sein juristisches Examen gemacht hat, und dazu gehört bekanntlich nicht viel. Vielleicht werden sie Dir als Theoretiker noch einen Rechtsfall zur Entscheidung vorlegen, aber Du kannst ganz unbesorgt sein, mit der Entscheidung nehmen sie es nicht so genau; sie machen auch an sich selber in dieser Beziehung keine sehr hohen Ansprüche, – wenn der Fall nur entschieden wird, auf das Wie kommt es ihnen nicht an.«
»Ich lasse jetzt den Seelenführer kommen.«
— — — — — — — — — —
»Hier ist er. Gehab Dich wohl.«
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Ich war wieder in Bewegung und durchmaß unermeßliche Räume mit der Schnelligkeit des Gedankens, die Dunkelheit, die mich bisher umgeben hatte, minderte sich, der erste schwache Lichtschimmer fiel in mein Auge, kurz darauf hatte ich die Sonne im vollen Glanz vor mir. Wir näherten uns einem Planeten.
»Das ist Dein Bestimmungsort«, sagte mein Führer.
Kaum war das Wort gesprochen, so waren wir da. Ich atmete wieder atmosphärische Luft, ein Gefühl der Freiheit, des Lebens, des wonnigen Behagens durchdrang mich. Ich sah Bäume, Wälder, grüne Auen, Häuser, selbst Kegelbahnen, – hier wohnen Praktiker, sagte ich mir, hier herrscht Leben, hier wird es Dir wohl sein.
»Ich verlasse Dich jetzt«, sagte mein Führer, »gehe in jenes Gebäude und klopfe an die erste Tür, dort ist das Anmeldungsbureau für die Ankömmlinge, dort wirst Du einregistriert und erhältst Deine Nummer.«
»Herein!« rief es mit lauter Stimme.
— — — — — — — — — —
Ich selber hatte es gerufen. Es hatte an meiner Türe geklopft, der Briefbote war es, der mir einen Brief von einem Freunde brachte. Ich rieb mir schlaftrunken die Augen und besann mich. Ich fand mich auf meinem Sopha hingestreckt, ein offen aufgeschlagenes Buch vor mir, eine hellbrennende Lampe auf dem Tische. Die Erinnerung kehrte zurück. Ich war an einem schönen Sommerabend bei einer der neuesten romanistischen Schriften eingeschlafen. Bei Eintritt der Dunkelheit war, ohne daß ich in meinem tiefen Schlaf es gemerkt hatte, von der Dienerin die brennende Lampe ins Zimmer getragen worden. Alles, was ich zu erleben geglaubt hatte, war bloß Traum gewesen, ein Traum, zu dem die eigenartige Lektüre, die allmählich eintretende Dunkelheit, die geisterartig im Winde flatternden Gardinen des offenen Fensters und schließlich die von mir als wieder sichtbar werdende Sonne begrüßte Lampe die Elemente geliefert hatten.
Der Brief, den ich erhielt, besprach das Buch, dem ich meinen Schlaf und Traum verdankte, und mein Freund gab sein Urteil mit den Worten Goethe's im Erlkönig ab:
» In dürren Blättern säuselt der Wind.«
Er bat zugleich mich um mein Urteil. Ich habe es ihm gegeben durch Mitteilung der Tatsache, daß ich bei dem Buch eingeschlafen sei. Ob der Verfasser beim Schreiben desselben nicht der gleichen Versuchung erlegen ist? Ich glaube, daß mir in seiner Lage schon auf der dritten Seite die Augen zugefallen, und die Feder den Händen entsunken wäre. Ich werde es nie wieder zur Hand nehmen. Ich weiß nicht, ob die Wiederholung seiner Wirkung auf mich eben so amüsant ausfallen würde, wie das erste Mal. Ein zweiter Traum könnte mich vielleicht statt in den Fimmel in die Hölle versetzen und mich statt der Freuden des ersteren die Schrecknisse der letzteren kosten lassen. Zur Strafe dafür, daß ich die Geheimnisse des Himmels ausgeplaudert habe, würde man mir dort vielleicht zudiktieren, daß ich das obige Buch von neuem zur Hand nehmen und völlig durchstudieren oder sämtliche Anzeigen, Kritiken, Recensionen, welche an mir für die gegenwärtige Schrift ein verdientes Strafgericht vollziehen werden, lesen solle, – beides kann und werde ich mir auf Erden ersparen!
Dies harte Urteil wird unten durch manche Proben gerechtfertigt werden; andere habe ich in meiner Schrift über den Grund des Besitzesschutzes, Aufl. 2, Jena 1869, gegeben. Eine der schlimmsten ist die gänzliche Verständnislosigkeit Savigny's für die praktische Bedeutung der interdicta adipiscendae possessionis, welche er (Recht des Besitzes, Aufl. 7, S. 382-388) mit den entsprechenden petitorischen Klagen auf eine Linie stellt. Es wäre, heißt es S. 384, »kein Grund da, die letzteren von dem unbestimmten Begriff der possessorischen Klagen auszuschließen,« und nach S. 383 »sind die int. retinendae und recuperandae poss. die einzigen possessorischen Klagen überhaupt, und die int. adipiscendae poss. haben nichts mit ihnen gemein. Ja noch mehr: diese haben untereinander selbst nichts gemein.« Deutlicher konnte die gänzliche Unkenntnis der praktischen Bedeutung des Possessorium gegenüber dem Petitorium nicht dokumentiert werden.
Man vergleiche die Deduktionen von Siegmund Schloßmann, der Vertrag, Leipzig 1876, in § 7-10. Wir erfahren hier z. B. S. 59, daß »für die herrschende Lehre zwar der Consens das wesentliche Moment im Vertrage ist, daß sie aber mit ihm nicht auskommt, sich vielmehr genötigt sieht, dem Consense ein in diesem selbst nicht enthaltenes Moment (!): die Erklärung des Consenses, hinzuzufügen«; auf S. 61, daß die herrschende Lehre eine große Inkonsequenz begeht, indem sie verlangt, daß die Willenserklärung dem andern Teil gegenüber geschehe; S. 75, daß das Wesen des juristischen Konstruierens darin besteht, »daß man die Sachen als etwas anderes bezeichnet, als was sie sind, und sie nun juristisch so behandelt, wie jenes andere, was sie nicht sind«; S. 72, daß die Jurisprudenz »eine Denkoperation, zu der nur ein Schritt erforderlich, dadurch kompliziert, daß sie beweist, daß Eins, Zwei, Drei dazu nötig sei«. Sein Resultat faßt der Verfasser S. 79 dahin zusammen: »Der Vertrag ist kein in der Jurisprudenz irgendwie verwertbarer Begriff. Es gibt zahlreiche Tatbestände, welche Verträge sind; daß sie aber Verträge sind und heißen, dies gibt uns nicht den mindesten Aufschluß über das juristische Wesen derselben, d. h. über den Grund, warum sie verpflichten.« Andere Proben aus dieser Schrift werden unten bei einer andern Gelegenheit mitgeteilt werden.
Daß man nicht überall, wo in den Quellen ein suum esse sieht, das » ex jure Quiritium« hinzufügen darf, sollte nicht erst gesagt werden. Die Römer unterscheiden sehr genau. Die rei vindicatio mittelst legis actio sacramento und mittelst der sponsio praejudicialis lautet auf m. e. ex. J. Q. ( Gaj. IV, 16, 93), die mittelst der formula petitoria auf bloßes meum esse ( Gaj. IV, 92), die erstere war auf Römer beschränkt, die letztere auch bei Peregrinen anwendbar und wahrscheinlich für sie zuerst durch den praetor peregrinus eingeführt. Der Gegensatz beider Formeln wiederholt sich auch bei den beiden Formen der Stellvertretung: dem procurator und dem cognitor, von jenem heißt es bei Gaj. IV, 86: in rem quoque si agat, intendit P. Maevii esse ex jure Quiritium, et condemnationem in suam personam convertit, von diesem bei Gaj. IV, 83 einfach: quod fundum peto, in eam rem etc. Die erste Form war die des jus civile, die zweite die des jus gentium, daher bei der » vindicatio« fundi jene, bei der » petitio« fundi diese. Auch die Doppelbezeichnung actor und petitor scheint ursprünglich damit zusammengehangen zu haben. Die Aufnahme des Zusatzes ex J. Q. in die intentio der hereditatis petitio bei Lenel, Das Edictum perpetuum, Leipzig 1883, S. 138, und in die formula petitoria der reivindicatio, daselbst S. 146, halte ich für verkehrt. Wo die Quellen für eine Klage petere gebrauchen ( si ususfructus, ager vectigalis, hereditas petitur – ebenso bei der Bon. Poss.), ist die Bezugnahme auf das jus Quiritium ausgeschlossen. Die Bedeutung desselben im ältesten Recht (Zusammenhang mit der legal verstatteten Selbsthilfe) hoffe ich an anderer Stelle dartun zu können. Daß darin nicht eine einfache Bezugnahme auf das geltende Recht gelegen war, ergibt sich daraus, daß sie sich sonst bei allen Klagen des jus strictum hätte wiederholen müssen, was bekanntlich nicht der Fall war und sinnlos gewesen wäre. Wo das alte Recht eine derartige Bezugnahme ausnahmsweise bei Rechtsgeschäften für nötig hält, gebraucht es dafür: secundum legem publicam, so z. B. Gaj. II, 104. Wenn man den Gegensatz bei Gaj. IV, 83, 86 und 92, 93 genauer beachtet hätte, würde man es mit dem ex. J. Q. nicht so leicht genommen haben.
J. E. Kuntze, die Obligation und die Singularsuccession des römischen und heutigen Rechtes. Leipzig 1856, S. 89. Ich lasse die Stelle wörtlich abdrucken, schicke aber, um dem Eindruck, den sie machen wird, ein Gegengewicht gegenüber zu setzen, die Bemerkung voraus, daß niemand die hohe Begabung des Verfassers und die wertvollen Dienste, welche er der Wissenschaft geleistet hat, bereitwilliger anerkennt als ich. Dies kann mich aber nicht abhalten, hier, wo es mir darauf ankommt, die Verirrungen in der neueren Jurisprudenz zu charakterisieren, sein obiges Werk dazu zu verwenden. Es steht in dieser Beziehung allerdings nicht allein da, – ich könnte noch manche andere Proben von minder bedeutenden Schriftstellern mitteilen – aber unzweifelhaft steht es oben an, und dem literarhistorischen Kritiker muß es unbenommen bleiben, sich für seine Zwecke den geeignetsten Gegenstand auszusuchen. Die Stelle lautet folgendermaßen:
»Die prätorischen Fiktionen hatten zumeist nur die Aufgabe geschichtlicher Vermittelung, sie blitzten auf vom Tribunal des Magistrats, gleich den Wettern, in denen die Natur sich entladet, um den aufbrechenden Lenz auf die Gefilde zu locken und die ansetzende Blüte zur Frucht zu zeitigen; sie erinnern an die Donnerkeile des olympischen Zeus, der mit ihnen bewaffnet vom Thron der Allmacht herab die Welt in ihren Angeln bewegte und die schwere Atmosphäre reinigte, denn das Tribunal des Prätors ist der Olymp des römischen Rechtslebens, das unter der neuen Herrschaft von der Mühsal titanischer Urzeit erlöst wird; sie reihen sich nicht den frei organischen Gebilden der Natur an, sondern gleichen den Ausbrüchen der Vulkane oder dem Vorüberrauschen der Orkane und werden als entbehrliche Hülsen abgestreift, (– – eigentümliche Orkane, die sich in Hülsen verwandeln, um sich dann abstreifen zu lassen – –), wenn der in ihnen großgezogene Rechtsgedanke zur Reife gediehen ist, um durch eigene Energie seinen Platz im dogmatischen Bau zu behaupten; sie sind die beweglichen, schwirrenden Bienen, welche regsam und fleißig die Blütenfülle des gesunden Baumes umschweben und sich festsaugend von dem Safte trinken, als seien sie organisch mit der Blüte verwachsen. Es ist Täuschung!
Es webt ein dämonisches Walten in diesem wundersamen Reich der Fiktionen; es ist der Blick des aufrechten Menschenleibes nach den freien lichten Höhen des Äthers, wo er von irdischer Fessel sich entbunden träumt.«
Ähnliche Stellen finden sich noch manche. So ersteigt auf S. 408 »der römische Geist die ersten Staffeln der civilistischen Lyrik« – das Obligationengebiet ist »die Lyrik der Vermögensrechte« – die gegenseitige Obligation »die Lyrik der Obligationen« – »ihr Reigen bildet die Ouvertüre der civilistischen Lyrik« (– – der Reigen eine Ouvertüre – –).
Von S. 408 lasse ich noch folgende Stelle abdrucken – daran wird es genug sein.
»Was die Tonkunst im Reich der Künste, dasselbe ist das Obligationenrecht im Bereich der Vermögensrechte: die Römer haben vornehmlich den epischen Unterbau gegründet, die strebende Welt der Säulen und Pfeiler ist vorzüglich dem an Motiven so überreichen Fruchtboden der germanischen Anschauung entsprossen, und in der gereiften Rechtsidee des modernen Verkehrslebens wird die dramatische Versöhnung gelingen. Es wird ja daran gearbeitet. Und die Strömung dieser modernen Geistesarbeit strahlt wiederum im kleinen das Bild jenes geschichtlichen Entwicklungsverlaufes zurück; denn wir erblicken in dem gebundenen (persönlichen Sola-) Wechsel den epischen Unterbau, in dem Inhaberpapier mit seiner – – ungezügelten Feuerseele die geheimnisvolle Lyrik und in dem Ordrepapier die beruhigende, versöhnende Wendung zum Drama. – – Tonkunst und Obligationenrecht sind die lyrischen Mysterien, die verschleierten Bilder der ästhetischen und der juristischen Welt, und die Skepsis ist der in der Mondnacht suchende Jüngling.«
Hier wollen wir ihn dann ruhig suchen lassen, bis er am Ende des Werkes (S. 422) »dem gereiften Genius der Rechtswissenschaft« begegnet, »durch dessen Haupthaar sich dereinst ein Ölkranz schlingen, in dessen Rechten die Siegesgöttin winken, in dessen Linken das Adlerscepter ruhig herrschen wird«, – dann dürfte er sich beruhigen.
Savigny a. a. O. S. 30. »Da der Besitz kein Rechtsverhältnis ist, so ist auch die Störung desselben keine Rechtsverletzung.« S. 43 ... »es ist klar, daß der Besitz an sich, seinem ursprünglichen Begriff nach ein Faktum ist.« S. 44, »seinem Wesen nach Faktum.« S. 31, »abstrahiert von dieser Verletzung gibt der Besitz gar kein Recht.« S. 55, »der Besitz erscheint uns zunächst als die bloß faktische Herrschaft über die Sache und daher als ein Nichtrecht (verschieden von Unrecht), als ein rechtlich Indifferentes.« S. 58, »in Wahrheit kein Recht.« S. 59, »der Besitz hat im System als Recht keine Stellung, da er kein Recht ist.«
Der Übergang vom Faktum zum Recht wird dem Besitz natürlich nicht so leicht, er wird vermittelt durch Zwischenstadien. S. 58, »demnach wird er gegen gewisse Verletzungen geschützt, und um dieses Schutzes willen werden Regeln aufgestellt über Erwerb und Verlust des Besitzes, gerade als ob er ein Recht wäre.« Hier wagt er noch nicht, sich offen für ein Recht auszugeben, er tut bloß so, »als ob er es wäre«. Aber er ermannt sich auf S. 58, wo er »fähig wird, ähnliche Wirkungen wie ein Recht hervorzubringen«, und noch mehr auf S. 44, wo er es von der bloßen Ähnlichkeit zur Gleichheit bringt: »in seinen Folgen einem Rechte gleich.« Auf S. 206 hat er durchgesetzt, was er wollte: »Der Besitz wird als Recht anerkannt«, und es ist daher »gar nichts Besonderes, daß er wie alle Rechte überhaupt durch Sklaven und durch Kinder in väterlicher Gewalt erworben werden kann« (S. 308).
Ich verweise auf meine Ausführungen in meiner Schrift über den Grund des Besitzschutzes, Aufl. 2, Jena 1869, S. 160-179, wo ich die Savigny'sche Theorie über den Erwerb und Verlust des Besitzes einer Kritik unterworfen habe. Die beiden Gesichtspunkte, welche Savigny aufstellt: die physische Herrschaft und die beliebige Möglichkeit der Reproduktion des ursprünglichen Verhältnisses ergeben in nicht wenig Fällen das gerade Gegenteil von dem, was er ihnen entnimmt, man muß nicht bloß ein Auge, sondern beide Augen zudrücken, um sie in diesen Fällen noch für zutreffend zu halten. Wohl noch nie hat ein Schriftsteller mit den von ihm selber aufgestellten Begriffen ein solches reines Spiel getrieben, wie Savigny mit diesen beiden, – es sind die reinen Kautschukbegriffe, die sich jedem Fall willig anschmiegen.
Bekker a. a. O. S. 12. »Die Frage nach dem sog. philosophischen Grunde des Besitzesschutzes ist einfach zurückzuweisen.« Auf S. 357, 358 taucht aber gleichwohl die Frage vom philosophischen Grunde des Besitzrechts auf, und ich räume ein, daß der Vergleich, dessen dieser Schriftsteller sich zur Persiflierung des »Haschens nach den Gründen des Besitzschutzes« bedient (Anm. 10), für das Problem, wie er es sich stellt, völlig zutrifft. Er hält es nämlich »nicht für unmöglich, einen Besitz von welthistorischer Bedeutung zu entdecken, der bei den verschiedenartigsten Völkerschaften, sobald diese nur einen gewissen Bildungsgrad erreicht hätten, vorhanden sein müßte. Für diesen universellen Besitz existiert jedenfalls auch ein ebenso universaler, darum bleibender und philosophischer Grund.« Wenn der Verfasser hinzufügt, daß ihm »der universelle Besitz einstweilen unbekannt sei, und daß er auch darum verzweifele, jemals eine genügende Kenntnis desselben zu erlangen«, so stimme ich dem vollkommen bei und bemerke, daß ich meinerseits, weit entfernt von allem müßigen Hin- und Herreden über die Frage, was der Besitz an sich sei, die in meinen Augen eine törichte ist, bei meiner ganzen Untersuchung lediglich die römische Gestalt des Besitzinstitutes ins Auge gefaßt und zu Grunde gelegt und nur für sie die Frage nach dem Grunde des Besitzschutzes zu beantworten versucht habe. Die Frage war also keine philosophische, sondern eine praktische oder legislative, und ich habe, um mir Klarheit über sie zu verschaffen, denselben Weg eingeschlagen wie bei jedem Institut, dessen praktische Bedeutung ich mir klar machen will: ich denke es mir hinweg und sehe zu, was dann in praktischer Beziehung aus dem Recht wird, – die Lücken, die sich ergeben, zeigen mir, wozu das Institut da ist.
Bruns in seiner sonst so vorzüglichen Darstellung des heutigen römischen Rechts in Holtzendorff's Rechtsencyclopädie Bd. 1, Aufl. 1, S. 387. »Dem Hunde nehme ich die Sache mit Gewalt weg; nehme ich sie dem Menschen so, so behandle ich ihn wie einen Hund und nicht als Person. Das ist der Kern und der Ausgangspunkt des ganzen Besitzesschutzes.« Der Kern ist ein sehr wurmstichiger! Dem Detentor darf ich die Sache mit Gewalt wegnehmen, die Besitzrechtsmittel werden ihm versagt, – ist er ein Hund? Dasselbe galt früher vom injustus possessor in seinem Verhältnis zum justus, – dritten Personen gegenüber geschützt, d. i. nach Bruns als Person anerkannt, war er jenem gegenüber schutzlos, d. i. Hund. An res extra commercium erkennt das römische Recht einen Besitz nicht als möglich an, weil sie nicht im Eigentum stehen können, während dasselbe im übrigen auch für sie einen Rechtsschutz zuläßt. Nach Bruns würde die Versagung des Besitzschutzes an ihnen abermals denselben Satz implizieren, wie in jenen Fällen: die Person darf in diesem Verhältnis nach römischem Recht als Hund behandelt werden. Es ist kaum zu begreifen, daß ein Mann wie Bruns, der die Besitztheorie zum Gegenstand seines besondern Studiums und einer reichen literarischen Tätigkeit gemacht hat, und dem sie in historischer Beziehung so viel verdankt, die römische Auffassung des Besitzesschutzes so gänzlich verkennen konnte. Gerade sein Hundeargument hätte ihm die Augen öffnen und ihn belehren sollen, daß der Besitzesschutz nicht die Idee der Persönlichkeit zu seinem Grunde, nicht den Schutz derselben zu seinem Zweck hat. Der Schutz, der der Person um ihretwillen zuteil wird und darum auch im Detentionsverhältnis ( l. 5, § 2, 4 de injur.; 47. 10), wird wie der der Person überhaupt durch die actio injuriarum vermittelt; ich pflege ihn in meinen Vorlesungen als unechten Besitzesschutz zu bezeichnen. Zu der act. injuriarum kommen für den bloßen Detentor bereits im römischen Recht noch einige besondere Rechtsmittel hinzu, deren Namhaftmachung hier kein Interesse hat. Daß auch die Spolienklage zum Gebiet dieses unechten Besitzesschutzes gehörte, bedarf nicht der Bemerkung.
So wörtlich Bekker a. a. O. S. 14. In besonderer Anwendung auf den Grund des Besitzschutzes S. 12: »Ein guter Bekannter von uns, der aber hier nicht genannt zu werden wünscht (das begreife ich; ich möchte es auch nicht!) sagt, daß bei diesem Haschen der modernen Jurisprudenz nach dem Grunde des Besitzschutzes ihm immer das Bild vor Augen trete, wo ein eifriger Vierfüßler im heitern Zirkelsprunge den Ansatz zu erpacken sucht, mit dem Mutter Natur sein Hinterteil geziert hat.« Man entnimmt daraus, daß der Hund für die Besitztheorie ein äußerst instruktives Tier ist. Bei Bruns freilich in gerade entgegengesetzter Richtung als bei Bekker. Ersterem dient er dazu, um den Grund des Besitzschutzes zu erschließen, letzterem dazu, um von dem »Haschen« nach demselben abzuschrecken.
In einer deutschen Spruchfakultät vor wenig Jahren wirklich geschehen! Das romanistische Mitglied wies die Autorität des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs, dessen dem römischen Recht widerstreitende Bestimmungen in dem Fall zur Anwendung zu bringen waren, einfach damit zurück, daß das Handelsgesetzbuch gegen die Vernunft des Rechts und das römische Recht nichts vermöge. Theoretisch formuliert ist die Ansicht von Siegmund Schloßmann, der Vertrag, Leipzig 1876, S. 175-206. Ich hebe einige Proben hervor. S. 175: »Auch darin täuscht man sich, daß man Gesetz und Gewohnheit als Quellen des positiven Rechts ausgibt, und wenn man behauptet, daß was aus jenen Quellen herkomme, d. h. was vom Staat befohlen werde und was als Entscheidungsnorm auch ohne Gesetz mit der Überzeugung, es solle so sein, lange Zeit angewendet worden ist, – solle und müsse vom Richter angewendet werden, so läßt sich mit gleichem Rechte das gerade Gegenteil behaupten.« S. 178. »Jede Art von Zwang, wodurch der Richter zur Anwendung einer bestimmten, sei es aus Gesetz oder Gewohnheit herrührenden Satzung angehalten werden könnte, ist unzulässig, und die Bestrafung eines Richters, welcher in der Überzeugung von der Unanwendbarkeit einer solchen Satzung die Anwendung versagt, ausgeschlossen.« (!!)
Nach S. 180 »reicht schon ein einziger Fall der bewußten und gebilligten Vernachlässigung des Gesetzes aus, um die geltende Lehre von den Rechtsquellen zu stürzen, da ein wissenschaftliches Dogma simul cum in aliquo vitiatum est, perdit officium suum.« Ein einziger hirnverbrannter oder pflichtvergessener Richter, der dem Gesetz den Gehorsam aufkündigt, stürzt die ganze Lehre, daß der Richter dem Gesetz Gehorsam schuldet, über den Haufen! Ein wissenschaftliches Dogma, das damit fällt, daß irgend ein Querkopf es negiert, ein Gesetz, das damit seine verbindende Kraft verliert, daß irgendjemand es übertritt! Und dafür die bekannten Worte des römischen Juristen in l. I de R. J. (50. 17), welche nichts als den selbstverständlichen Satz enthalten, daß eine wissenschaftliche Formulierung des Rechts, die letzterem nicht vollständig entspreche ( cum in aliquo vitiatum est), keine Geltung habe ( perdit officium suum). Und aus dieser logischen Diskrepanz zwischen dem Recht und seiner theoretischen Formulierung macht der Verfasser die praktische zwischen dem Recht und seiner tatsächlichen Befolgung: tatsächliche Übertretung der Regel hebt die Regel auf! Wie werden die Diebe jubeln, wenn diese Lehre Anklang findet, – an der »bewußten und (– von ihren Spießgesellen –) gebilligten Vernachlässigung des Gesetzes« werden sie es nicht fehlen lassen. Befindet sich der Richter dem Gesetz gegenüber in einer andern Lage als sie?
Auf S.182 heißt es: »Die Erforschung und Darstellung des s. g. positiven Rechts kann nur in einem untergeordneten Sinn als wissenschaftliche Tätigkeit bezeichnet werden.« – – – »Die Wiederausgleichung der Störungen der durch die Idee der Gerechtigkeit vorgezeichneten Ordnung bildet den Inhalt des Richterberufs.« S. 180. »Gesetze, Gewohnheiten, wissenschaftliche Dogmen, Sätze der Billigkeit sind die Gewichte in der Wage der Gerechtigkeit, die bald miteinander vereint, bald gegeneinander wirkend, das Zünglein bald nach dieser, bald nach jener Seite lenken.« Der Leser wird sich jetzt ausmalen können, wie die Urteile ausfallen werden, wenn das neue Evangelium von der Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit durch den Richter bei den Zuhörern dieses Gelehrten Proselyten machen sollte, – – – möchte der Verfasser der erste sein, der es in einem Rechtsstreit an sich selber zu erproben hätte!
Solchen wissenschaftlichen Umsturzversuchen gegenüber ist meines Erachtens kein Wort zu scharf. Die Reform, welche sie der Jurisprudenz in Aussicht stellen, steht auf einer Linie mit derjenigen, welche einst die Kinder eines Bekannten von mir in Abwesenheit der Eltern mit der Einrichtung des Wohnzimmers vorgenommen hatten. Es war alles zu unterst und zu oberst gekehrt, der Tisch stand mit der Platte auf der Erde, die Stühle waren zu einem Turm zusammengebaut, die Bücher zu einer Pyramide, Spiegel und Bilder sahen die Wand an, kurz die Umgestaltung ließ nichts zu wünschen übrig. Ich verdanke es der Lektüre der obigen Schrift, daß mir diese meinem Gedächtnis längst entschwundene Geschichte wieder in die Erinnerung zurückgerufen worden ist.
Es war dies die Formel, mit der Savigny sie in seinen Vorlesungen abzutun pflegte. Die »neuern Juristen« sind mir damals immer als höchst dürftige Leute erschienen, jeder von uns Zuhörern fühlte sich erhaben über sie. Später bin ich freilich zu einem andern Urteil über sie gelangt und habe erkannt, daß ihre angeblichen Irrtümer nicht selten wertvolle Wahrheiten in sich schlossen, für die nur ihrem im starren romanistischen Purismus befangenen Kritiker der Blick und das Verständnis fehlte, s. meinen Geist des röm. Rechts II, 2. S. 466. Savigny klagt in der Vorrede zu seinem System des heutigen römischen Rechts (S. XXV) über die stets wachsende Scheidung zwischen Theorie und Praxis. Wer hat sie in höherem Grade verschuldet, als gerade er? Er, der Vertreter der historischen Richtung, hat zuerst das Beispiel gegeben, die historische Fortbildung des römischen Rechts auf unserem einheimischen Boden einfach zu ignorieren. Die Spolienklage und das Summariissimum dienen ihm nur dazu, die Verirrungen der praktischen Jurisprudenz in ein recht helles Licht zu setzen. Sein Glaube, durch quellenmäßige Korrektheit der Theorie dem Übel der Trennung zwischen Theorie und Praxis zu steuern, erinnert mich an die junge unerfahrene Hausfrau, welche ihrem Manne weiche Eier kochen sollte und nicht begreifen konnte, daß die Eier trotz allen Kochens nicht weich werden wollten.
So Savigny a. a. O. S. 474: (von dem Besitz der persönlichen Servituten). S. 480 (in Bezug auf Prädialservituten, welche in Handlungen des Berechtigten bestehen). Vom Erwerb des Quasibesitzes an ihnen wird hier gelehrt: Die Handlung, welche den Gegenstand des Rechts ausmacht, »muß irgend einmal ausgeübt und zwar als Recht ausgeübt sein.« Also auch in Abwesenheit des Eigentümers? Nimmt jemand die leerstehende Sommerwohnung eines andern im Winter in Besitz und setzt sich den ganzen Winter darin fest, so hat er trotz der ein ganzes halbes Jahr bestehenden corporalis possessio keinen Sachenbesitz, geht er in Abwesenheit desselben einmal über sein Grundstück, so hat er den Quasibesitz! Dasselbe Recht, das ihn in dem einen Fall gegen die einseitige Besitzaneignung des Gegners im Interesse der Erhaltung seiner Rechtsstellung vorsorglich schützt, läßt ihn in dem andern gänzlich schutzlos. Aber was kommt es auf das Interesse des Eigentümers an, wenn der Begriff die Entstehung des Quasibesitzes erfordert? Vom Verlust des Quasibesitzes heißt es auf S. 481: »Vom Verlust gilt hier ganz dasselbe, was oben bei den persönlichen Servituten bemerkt worden ist«. Nach S. 474 aber »wird dieser Besitz, wie jeder andere, fortgesetzt durch die ununterbrochene Möglichkeit, die ursprüngliche Herrschaft zu reproduzieren; verloren also durch die Aufhebung dieser Möglichkeit«. In derselben Weise äußert sich A. Randa, der Besitz nach österreichischem Recht. Aufl. 3. Leipzig 1879, § 34. S. 650, Note 1: »Der Quasibesitz besteht so wenig in der Ausübung, als der Sachbesitz in der Apprehension. Durch die Ausübung wird nur der Quasibesitz erworben. Der Quasibesitz besteht in der durch wenigstens einmalige Ausübung betätigten und gewollten Möglichkeit der Wiederausübung eines Rechts für sich.« S. 653 (für das österreichische Recht): »Besteht das Recht in gewissen sich wiederholenden Handlungen (Benutzungsakten), so geht der Besitz durch Ablauf der Verjährungsfrist nicht verloren, sobald unterhalb derselben die Handlung, wenn auch nur einmal vorgenommen wurde«, S. 655, »selbst wenn dem Kläger eingewendet werden könnte, daß er außer dem vor (z. B. nahezu dreißig) Jahren keinen weitern Rechtsgebrauch gemacht habe.« Ich habe diese Theorie nebst den Konsequenzen, zu denen sie führt (s. u.), bereits in meiner Schrift über den Grund des Besitzesschutzes, Aufl. 2. S. 174 fl., einer Kritik unterworfen, konnte mir hier aber dies Beispiel zur Illustration der Verirrungen der formalistischen Begriffsjurisprudenz nicht entgehen lassen.
So Puchta a. a. O. S. 73. Seine Deduktion kehrt sich hier gegen Savigny, der S. 474 sich folgendermaßen vernehmen läßt: »Da nämlich durch bloßen non usus am Ende eines bestimmten Zeitraumes die Servitut selbst verloren wird, so muß in der ganzen Zwischenzeit der Besitz verloren gewesen sein, obgleich jene Reproduktion stets möglich gewesen sein kann« ... Also inzwischen Besitz und hinterher doch wieder keiner, und das trotz des zugestandenen Daseins seiner Voraussetzungen während der ganzen Zeit und trotz der faktischen Natur des Besitzes! »Deswegen bleibt nichts übrig (– man sollte sagen: als zur Einsicht zu gelangen, daß es mit der aufgestellten Formel nichts ist –) als anzunehmen, daß während des bloßen Nichtgebrauchs der Besitz in suspenso ist, und daß es sich erst durch Erneuerung des Gebrauchs oder durch Ablauf des ganzen Zeitraums zeigt, ob er in der ganzen Zwischenzeit dagewesen oder nicht dagewesen ist.« Bei allen Rechtsverhältnissen, die sich in suspenso befinden, muß die Entscheidung bekanntlich erst abgewartet werden, der Expektant hat inzwischen keine Klage. Wie nun hier? Ich frage: wenn der in der Ausübung der Servitut vom Gegner gehinderte Quasibesitzer Rechtsschutz nachsucht, – hat er ihn oder hat er ihn nicht? Nach Savigny zweifellos ja! Folglich ist der Besitz zur Zeit nicht in suspenso, sondern er ist da. Und diese für die ganzen zehn Jahre zugestandene Gestalt des Verhältnisses wird dann von Savigny hinterher nach Abfluß derselben wieder auf den Kopf gestellt. Wir glaubten, während der ganzen Zeit, der Besitz wäre da. Aber der Quasibesitz ist ein Schäker, er hat uns die ganzen zehn Jahre hinters Licht geführt, – hinterher zeigt es sich, daß er gar nicht dagewesen ist.
Wir können dem Fall noch eine akutere Gestalt geben. Der Quasibesitzer, der am 31. December 1799 die letzte Ausübungshandlung vorgenommen hatte, hat, da er bei dem Versuch erneuerter Ausübung der Servitut im Jahre 1805 auf Widerstand des Gegners gestoßen ist, Klage erhoben und bei dem Richter, der die Savigny'sche Theorie zur Anwendung brachte, den Sieg davongetragen. Fernere Ausübungshandlungen sind bis zum 1. Januar 1811 gar nicht vorgekommen. Hier ist die Servitut wegen des non-usus vom 31. Dezember 1799 bis zum 1. Januar 1811 zweifellos untergegangen, während andererseits das Dasein des Besitzes im Jahre 1805 durch das Urteil rechtskräftig festgestellt worden ist. Soll sich hier das rechtskräftige Urteil dem Verdikt von Savigny fügen: es muß in der ganzen Zwischenzeit der Besitz verloren gewesen sein?
So führt Savigny uns das Bild eines Mannes vor Augen, der sich in eine Sackgasse verrannt hat. Hätte er den Mut der vollen Konsequenz gehabt, die des argumentum ab absurdo spottet, so würde er mit Puchta mutig bis zu Ende gegangen sein. Hören wir den Schüler, an dem der Lehrer diesmal seinen Meister in der Begriffsjurisprudenz gefunden hat.
»Man nimmt«, heißt es a. a. O. S. 72 »nun allerdings an, der bloße non usus hebe den Besitz nicht auf, aber wenn er so lange fortgedauert habe, daß dadurch das Recht zerstört werde, so müsse man dann auch den Besitz, und zwar schon von der Zeit an, wo der non usus eingetreten sei, als verloren betrachten. Dies scheint eine willkürliche Annahme zu sein; sie würde nur dann als gerechtfertigt erscheinen, wenn ein so wesentlicher Zusammenhang zwischen der Existenz des Rechts und dem Besitze desselben bestände, daß der letztere nicht ohne das erstere fortdauern könnte. Dies ist aber bei dem Quasibesitz so wenig der Fall als bei dem körperlichen. So gut jemand den Besitz eines Rechts erwerben kann, ohne das Recht selbst erworben zu haben, so gut kann er Besitzer bleiben, während das Recht untergegangen ist. Also steht an sich nichts entgegen, den noch als Besitzer zu betrachten, der das Recht durch den non usus verloren hat Ebenso Randa a. a. O. S. 650 Note 1: »Die Möglichkeit der Wiederausübung des Rechts kann offenbar auch dann noch fortbestehen, wenn das Recht durch non usus erloschen ist.«. Aber eine andere Frage ist, ob dieser Besitz für ihn noch die rechtlichen Wirkungen hat, die mit dem Besitz verknüpft sind, und ob also nicht sein Besitz wirkungslos geworden ist, somit dem Effekte nach aufgehört hat zu existieren.« Darauf lautet die Antwort für die Ersitzung: »wenn wir auch dem, der einmal in den Besitz gekommen ist und diesen nicht auf die eben angegebene Weise verloren hat, den Besitz nicht absprechen können, so hilft ihm doch dieser Besitz nicht zur Ersitzung, weil dieselbe wirkliche fortwährende Ausübung voraussetzt.« In Bezug auf die Interdikte: »Das Erfordernis des gegenwärtigen Besitzes für den Kläger ist bei ihnen auf so eigentümliche Weise bestimmt, daß der bloße Erwerb und Nichtverlust des Besitzes auch zu dieser Wirkung nicht hinreicht« ... Aber gleichwohl »bleibt der Satz stehen, daß der Quasibesitz dieser Rechte ohne wirkliche Ausübung zwar nicht entstehen, aber fortgesetzt werden kann; indessen ist dieser Satz ohne praktische Wirkung, weil die beiden Wirkungen des Besitzes hier nicht bloß seine Existenz in abstracto, sondern einen Zustand wirklicher Ausübung fordern«.
Also ein Besitz ohne die Wirkungen des Besitzes – »ein Besitz in abstracto« – »Sätze ohne praktische Wirkungen, welche doch stehen bleiben«!
Ein Seitenstück zu diesem Quasibesitz ohne Wirkungen hat Puchta, (Pandekten § 11, g) bei dem Gewohnheitsrecht geliefert, dessen Ausschließung von Seiten des Gesetzgebers dasselbe » nur seiner Wirkungen auf den Richter beraubt«! – ein Feuer, das nicht brennt, ein Licht, das nicht leuchtet! S. darüber meinen Zweck im Recht I S. 321 (Aufl. 2, S. 322).
Ist die Kritik, die ich im Bisherigen über die Begriffsjurisprudenz geübt habe, eine zu harte gewesen?
Dies hatte Savigny in den ersten fünf Auflagen seines Buchs stillschweigend angenommen. Erst in der sechsten Auflage kommt folgender Zusatz hinzu (S. 475): »Eine etwas ( sic!) verschiedene Bewandtnis hat es mit der Fortsetzung des Besitzes, insofern diese zu einem Erwerb durch Ersitzung führen soll. Hier nimmt Unterholzner (Verjährungslehre § 214) an, der Besitz dauere fort, wenngleich gewöhnliche Unterbrechungen der Ausübung stattfinden (– ungenau ausgedrückt! Unterholzner sagt: wenn die einzelnen Handlungen bloß durch gewöhnlich vorkommende Zwischenräume getrennt sind –), dagegen sei er unterbrochen, wenn man die Ausübung ganz ungewöhnlich lange Zeit hindurch unterlassen habe (Wiederum ungenau! Unterholzner sagt: »wenn der Weg längere Zeit unbenutzt bleibt, als es bei Wegservituten vorzukommen pflegt«). Diese Annahme, bei welcher freilich ein sehr freies Ermessen des Richters unvermeidlich ist, scheint richtig.«
Damit haben wir also einen andern Besitzbegriff für die Ersitzung, einen andern für den Besitzesschutz, für jenen ist die angeblich ganz generelle Formel der bloßen Möglichkeit der Reproduktion des ursprünglichen Verhältnisses aufgegeben, es bedarf der Wirklichkeit derselben. Für diesen ist sie beibehalten. Was lag nun näher, als die damit preisgegebene Einheit der Voraussetzungen der Ersitzung und des Besitzesschutzes auf dem Wege wieder herzustellen, daß das Moment des fortgesetzten uti auch auf den Interdiktenbesitz übertragen wurde? Wird es doch in der Fassung der Interdikte stets betont (S. 290 Anm.). Aber dann wäre es um die obige Formel gänzlich geschehen gewesen.
Unterholzner hatte früher auch für die Ersitzung die volle Konsequenz der Formel gezogen: »Wenn sich freilich während der ganzen Ersitzungszeit keine Gelegenheit zur Ausübung darböte, so könnte das einzige Faktum der Besitzergreifung zur Ausübung hinreichen!« – ein Servitut durch Ersitzung entstanden, die man vor zehn Jahren zum ersten und letzten Male ausgeübt hat!
Röder, Grundzüge des Naturrechts oder Rechtsphilosophie Abt. II, Aufl. 2, Heidelberg 1863, S. 91: »Meist wird zwar Zudringlichkeit aller Art (z. B. neugieriges Ausfragen, Eintreten zur Tür ohne Aufforderung u. dgl.) nur als Verstoß gegen die feine Sitte und Lebensart betrachtet und das Urteil darüber lediglich allen Gebildeten anheimgegeben; allein sie verletzt ohne Frage zugleich das Recht und darf durch alle rechtlichen Mittel (– wie hat der Verfasser sich die wohl gedacht?) und nötigenfalls durch den Verletzten selber abgewehrt werden.« Das Recht, das dadurch verletzt wird, figuriert in der Überschrift des Paragraphen als »Recht des Eigenlebens oder des Umganges mit sich selbst« – ein Umgang, der seine Schwierigkeiten und unter Umständen wenig Wert haben dürfte – der Gefangene hat ihn! Eine Verletzung dieses Rechts enthält auch »der Zeitdiebstahl durch überlästige Besuche, zudringliche Vergleichsstifterei (zumal von Gesetzes- und Gerichtswegen), selbst das Vorschreiten von Amtswegen wegen Ehebruchs, Notzucht, Unzucht, anstatt erst den Antrag der zunächst Beteiligten abzuwarten« (S. 92). Man sieht: mit dem Naturrecht ist nicht zu spaßen, niemand ist sicher, sich nicht gegen die Bestimmungen desselben zu vergehen. Selbst »das Aufnötigen einer wenn auch richtigen, doch der Fassungskraft anderer noch zu hohen Ansicht durch rücksichtslose Geltendmachung unserer geistigen Überlegenheit gehört streng genommen hierher.«
Der Verfasser hat in Bezug auf die Vergehen gegen das Naturrecht ein ungemein ausgebildetes Auge. Auf S. 94 gesellen sich zu den obigen Fällen, die der geistigen Zudringlichkeit angehören, als Beispiele der leiblichen u. a. folgende hinzu: »die schamlos öffentliche Untersuchung Schwangerer in manchen Gebärhäusern, alle unnötigen Körperbesichtigungen bei Kriegsdienstpflichtigen und anderen, die Durchsuchungen vermeintlicher Schmuggler von Seiten der Mautbeamten oder Gefangener – zumal weiblicher – durch rohe Gefangenwärter.« Den letzteren Passus werden gewiß alle Schmuggler und Gefangenen gern unterschreiben, ich bin überhaupt der Ansicht, daß sie sich beim Naturrecht ungleich besser stehen als beim positiven Recht.
Röder a. a. O. S. 98, wo auch »die Verhinderung der Auswanderung durch den Vorwand der Kriegsdienstpflicht« genannt und durch das Argument abgetan wird, daß »niemand mehr durch das Staatsbürgerrecht bedingte Pflichten haben kann, sobald er dieses selbst aufgibt.« Eine ganze Menge von Verstößen, welche sich die Staatsgewalt gegen die privatrechtliche Gleichheit außerdem noch zu Schulden kommen läßt, findet man S. 144, z. B. das Post-, Bergwerk-, Salz-, Tabak-Monopol. Wie viel muß sich in der Welt noch ändern, bis das Naturrecht zur vollen Verwirklichung gelangt!