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Vierte Abteilung

Wieder auf Erden.
Wie soll es besser werden?


Es ist kein vorteilhaftes Bild, das der Leser, der mir bisher gefolgt ist, von unserer heutigen deutschen romanistischen Wissenschaft mit hinwegnimmt, und ich bin auf den Vorwurf gefaßt, daß dasselbe ein verzerrtes sei, daß es nicht von einem Porträtmaler, sondern von einem Karikaturenzeichner entworfen worden sei. Ich meinerseits halte dasselbe für ein zutreffendes; ich bekenne mich hier, wo der Ernst den Scherz ablösen soll, in voller Ernstlichkeit zu alledem, was nach der gewählten Art der Einkleidung manchem vielleicht nur als Spiel des Scherzes, Witzes, Humors erscheinen könnte. Es ist mir bitterer Ernst mit dem Angriff, den ich gegen die »Begriffsjurisprudenz« d. i. die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft unternommen habe, und wenn ich mich bei demselben der Waffen des Scherzes, Humors, Spottes und der Satire bedient habe, so geschah es, weil ich sie für die wirksamsten hielt. Ich weiß, daß niemand sich ihrer bedient, ohne dafür büßen zu müssen, und ich meinerseits bin darauf gefaßt. Wenn ich mich darein ergebe, so geschieht es nicht, weil ich dagegen unempfindlich wäre, sondern weil ich es für meine Pflicht halte, die Rücksichten auf mich dem Interesse der Sache unterzuordnen. Schon seit einer Reihe von Jahren habe ich die Überzeugung gewonnen, daß der Weg, den unsere romanistische Wissenschaft eingeschlagen hat, und den ich als junger Mensch ebenfalls gewandelt bin, nicht der richtige ist; ich bin dessen zuerst an mir selber innegeworden. Es gab eine Zeit, wo Puchta mir als Meister und Vorbild der richtigen juristischen Methode galt, und wo ich so tief in derselben befangen war, daß ich das Vorbild hätte überbieten können. Ich habe noch eine Reihe von angefangenen, zum Teil weit ausgeführten Arbeiten liegen, die im Geist dieser Methode entworfen waren, z. B. eine Lehre von den Sachen, bei der ich mit den rein formalen Kategorien von Form und Substanz, Einheit, Identität, Modalität u. s. w. das römische Sachenrecht in streng logischer Weise glaubte aufbauen zu können, sodann eine Lehre vom Schadenersatz, bei der ich die Entscheidungen unserer Quellen über die Ästimation vorhandener Wertobjekte für die der vernichteten oder nicht geleisteten d. h. nach meinem Dafürhalten für die Lehre vom Schadenersatz zu verwenden und letztere auf den logisch unanfechtbaren Satz zu bauen gedachte, daß X, ob mit dem Plus- oder Minuszeichen versehen, dieselbe Größe sei. Daß bei der legislativen Gestaltung beider Lehren andere Gesichtspunkte in Betracht kamen, als das Interesse einer apriorischen logischen Konstruktion, davon hatte ich damals gar keine Ahnung, und ich erinnere mich noch, wie gering ich von befreundeten Praktikern dachte, welche die zwingende Kraft meiner Ideen und Deduktionen nicht zu begreifen vermochten. Kurz, es kann kaum jemand ein solcher Fanatiker der logischen Methode gewesen sein, als ich zu jener Zeit, und meine damaligen literarischen Leistungen tragen vielfach Spuren davon, in erster Linie mein Programm zu den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts (Bd. 1, 1857, Nr. 1. Unsere Aufgabe). Aber dann kam bei mir der Umschwung. Nicht von innen heraus, sondern durch äußere Anregungen: durch den regen Verkehr mit Praktikern, den ich stets gesucht, gepflegt und mir zunutze gemacht habe, – durch die Anlässe zur eigenen praktischen Tätigkeit, welche die Spruchfakultät und die Aufforderung zur Ausstellung von Rechtsgutachten an mich herantrug, und die mich nicht selten vor der Anwendung von Ansichten, die ich früher verteidigt hatte, Selbst öffentlich, so z. B. die in meinen Abhandlungen aus dem römischen Recht (Leipzig 1844) S. 59, 71 verteidigte Frage von dem Anspruch des Verkäufers auf Zahlung des doppelten Kaufpreises bei Untergang der doppelt verkauften Sache. Der in meiner Abhandlung in den Jahrbüchern III, S. 451 berichtete Fall, den ich in der Spruchfakultät zu entscheiden hatte, öffnete mir die Augen, und ich kann mich nicht enthalten, die Worte, mit denen ich die Zurücknahme der von mir früher verteidigten Ansicht begleitete (S. 450), hier abdrucken zu lassen; sie enthalten den ersten öffentlichen Schritt in die neue Bahn. »Es ist in der Tat ein anderes Ding, unbekümmert um die Folgen und das Unheil, das ein Rechtssatz, den man in den Quellen zu lesen oder aus der Konsequenz zu entnehmen glaubt, im Leben anstiftet, sich rein theoretisch mit ihm abzufinden oder aber ihn zur Anwendung zu bringen. Eine ungesunde Ansicht, wenn sonst nur das Subjekt selbst noch gesund ist, hält eine solche Probe nicht aus.« zurückschrecken ließen, – endlich nicht zum geringsten Teil auch durch das Pandektenpraktikum, das ich mein ganzes Leben hindurch gehalten habe, und das in meinen Augen für den Lehrer selber eins der wertvollsten Korrektive gegen ungesunde theoretische Ansichten enthält. Im vierten Bande meines Geistes des römischen Rechts (1865) habe ich dann zuerst gegen den »Kultus des Logischen«, und die »Schuldialektik« öffentlich die Lanze eingelegt (§ 59), nachdem ich dies bereits ohne Nennung meines Namens in den oben abgedruckten Vertraulichen Briefen über die heutige Jurisprudenz (1861 u. f.) getan hatte.

Die Erkenntnis der Notwendigkeit, dem bloß negativen Widerspruch die positive Vorzeichnung des richtigen Weges folgen zu lassen, hat mich bestimmt, das obige Werk vorläufig zur Seite zu legen und mein Werk über den »Zweck im Recht« in Angriff zu nehmen, das eben dieser Aufgabe gewidmet ist. Es ist mir nicht leicht geworden, von einem Werk zu scheiden, in dem ich die Aufgabe meines Lebens erblickt hatte, und zu dessen Fortsetzung und Beendigung alle Vorarbeiten vor mir lagen, aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, und ich würde mich in der Erfüllung derselben auch durch die Gewißheit nicht haben abhalten lassen, daß ich mir durch die Vollendung des ersteren Werks in ungleich höherem Grade den Dank und die Anerkennung meiner Fachgenossen erworben hätte, als durch die Inangriffnahme und Vollendung des zweiten. Das reale Interesse der Gegenwart steht mir höher, als das der historischen Erforschung der Vergangenheit, und wenn es mir gelingt, in der ersteren Richtung mich nützlich zu erweisen, so mögen immerhin die Früchte, die mir auf dem letzteren Gebiet beschieden gewesen wären, ungepflückt bleiben; in meinen Augen ist jener Erfolg durch den Preis nicht zu teuer bezahlt.

Dieselbe Gesinnung hat mich auch bei der Herausgabe der gegenwärtigen Schrift geleitet. Ich weiß, daß sie mir mehr Brennesseln als Lorbeeren eintragen wird, aber ich weiß auch, daß sie wirken wird, und dafür nehme ich erstere schon in den Kauf. Sie ist das Werk eines Mannes, der selber jahrelang unter dem Bann gestanden hat, von dem er andere befreien will. Wer selber Sklave gewesen ist, weiß, was die Knechtschaft bedeutet. Gerade als ehemaliger eifrigster Vertreter der Richtung, die ich jetzt bekämpfe, halte ich mich berufen gegen sie zu Felde zu ziehen. Wie immerhin man auch über das harte Strafgericht, das ich an ihr vollzogen habe, urteilen möge, meine Kompetenz zur Abgabe eines Urteils wird niemand bestreiten. Kämen die Vorwürfe und Ausstellungen, an denen ich es nicht habe fehlen lassen, aus dem Munde eines Praktikers, man würde ihr moralisches Gewicht dadurch zu entkräften suchen, daß es eben ein Praktiker sei, der von seinem Standpunkt aus der Theorie nicht habe gerecht werden können. Aber ich selber bin Theoretiker, und bei mir verfängt diese Art der Abwehr nicht. Wer mir entgegentreten will, kann es nicht auf dem Wege der Bemängelung meiner Kompetenz, sondern nur durch den Nachweis, daß sachlich die Vorwürfe, die ich erhoben habe, unbegründet sind. Ich habe sie durch eine Reihe von Belegen an vielen Orten dieser Schrift begründet; man weise mir nach, daß sie nicht geeignet sind, mein Urteil zu rechtfertigen. Ich habe aus dem reichen Füllhorn, das ich seit zwanzig Jahren zusammengebracht habe, nur einige Proben herausgegriffen, und ich behalte mir vor, wenn man sie für nicht ausreichend erachten sollte, ihnen so viele andere folgen zu lassen, daß auch dem Blindesten die Augen geöffnet werden sollen. Alle andern Vorwürfe, die man gegen diese Schrift erheben wird, und welche ich ihren Kritikern nicht zu suppeditieren brauche, überwinde ich in dem Gedanken, daß die Schrift so und nicht anders geschrieben sein mußte, um ihre Wirkung zu tun.

Ihre Wirkung? Die Lacher auf meine Seite bringen? Gewiß! ich hoffe es! Aber diese Wirkung soll mir nur als Mittel dienen, um eine andere zu erzielen, um die es mir in erster Linie zu tun ist. Es ist nicht schwer, ernste Dinge ins Lächerliche zu ziehen, das Erhabenste und Heiligste ist davor nicht sicher gewesen. Es ist die unsittliche Frivolität, die nur das Licht des eigenen Geistes leuchten, ein Feuerwerk des Witzes spielen lassen will, unbekümmert darum, ob die Schwärmer und Raketen, die sie entsendet, das wertvolle Besitztum anderer in Brand setzen. Aber ein anderes ist es, das Licht leuchten lassen, um die Schäden und Mängel eines Dinges in hellste Beleuchtung zu setzen, damit sie erkannt und verbessert werden. Und darauf allein habe ich es abgesehen. Es soll und muß anders werden mit unserer romanistischen Theorie, in der bisherigen Weise kann es nicht so weiter gehen, – sie muß ablassen von dem Wahn, als ob sie eine Mathematik des Rechts sei, die kein höheres Ziel kenne, als ein korrektes Rechnen mit Begriffen.

Er hat etwas Verführerisches, dieser Wahn, und niemand hat den Reiz desselben in höherem Maße an sich erfahren, als ich selber. Ich suchte darin einst ausschließlich den wissenschaftlichen Charakter der Jurisprudenz, die Befreiung von dem geistigen Druck, mit dem das rein Positive auf mir lastete. Aus der niederen Welt des Positiven, die, heute so, morgen so, meinem wissenschaftlichen Bedürfnis, das etwas Dauerndes, Festes, an sich Wahres begehrte, keine Befriedigung gewährte, rettete ich mich in die höhere Welt der in sich ruhenden Begriffe, an welche die Macht des Gesetzgebers nicht hinanreichte. Ich habe den Irrtum, dem ich dabei verfallen war, erkannt.

Was waren denn alle die Begriffe, bei denen ich mich vom Bann des Positiven befreit glaubte, anders als Ablagerungen positiver Rechtssätze, von den Römern in eine logisch konzentrierte, d. h. begriffliche Form gebracht? Ist der Begriff des römischen Eigentums, der wesentlich auf der reivindicatio beruht, etwa nicht positiver Art? Wird die reivindicatio durch den Begriff des Eigentums logisch postuliert? Dann müßte man sich das Eigentum ohne sie ebensowenig zu denken vermögen, wie ein Messer ohne Klinge. Wer dies glaubt, mag sich bei unsern modernen Rechten eines Bessern belehren. Die Frage von der reivindicatio ist eine reine Zweckmäßigkeitsfrage, und für bewegliche Sachen halte ich die unbedingte Zulassung derselben für so wenig geboten, daß ich sie im Gegenteil vom Standpunkt unseres heutigen Verkehrsrechts aus für verfehlt erachte. Hat der Quasibesitz der Servituten, weil er von der römischen Theorie begrifflich formuliert ist, Anspruch auf Geltung? Wiederum eine reine Zweckmäßigkeitsfrage, die man, um das mindeste zu sagen, in dem einen und andern Sinn beantworten kann. Liegt es im Wesen der Obligation, wie man so häufig hören muß, daß die Klage aus derselben nur gegen den Schuldner selber gehen kann, nicht gegen Dritte? Wie denn, wenn das Gesetz die Bestimmung trifft, daß der Gläubiger auch gegen den Dritten eine Klage haben soll, der wissentlich vom Schuldner die geschuldete (z. B. die ihm vermietete, geliehene, bei ihm deponierte, von ihm gekaufte) Sache erwarb? Die Theorie mag diese Klage unter den Gesichtspunkt einer actio de dolo bringen, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß hier der Gläubiger lediglich auf Grund seines obligatorischen Anspruches eine Klage gegen den Dritten erhält. So schon bei den Römern die act. Pauliana, die im Fall der Schenkung nicht einmal die mala fides in der Person des Beklagten voraussetzt; die in rem missio des Fideikommissars (meine Jahrb. X S. 514); der Schutz des imitierten Gläubigers gegen den Dritten, l. 14 pr. quib. ex caus. (42. 4). S. über diese Rechtsvereitelung, wie ich sie genannt habe, meine Jahrb. X, S. 318-331, wo ich schließlich die Überzeugung ausgesprochen habe, daß »die Ausdehnung der act. in personam auf den bösgläubigen Erwerber des Obligationsobjekts in nicht zu langer Zeit geltendes Recht sein dürfte«. Und geben nicht die Römer selber uns zahlreiche Beispiele einer solchen Umgestaltung der Begriffe? Den Nießbrauch dehnen sie auf verbrauchbare Sachen, das Pfandrecht auf Rechte aus. Ein Begriffsjurist der heutigen Zeit würde gesagt haben: das geht nicht, der Nießbrauch, das Pfandrecht sind jura in re, sie haben die res zu ihrer begrifflich notwendigen Voraussetzung. Aber es ging doch, und die Römer haben gewußt, warum sie es taten, und haben sich gut dabei gestanden. Einem praktisch vom Gesetzgeber für notwendig erachteten Rechtssatz den Einwand des begrifflich Unmöglichen, Widersinnigen, Verfehlten entgegensetzen, enthält die schlimmste Anklage, welche der Jurist gegen sich selber erheben kann. Der Vorwurf des mangelhaften juristischen Denkens fällt auf ihn selber zurück, er enthält das Eingeständnis, daß sein Begriffsvermögen nicht imstande ist, die reale Welt zu begreifen – eine einfache geistige Bankerotterklärung –, zugleich aber auch den unwidersprechlichen Beweis, daß er sich über die wahre Natur der Begriffe, denen er diese Unantastbarkeit vindiziert, nicht klar geworden ist, denn sonst müßte er wissen, daß sie des Positiven und Historischen ebensoviel enthalten, wie das Neue, dem er den Zutritt verwehrt, und daß bloß die Gewohnheit ihm das überkommene Alte in einem andern Licht erscheinen läßt als das Neue. Bis zu welchem Maße die römischen Juristen in der Zulassung des »Begriffswidrigen« vorgegangen sind, habe ich oben (S. 300) an einem schlagenden Beispiel dargetan: sie lassen nach dem Tode des Besitzers die Ersitzung fortdauern ohne Besitz – –, wie wäre ein moderner Gesetzgeber verketzert worden, wenn er sich dies hätte herausnehmen wollen!

Also eine Täuschung ist es, als ob die Begriffe bloß, weil sie einmal da sind, die Geltung unumstößlicher logischer Wahrheiten beanspruchen könnten. Sie stehen und fallen mit den Rechtssätzen, denen sie entnommen sind. Werden letztere beseitigt, weil sie nicht mehr passen, so müssen auch sie weichen oder eine veränderte Gestalt annehmen, so gut wie das Futteral weggeworfen, erweitert oder verändert werden muß, wenn der Gegenstand, für den es bestimmt war, gegen einen andern vertauscht oder größer oder kleiner gemacht worden ist, und die Jurisprudenz sollte, anstatt sich der Neuerung zu widersetzen, dieselbe umgekehrt mit Freuden begrüßen, da sie dadurch Gelegenheit zu neuer begriffsgestaltender Tätigkeit erhält.

Eine ebensolche Täuschung ist es, als ob die Begriffe, wie sie einmal angenommen sind, einen Anspruch auf schlechthinnige Annahme aller in ihnen gelegenen Konsequenzen erheben dürften. Es ist ein schönes Ding um das konsequente Denken, und kaum in irgend einer Wissenschaft außer der Mathematik findet dasselbe einen so weiten Spielraum vor als in der Jurisprudenz, und gerade darauf beruht die außerordentliche Anziehungskraft, die sie von jeher auf alle entsprechend beanlagten Naturen ausgeübt hat und stets ausüben wird. Ich erinnere mich noch der Zeit, als ich nach beendetem Studium, um mich auf die akademische Laufbahn vorzubereiten, mich in die Lektüre der römischen Quellen vertiefte. Welch unvergleichlicher Hochgenuß, den mir dieselbe gewährte! Es war mir, als ob sich mir eine geistige Welt erschlösse, mit der nichts von alledem, was ich bis dahin hatte kennen lernen, sich messen könne. Es war mir zu Mute wie dem Seemann, der in die offene See hinaussteuert, das majestätische Meer vor sich, den Himmel über sich, mit Lust die frische, belebende Seeluft atmend, frei von allen beengenden Fesseln und Banden des Landes, ganz auf sich selber und seinen Kompaß gestellt. Gerade aber diese Freiheit, dieser weite Spielraum, den das eigene Denken vorfindet, das durch alles, was andere vorher gedacht haben, mehr angeregt als gehemmt wird, – gerade dies schließt neben dem bestrickenden Reiz zugleich eine große Gefahr in sich: die Gefahr, auf Sandbänke und Klippen zu stoßen und das endliche Ziel zu verfehlen. Der Vergleich mit dem Seemann trifft für den Theoretiker in der doppelten Beziehung zu, daß er den Bestimmungshafen erreichen und die Abirrungen vom vorgeschriebenen Kurse und die Klippen und Sandbänke vermeiden soll. Er soll nicht bloß zu eigener Lust umhertreiben auf offener See, sondern landen, und die Fahrt muß sich bezahlt machen durch die Güter, die er ausladet. Gerade das aber ist es, was ich der Begriffsjurisprudenz zum Vorwurf mache, daß sie fährt, ohne sich darum zu kümmern, ob sie, wenn sie nach langer Fahrt endlich anlangt, wirkliche Güter, d. h. solche, welche für das Leben einen Wert haben, auszuladen vermag. In strengster Verfolgung der Begriffe gelangt sie zu so überaus fein zugespitzten Unterschieden, daß dieselben in der Hand des Praktikers, der mit ihnen operieren soll, zerbrechen, – sie ladet sie einfach ab und überläßt ihm die Sorge, wie er sie anwenden will. Aber er läßt sie liegen, es ist theoretischer Ballast, den er nicht gebrauchen kann, – die ganze Fahrt ist umsonst gewesen, ein Spiel des Verstandes, das demjenigen, der es angestellt, und denjenigen, die sich in ähnlicher Weise zu ergötzen pflegen, ein Vergnügen bereitet haben mag, für das Leben aber keine Früchte abgeworfen hat. Oder steht in Wirklichkeit die Sache anders, wenn die Theorie auf dem Wege der logischen Deduktion Rechtssätze gewonnen hat, die wegen der völligen Widersinnigkeit des Resultates aller Anwendung spotten, wie z. B. die oben (S. 58 ff.) persiflierte Ansicht, daß bei einer Verpfändung des ganzen Vermögens die Priorität der Pfandrechte sich nach dem Datum des Eintritts der einzelnen Gegenstände in das Vermögen bestimme, oder die sich mit dem gesetzlich erklärten Zweck des Instituts in Widerspruch setzen, wie z. B. die oben (S. 292) erwähnte Ansicht Savigny's von der Unverjährbarkeit gewisser Klagen wegen Mangels der Rechtsverletzung. Es sind die Sandbänke und Klippen, bei denen die Theorie, wenn sie sich einmal nicht darauf gesteift hätte immer geradeaus zu gehen, umkehren und innewerden müßte, daß der Kurs, den sie eingeschlagen hat, ein verfehlter war. Doktrinäre Formulierungen und Abstraktionen, welche zu praktisch widersinnigen Resultaten oder zu einem Widerspruch mit dem erklärten Willen des Gesetzes führen, sprechen sich damit selber ihr Urteil, es muß bei Aufstellung derselben ein Fehler begangen worden sein. Eine Formel, wie die Savigny'sche, über die Fortdauer des Besitzes, welche den Besitz von der Tatsächlichkeit gänzlich ablöst und ihn auf Grund der bloßen Möglichkeit der Reproduktion ohne alle Realität bei der physischen Person ein ganzes Menschenleben und bei juristischen Personen (S. 296) ewig fortbestehen läßt, bekundet eben damit ihre vollendete Verkehrtheit, und wenn nicht bloß ihr Urheber lebenslänglich daran festhielt, sondern wenn sie auch in der Doktrin allgemeine Zustimmung zu finden vermochte, so enthält dies den Beweis, daß man das praktische Ziel des Rechts gänzlich aus den Augen verloren hatte. In praktischen Dingen enthält das Facit die Probe auf den Ansatz des Rechenexempels; ist ersteres verfehlt, so muß bei letzterem ein Irrtum begangen sein, der Ansatz muß einer erneuerten Prüfung unterworfen werden – das praktische Resultat hat das Korrektiv des theoretischen Denkens abzugeben.

Damit habe ich den Punkt berührt, der die Signatur der heutigen Begriffsjurisprudenz, wie ich sie nenne, in sich schließt. Jede Jurisprudenz operiert mit Begriffen, juristisches und begriffliches Denken ist gleichbedeutend, in diesem Sinne ist also jede Jurisprudenz Begriffsjurisprudenz, die römische in erster Linie; eben darum braucht der Zusatz nicht erst hinzugefügt zu werden. Wenn dies hier meinerseits gleichwohl geschieht, so ist damit jene Verirrung unserer heutigen Jurisprudenz gemeint, welche, den praktischen Endzweck und die Bedingungen der Anwendbarkeit des Rechts außer Acht lassend, in demselben nur einen Gegenstand erblickt, an dem das sich selber überlassene, seinen Reiz und Zweck in sich selber tragende logische Denken sich erproben kann, – eine Arena für logische Evolutionen, für die Gymnastik des Geistes, in der dem größten Denkvirtuosen die Palme zufällt.

Woher nun eine solche Verirrung in einer so praktischen Wissenschaft, wie die Jurisprudenz es ist? Niemand wird um die Antwort verlegen sein: sie hängt zusammen mit dem Gegensatz von Theorie und Praxis oder, genauer gesprochen, mit der äußeren Gestalt desselben in Form zweier verschiedener Berufsstände, von denen dem einen vorzugsweise die Pflege der Theorie, dem andern die der Praxis zufällt. Jede praktische Wissenschaft schließt den inneren Gegensatz der Theorie und Praxis in sich, und zwar nicht bloß in dem Sinn, daß man objektiv in der Vorstellung den Inbegriff der anzuwendenden Regeln, Grundsätze, Kunstgriffe von der Anwendung derselben unterscheiden kann, sondern selbst subjektiv im Sinn einer verschiedenen Beanlagung oder Ausbildung der Individuen in Bezug auf die eine oder die andere. Es gibt Praktiker von großem theoretischen Wissen, aber von geringem praktischen Geschick und Blick – die von jedem tüchtigen Praktiker so sehr gefürchteten »Gelehrten« unter ihnen, – und umgekehrt andere mit geringem theoretischen Wissen, aber von einem eminenten praktischen Treffer. Dieser Gegensatz wiederholt sich selbst in Bezug auf ganze Völker, – nach meinem Urteil sind z. B. die Franzosen und Italiener an praktisch-juristischer Begabung uns Deutschen entschieden überlegen.

Die naturgemäße Gestaltung des Verhältnisses ist nun sicherlich die Verbindung beider Seiten zur Einheit des Berufes, hier stehen beide im lebhaftesten Wechselverkehr, in dem sie sich gegenseitig fördern, befruchten und im Gleichgewicht erhalten. Woher nun die Trennung beider zu besondern Berufsarten? Das Motiv dazu hat gegeben das Interesse des Unterrichts, – der Theoretiker auf dem Gebiete der Jurisprudenz hat sich entwickelt aus dem Lehrer. Nicht aus dem Manne, dem seine Muße und Lebensstellung es verstattete, das Recht aus wissenschaftlichem Interesse zum Gegenstand eines eindringenderen Studiums zu machen, als es in dem Drang und der Geschäftigkeit der praktischen Tätigkeit möglich ist – dem wissenschaftlichen Anachoreten. Solche Erscheinungen sind vereinzelter Art und finden in den Verhältnissen des Lebens keine äußere Nötigung. Aber die Tätigkeit des Lehrers findet sie. Sie findet sie dann, wenn der Umfang des Rechts und die Entwicklung der Theorie zu einem Grade vorgeschritten sind, daß die Aneignung beider von Seiten des Neulings auf dem Wege des bloßen Privatstudiums und des praktischen Kursus bei dem Manne des Lebens sich fernerhin nicht mehr als ausreichend erweist. So war es in Rom zu Ende der Republik. Von dem praktischen Kursus, den bis dahin ein jeder bei einem angesehenen Juristen durchmachte (dem instruere), scheidet sich jetzt der theoretische Einleitungsunterricht (das instituere) ab, zuerst rein als Privatsache, als ein vorübergehendes Verhältnis dieses Schülers zu diesem Lehrer, dann dauernd und fest organisiert in Gestalt öffentlicher Lehranstalten, der bekannten Rechtsschulen von Labeo und Capito und ihren Nachfolgern.

Für die Entwicklung der römischen Rechtstheorie hat diese Ausscheidung der Lehrtätigkeit zu einem selbständigen Lebensberuf so wenig nachteilige Folgen gehabt, daß umgekehrt erst von ihr an der bekannte Aufschwung derselben datiert, der in der klassischen Jurisprudenz gipfelt. Meines Erachtens ist die hohe Bedeutung dieser Tatsache viel zu wenig betont worden, in meinen Augen enthält sie den Wendepunkt in der Geschichte der römischen Jurisprudenz, den Übergang von der praktischen Epoche derselben zur eigentlichen Rechtswissenschaft. Mit dem Lehren, dem mündlichen oder dem schriftlichen, tritt an jedes Wissen, welcher Art es auch sei, eine Nötigung heran, die mit ihm allein noch keineswegs gegeben ist: die der korrekten, genauen Formulierung desselben. Es ist bekanntlich ein anderes Ding, etwas wissen, und es einem andern klar machen. In der letzteren Aufgabe liegt die Nötigung, sich selber vorher völlig klar zu werden – die Erhebung des mehr oder minder Unbewußten, des bloß Gefühlten oder des halb Gewußten zur Form des Bewußtseins oder des vollen Wissens. Der Satz: docendo discimus hat nicht den Sinn, daß man, um zu lehren, selber manches hinzulernen muß, sondern daß man durch das Lehren dasjenige, was man mehr oder minder unklar in sich trägt, sich selber erst zur Klarheit bringe. Eine ähnliche höchst treffende Wendung der deutschen Sprache ist die: sich klar schreiben. Ich meinerseits habe die Wahrheit derselben unzählige Male an mir erfahren. Selbst bei Ideen, die ich jahrelang mit mir herumgetragen und in mir verarbeitet habe, erfahre ich immer wieder von neuem, daß ich ihrer erst dann vollkommen mächtig geworden bin, wenn ich sie schriftlich ausgeprägt habe. Ich bin der Überzeugung, daß in manchen reich begabten Geistern, von denen die Welt nie etwas vernommen hat, Ahnungen, Ideen, Anschauungen geschlummert haben, die ihren Trägern den höchsten Ruhm eingebracht haben würden, wenn eine äußere Nötigung sie gezwungen hätte, sie aus sich herauszusetzen. Es geht im Innern des Menschen vielleicht ebensoviel verloren, wie in der äußern Natur, – der wenigste Same geht auf, und nicht selten ist es der des Unkrauts, der gedeiht und üppig wuchert, während der edle Same wegen Ungunst der Verhältnisse in der Erde verfault oder am Wege verdorrt.

Ist dies richtig, so ist der Lehrer von Beruf, wenn er auch in Bezug auf den Umfang und die Tiefe seines Wissens hinter einem andern zurücksteht, in Bezug auf die Form desselben letzterem überlegen. Sein Beruf nötigt ihn, sein Kapital sozusagen stets in couranter Münze gegenwärtig zu haben, Barvorräte bei sich zu führen, während jener seine Kapitalien fest angelegt hat und schwerer flüssig macht. Die Stärke des juristischen Praktikers besteht in der Sicherheit und Leichtigkeit der sofortigen Anwendung, die des juristischen Theoretikers in der Fähigkeit der leichten und zutreffenden Formulierung. Der Beruf übt in dieser Beziehung, wie es ja nicht anders sein kann, einen entscheidenden Einfluß aus; derselbe Mensch würde in der einen Berufsstellung ein anderer geworden sein als in der anderen, womit der Einfluß einer angeborenen Begabung nach der einen oder andern Richtung, die aber nur in den seltensten Fällen in ungewöhnlicher Weise vorhanden sein dürfte, nicht verkannt werden soll.

Aber nicht bloß das Individuum ist es, an dem der Lehrberuf sich wirksam erweist, sondern auch die Wissenschaft. Die Erfahrungen, welche die Individuen in Bezug auf die Bedingungen des Lehrens und Lernens machen, kommen der letzteren zugute, die Wissenschaft wird dadurch um ein eigentümliches Element bereichert, das ich kurz als das didaktische bezeichnen will. Dem Praktiker mag der Besitz der Kenntnisse und Anschauungen, über die er gebietet, genügen, er beherrscht sie in der Weise, daß er in jedem Moment aus dem vorhandenen Fonds das Nötige herausgreift, aber der Lehrer muß die Summe dessen, was er dem Schüler mitteilen will, in eine Form bringen, welche dem Zwecke des Lernens angemessen ist.

Die Erreichung dieses Zweckes ist bedingt durch ein allmähliches und methodisches Erlernen.

Gleich dem Maler, der bei dem Gemälde nicht von vornherein die einzelnen Teile desselben fertig ausmalt, sondern erst die Konturen zeichnet, dann untermalt und schließlich erst das einzelne ausführt, wird auch der richtige Lehrer nicht sofort mit einer einzelnen Lehre beginnen und sie ihrer ganzen Ausdehnung nach vortragen, sondern er wird das Verständnis derselben vorbereiten, indem er sich derjenigen Kenntnisse, Anschauungen, Begriffe bewußt wird, welche die Voraussetzungen desselben bilden. Die römische Jurisprudenz löste diese Aufgabe in einer Form, welche noch bis auf den heutigen Tag die unsrige geblieben ist: die Institutionen. Ich beschränke mich auf diesen Namen, der Kundige weiß, daß es für dieselbe Sache noch andere gab, z. B. libri regularum, elementa, definitiones, encheiridia. Dieser Art scheinen auch die libri tres juris civilis von Masurius Sabinus gewesen zu sein. Für die systematische Entwicklung der römischen Rechtswissenschaft ist das Auftreten dieser von den Griechen hinübergenommenen Lehrform von äußerster Wichtigkeit geworden. Mit ihr trat die didaktische Darstellungsform des Rechts der rein praktischen in Form der Kommentare zu den Gesetzen und dem Edikt zur Seite und brachte demselben dasjenige, was ihm bis dahin fehlte: die innere Systematik, – ein Fortschritt für die wissenschaftliche Erkenntnis, dessen eminente Bedeutung ich hier nicht auszuführen brauche. Ich habe mich darüber ausgesprochen in meinem Geist des R. R. III, 2, Aufl. 4, S. 330. In engster Verbindung damit stand die scharfe Abgrenzung der Gegensätze im Recht: die für jede Disciplin so außerordentlich wichtigen Einteilungen und sodann die Aufstellung kurz und präcis gefaßter Regeln und Definitionen, – ein Forschritt in Bezug auf die wissenschaftliche Durchdringung und bewußte Erfassung des einzelnen von nicht geringerer Bedeutung, als die Systematik für die Erkenntnis des Gesamtzusammenhanges.

Ich fasse das Gesagte zusammen in den Satz: die wissenschaftliche Durchbildung des römischen Rechts und zum erheblichen Teil, wenn auch nicht ausschließlich, sein Wert für die heutige Zeit beruht auf dem Umstande, daß es durch die Schule hindurchgegangen ist. In welchem Maße dadurch auch die praktische Anwendung des römischen Rechts erleichtert worden ist, davon kann sich jeder leicht überzeugen, welcher die Lage eines kontinentalen Juristen mit der eines englischen vergleicht. Ersterer erlangt innerhalb eines relativ kurzen Universitätsstudiums die sichere Herrschaft über das gesamte Recht, die englischen Juristen sind Specialisten, keiner ist imstande, das gesamte Recht zu bewältigen. Der Grund ist: das römische Recht ist durch die Schule hindurchgegangen, das englische nicht; es werden zur Zeit erst die ersten Ansätze dazu gemacht, und die englische Jurisprudenz wird unendlich viel zu tun haben, bevor sie das englische Recht auf die Höhe des römischen und der aus ihm hervorgegangenen kontinentalen erhoben hat, – die Schule macht sich für das praktische Leben bezahlt!

Allerdings aber muß sie die richtige sein, und damit berühre ich den springenden Punkt des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. Bei einer praktischen Wissenschaft muß die Theorie, wenn sie nicht auf Abwege geraten will, in beständiger Fühlung mit der Praxis bleiben. In Rom war dies bei der Jurisprudenz der Fall, wir wissen von vielen der angesehensten römischen Juristen, daß sie die Lehrtätigkeit mit der praktischen vereinigten. Nachgewiesen in der wertvollen Schrift von F. P. Bremer, Die Rechtslehrer und Rechtsschulen in der römischen Kaiserzeit. Berlin 1868.

Erst in der christlichen Kaiserzeit hört diese Doppelstellung auf, das Lehramt wird ein ausschließliches, ganz wie heutzutage, d. i. ein Lebensberuf, der Lehrer wird von der Staatsgewalt angestellt und bezahlt. Mit der Wissenschaft hatte es aber jetzt ein Ende. Wir besitzen kein wissenschaftliches Werk aus jener Zeit, und in welchem Grade die Schule des Einflusses auf die Praxis bar war, geht schlagend aus dem Umstande hervor, daß letztere ihren theoretischen Haltpunkt ausschließlich in den Werken einer Zeit suchte, welche Jahrhunderte hinter ihnen lag, – ein testimonium paupertatis für die damalige Theorie, wie es nicht schlimmer gedacht werden kann.

Mit der Lehre hat bekanntlich die Wiedergeburt des römischen Rechts im modernen Europa begonnen; die Schule ist es gewesen, der es seine praktische Gültigkeit verdankte.

Von jetzt an beginnt für dasselbe der Konflikt zweier Interessen: des rein wissenschaftlichen, sagen wir der Reproduktion desselben in derselben reinen Gestalt, wie der irgend eines andern Stückes des Altertums, und des praktischen: der Appretur desselben für die Zwecke des Lebens. Nach Individuen, Zeiten und Völkern verschieden, überwiegt bald die eine, bald die andere Richtung, – man wird an die Schwingungen eines Pendels erinnert. Beginnend mit der wissenschaftlichen Richtung, wie ich sie kurz bezeichnen will, zur Zeit der Glossatoren, wendet sich die moderne Jurisprudenz im Zeitalter der Postglossatoren einseitig der praktischen zu, um dann bei dem Wiedererwachen der Wissenschaft unter Benutzung aller inzwischen gewonnenen Hilfsmittel mit äußerster Energie, aber zugleich mit derselben Einseitigkeit die erstere wiederum aufzunehmen, – ein unermeßlicher Dienst für die wissenschaftliche Erkenntnis des römischen Rechts, aber erkauft durch die Vernachlässigung der Interessen des praktischen Lebens. Die Tatsache, daß die Werke der Postglossatoren noch zu Zeiten eines Cujacius ihre alte Geltung behaupten, und Machwerke der allerdürftigsten Art in unzähligen Auflagen den Markt überschwemmen konnten, beweist mehr als irgend etwas anderes die Tatsache, daß die Wissenschaft den Bedürfnissen des Lebens nicht gerecht geworden war. Der Rückschlag blieb nicht aus. Aber noch zweimal wiederholt sich das Schauspiel der Erneuerung der rein wissenschaftlichen Jurisprudenz. Das eine Mal am Anfang des vorigen Jahrhunderts in Holland, das zweite Mal am Beginn des jetzigen in Deutschland. Der Principat in der theoretischen Jurisprudenz ging von den beiden romanischen Völkern, dem italienischen, das ihn zweimal ausgeübt hatte, und dem französischen, mit dem keines der andern Völker sich in dieser Beziehung messen kann, auf die germanischen, die Holländer und Deutschen, über.

Diese flüchtige Übersicht über die Epochen der romanistischen Jurisprudenz, die uns ein stets wechselndes Bild vor Augen führt, wird die obige Behauptung von dem Gegensatz der Behandlungsweisen, zu denen das römische Recht vermöge seiner doppelten Natur als Stück des Altertums und als Bestandteil des modernen Rechts Anlaß gab, ins richtige Licht setzen. Diese Erscheinung des periodischen Sichablösens zweier gänzlich entgegengesetzten Behandlungsweisen ist der modernen Geschichte des römischen Rechts eigentümlich, sie wiederholte sich bei keinem andern Recht der Welt. Auch in der Rechtswissenschaft wie in allen andern Wissenschaften mögen Richtungen und Methoden sich ablösen, mag die Entwicklung die Gestalt einer Wellenbewegung annehmen, welche uns die Wissenschaft zu dieser Zeit auf der Höhe, zu jener in der Tiefe zeigt, aber ein solcher polarer Gegensatz zweier Behandlungsweisen, von denen die eine bei einem und demselben Gegenstande einen gänzlich andern Zweck verfolgt als die andere, wie ihn uns die moderne Geschichte des römischen Rechts vorführt, steht ohnegleichen da und wird es stets bleiben. Auf seiner Höhe zur Zeit der Renaissance spitzt er sich bis zu der Schärfe zu, daß die hervorragendsten Werke in der einen Richtung in Bezug auf die Zwecke, welche die andere verfolgte, nahezu wertlos waren. Mit den Werken des Cujacius konnte derjenige, welcher das römische Recht im Leben anzuwenden hatte, ebensowenig ausrichten, wie derjenige, dem es um die wissenschaftliche Erkenntnis desselben und ein Eindringen in seinen Geist zu tun war, mit denen des Bartholus und Baldus. Die Verschiedenheit des Zieles, das beide Richtungen erstrebten, schloß eine so gänzlich verschiedene Art der Behandlung des Gegenstandes in sich, daß derselbe in der einen und andern Gestalt kaum noch wiederzuerkennen war.

Unsere heutige Zeit hat eingesehen, daß beide zu vereinigen sind. Der akademische Unterricht in der Gegenwart ist ebensosehr darauf berechnet, dem Schüler eine Anschauung des reinen römischen Rechts und seiner geschichtlichen Entwicklung zu gewähren, ihn durch das Quellenstudium in den Geist desselben einzuführen, als darauf, ihn in den Stand zu setzen, dasselbe im Leben zur Anwendung zu bringen. Es wird das unvergängliche Verdienst von Savigny bleiben, die akademische und literarische Behandlungsweise des römischen Rechts in der ersteren Richtung inauguriert zu haben. Dies geschah bekanntlich durch sein »Recht des Besitzes« (1803), – eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges, vollbracht von einem kaum vierundzwanzigjährigen Manne, fortan das maßgebende Vorbild, der Kanon für die dogmatische Behandlung des römischen Rechts. Es gehört zu jenen seltenen Werken, welche die Initialen eines neuen Kapitels in der Geschichte der Wissenschaft bilden. Aber so hervorragend das Werk als geistige Schöpfung ist, so bewundernswert die Selbständigkeit und Kraft des jungen Mannes, der mit der bisherigen Überlieferung bricht und, sich ganz auf sich selber stellend, seine eigenen Bahnen einschlägt, – das Buch ist dennoch, wenn man den praktischen Maßstab anlegt, ein durch und durch ungesundes, es ist geschrieben ohne reale Anschauung des Verhältnisses, das es behandelt, und ohne Rücksicht auf die Anwendbarkeit der darin entwickelten Sätze. Nirgends findet sich der Versuch, dieselben kasuistisch durchzuführen und zu erproben, Savigny geht über die Fälle der Quellen kaum je hinaus. Hätte er es getan, er hätte innewerden müssen, daß dieselben aller sicheren Anwendung spotten, sie sind weich wie Wachs, elastisch wie Gummi, man kann mit ihnen ausrichten, was man will. Und darum hat er trotz allem äußeren Anschluß an die Quellen die römische Theorie nicht wiedergegeben, und der neuere Fortschritt in der Lehre hat von den Fundamentalsätzen Savigny's einen nach dem andern als irrig erwiesen, – von dem ganzen Gebäude ist kaum ein Stein auf dem andern geblieben. Die gänzliche Gleichgültigkeit gegen die praktische Funktion des Besitzes im Leben, die ich als den Grundfehler des Buches bezeichne, dokumentiert sich auch darin, daß der Verfasser sich gegen die gesamte moderne Fortbildung des Instituts in Bezug auf den erweiterten Besitzesschutz (Spolienklage und Summariissimum) ablehnend verhält. Der Gedanke, daß dieselbe in einem zwingenden Bedürfnis ihren Grund gehabt haben muß, bleibt ihm völlig fremd, er tut sie einfach damit ab, daß sie nicht römisch ist – »Irrtümer neuerer Rechtsgelehrten« (S. 327) –, und erst Bruns hat sich in seinem mustergültigen Werke: »Das Recht des Besitzes im Mittelalter und in der Gegenwart« (1848) das Verdienst erworben, diese von Savigny gänzlich übergangene Seite in das richtige Licht gesetzt zu haben, eine Leistung, welche in Bezug auf ihren bleibenden Wert die Savigny'sche meines Erachtens weit hinter sich läßt.

Das Vorbild, welches Savigny in diesem Werk gegeben hat, ist für die Folgezeit das maßgebende geworden – im guten wie im schlechten. Daß es von Puchta noch überboten worden ist, habe ich früher (S. 330) gezeigt. Jedes Jahr bringt uns für das römische Recht von neuem literarische Erscheinungen, bei denen man sich staunend fragt, welchen Zweck und Wert denn alle die Probleme und Fragen haben, für welche ihre Verfasser mit Aufbietung aller ihrer Kräfte die Lösung suchen. Für die Anwendung des Rechts nicht den allermindesten, und für die Schule? – doch darauf werde ich unten (S. 360) die Antwort erteilen. Mehr und mehr verliert die Theorie das Leben aus dem Auge, sie geriert sich, als ob das Recht ihretwegen da sei, ein dankbares Objekt für das logische Denken, ein Zirkus für dialektisch-akrobatische Kunststücke.

Wie ist eine solche Verirrung möglich geworden? Wir müssen uns der Gründe bewußt werden, um die Frage beantworten zu können, ob Aussicht auf Besserung vorhanden ist.

Meiner Ansicht nach sind es zwei, die nur in ihrem Zusammenwirken diesen Erfolg hervorbringen konnten: die Beschränkung des Theoretikers auf den Lehrberuf und die Eigenartigkeit des Gegenstandes, dem seine akademische und literarische Tätigkeit gewidmet ist, des römischen Rechts. Jeder der beiden Gründe würde für sich allein dazu nicht ausgereicht haben. Auch die Lehrer des deutschen Privatrechts, Handelsrechts, Kriminalrechts, Prozesses, Staats- und Kirchenrechts sind auf den Lehrberuf beschränkt, eine Gelegenheit zur praktischen Tätigkeit wird ihnen, von dem seltenen Fall eines Gutachtens abgesehen, seit Aufhebung der Spruchfakultäten ebensowenig geboten wie dem Romanisten. Aber auf jenen Gebieten hat sich, wenn es auch an einzelnen Ansätzen dazu nicht gefehlt hat, die Begriffsjurisprudenz nicht einzubürgern vermocht. Warum nicht? Weil sie mitten im Strom der gewaltigen Bewegung unserer Zeit stehen, weil jedes Jahr neue Fragen und Tatsachen bringt, von denen die Theorie Kunde zu nehmen, und über die sie sich ein Urteil zu bilden hat. Willig oder widerwillig wird sie auf den praktisch-legislativen Standpunkt gehoben. Die wichtigsten legislativen Neuerungen auf den meisten dieser Gebiete sind nicht eingeführt worden, ohne daß auch die Theoretiker vorher Gelegenheit und Nötigung gefunden hatten sich darüber auszulassen, die brennenden Tagesfragen bieten ihnen stets dankbaren Anlaß, ihr Wissen für das Leben zu verwenden, und schon die außerordentlich reiche Zufuhr neuen Stoffes auf mehreren dieser Gebiete und die Nötigung, ihn wissenschaftlich einzuordnen oder gar eine ganze Disciplin neu aufzubauen, schützt sie gegen die Gefahr, ihre Kraft und Zeit an nutzlosen Fragen zu zersplittern. Auf allen jenen Gebieten ist man nicht in der Lage, mit Fragen ähnlicher Art, wie sie auf dem romanistischen die Tagesordnung bilden, die Zeit zu vergeuden; man hat etwas Wichtigeres zu tun, – wer Wild jagen kann, ist gegen die Versuchung, Mücken zu fangen, gesichert.

Wie völlig anders die Lage des Romanisten! An dem römischen Recht ist die legislative Strömung der Zeit, von einigen principiell wenig erheblichen Neuerungen, z. B. in Bezug auf die Zinsen abgesehen, spurlos vorübergegangen, es erfreut sich der ungestörtesten Ruhe. Keine neuen Probleme, die an den Vertreter desselben herantreten, keine Tagesfragen, an denen er sich zu beteiligen hat, kein neuer Stoff, den er zu gestalten hat, – für ihn ist alles beim alten geblieben. Die Dogmatik des römischen Rechts kennt keine anderen Aufgaben, Fragen, Schwierigkeiten, als an denen schon von der Glossatorenzeit an Tausende von Theoretikern sich abgemüht haben. Dieselben schwierigen oder sich untereinander widersprechenden Stellen der Quellen, die schon unzählige Male die Kunst des Exegeten herausgefordert haben, figurieren noch bis auf den heutigen Tag auf ihrem Programm, und immer noch finden sich Leute, welche sie von neuem in Angriff nehmen. Mangel an großen, wichtigen Aufgaben, – das ist das Übel, an dem die romanistische Theorie krankt. Die Hauptsache ist getan, die Ausbeute, welche in praktisch-dogmatischer Beziehung noch erübrigt, verschwindend klein. Es ist der Notstand des Theoretikers, dem es an ausgiebigen Untersuchungsobjekten, an großen Problemen fehlt, und der darum, um sich als Schriftsteller zu legitimieren, zu Fragen greifen muß, die, ohne alle Bedeutung für das Leben, lediglich das Interesse von Schulfragen beanspruchen können. Ich unterschätze die Bedeutung der letzteren für den juristischen Unterricht nicht, aber ich bin so weit entfernt zu glauben, daß die bis ins Kleinste und Feinste getriebene Analyse unserer überkommenen juristischen Begriffe, die nicht selten mit der gänzlichen Verwerfung derselben geendet hat, in didaktischer oder pädagogischer Beziehung einen Fortschritt herbeigeführt hat, daß ich vielmehr vom Gegenteil überzeugt bin. Die einfache anschauliche Form des Verhältnisses wird aufgegeben zu Gunsten einer komplizierten, höchst künstlichen, Begriffe und Definitionen, welche, wenn auch nicht völlig korrekt, doch den unschätzbaren Vorzug darbieten, daß sie leicht zu erfassen und anzuwenden sind, werden ersetzt durch angeblich oder wirklich korrekte, welche dieses Vorzuges gänzlich entbehren. Nach meinem Dafürhalten ist, wie für jeden, so auch für den juristischen Unterricht der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit der allein maßgebende. Eine Ungenauigkeit, die den Zweck des Unterrichts fördert, ist mir lieber, als eine Genauigkeit, die ihn vereitelt, – der richtige Lehrer muß, um es paradox auszudrücken, an richtiger Stelle den Mut der Ungründlichkeit haben. Mag das Instrument, das er dem Schüler in die Hand gibt, ein unvollkommnes sein, – wenn derselbe darauf besser spielen lernt als auf einem vollkommeneren, so verdient es für den Unterrichtszweck den Vorzug. Durch diese Erwägung habe ich mich selber bei meinem Unterricht schon seit Jahren leiten lassen, und die Erfahrung hat mir gezeigt, daß diese Methode die richtige ist. Für Unterrichtszwecke habe ich das meiste von demjenigen, was die heutige Jurisprudenz auf dem Wege einer eingehenden Kritik und Analyse der juristischen Grundbegriffe zu Tage gefördert zu haben glaubt, gar nicht verwenden können. Der Aufwand geistiger Kraft, welche die Wissenschaft in dieser Richtung aufgeboten hat, hat sich meines Erachtens nicht einmal für die Schule bezahlt gemacht.

Wo soll er sich denn bezahlt machen, wenn weder für das Leben noch für die Schule? Ich finde keine andere Antwort, als: nur für diejenigen, welche an derartigen Untersuchungen Vergnügen finden. Ich meinerseits gehöre nicht zu ihnen. Mein Interesse an der Rechtswissenschaft hat mit den Jahren nicht abgenommen, im Gegenteil zugenommen, ich kenne keinen höheren Genuß, kein edleres Lebensziel, als meine Kraft am Recht zu versuchen und meinen Teil dazu beizutragen, daß es in seiner ganzen Größe und Bedeutung erkannt werde. Und auch das römische Recht, dem ich alles verdanke, was ich bin, und was ich geleistet habe, – es hat an der Macht und Anziehungskraft, die es vom ersten Moment an auf mich ausgeübt hat, nichts verloren. Aber wenn ich mich frage, was ich in dreißig Jahren neu hinzu bekommen habe, – ich spreche wohl bemerkt nicht von der römischen Rechtsgeschichte, sondern von der Dogmatik des römischen Rechts, – es schwindet in einem Maße zusammen, daß ich die Zeit bedauere, welche ich daran habe setzen müssen, um mir dies wenige anzueignen, und mit Neid auf andere Wissensgebiete blicke, die innerhalb desselben Zeitraumes die reichste Ausbeute zu verzeichnen haben. Ich kann das Bekenntnis nicht unterdrücken: die Freude, nicht am römischen Recht, und auch nicht am eigenen akademischen Vortrage desselben, aber an der heutigen romanistischen Literatur ist mir verloren gegangen, ich vermag den meisten Schriften, welche sie mir bringt, keinen Geschmack abzugewinnen; wäre ich noch jung, ich würde ein anderes Fach erwählen. Ob eine kommende Zeit dem augenblicklich so wenig ergiebigen Boden des römischen Rechts durch eine veränderte Art der Behandlung, z. B. die legislativ-politische und komparative, nicht noch eine reiche Ernte abgewinnen wird? Wer will es sagen? Jedenfalls lohnt sich die gegenwärtige Ausbeute kaum der Mühe und Arbeit, es ist das Grummet des Herbstes in einem dürren Jahre, – dürftig und dürr und das wenige Heu noch mit vielem Unkraut untermischt. Über den Wert desselben können sich nur diejenigen täuschen, welche selber die Arbeit daran setzen und ein natürliches Interesse haben, dieselbe hoch zu halten.

Bis zu einem gewissen Grade ist diese Dürftigkeit der Ernte durch den Boden selber verschuldet. In praktisch dogmatischer und in exegetischer Beziehung ist er so gut wie erschöpft, nachdem die Hilfsmittel, welche mittelst Auffindung neuer Rechtsquellen, in erster Linie des Gajus, hinzugekommen sind, im wesentlichen ausgenutzt worden sind. Nur in einer Beziehung schien er noch eine Ausbeute gewähren zu können, und damit glaube ich den Grund namhaft gemacht zu haben, der unsere heutige Begriffsjurisprudenz, wenn auch nicht ins Leben gerufen, so ihr doch den erheblichsten Vorschub geleistet hat. Die Begriffsjurisprudenz allein eröffnete noch die Möglichkeit einer neuen Arbeit. Und mit diesem Reiz der Neuheit vereinigte sie zugleich einen andern: den des freien, selbständigen, sich an sich selber berauschenden Denkens, kurz gesagt, den verführerischen Reiz der Dialektik. Die Geschichte zeigt, wie oft schon die Wissenschaft dieser Gefahr erlegen ist; der Scholasticismus, die kasuistische Moralliteratur der Jesuiten, die talmudistische Literatur bieten Beispiele dar, welche an Unfruchtbarkeit und Spitzfindigkeit unsere Begriffsjurisprudenz noch weit überragen. Wenn auf irgend einem Gebiet das begriffliche und begriffsbildende und in strenger Konsequenz fortschreitende Denken am Platz ist, so ist es auf dem des Rechts, und gerade auf dem des römischen hat es ja seine glänzendsten Leistungen aufzuweisen und seinen praktischen Wert dargetan. Die Begriffsjurisprudenz scheint daher durch das Vorbild der römischen Juristen gedeckt zu sein, nur dem Beispiel, das jene ihr gegeben haben, Folge zu leisten. So scheint es. In Wirklichkeit verhält es sich anders. Die römischen Juristen gehen auf dem Wege der Konsequenz nur so weit vor, als nicht das praktische Bedürfnis ihnen Einhalt gebietet, sie behalten bei der Rechtslogik stets das Leben im Auge. Die heutige Begriffsjurisprudenz kennt diese Rücksicht nicht, sie geht geradeaus, selbst wenn sie schließlich bei einem Resultate anlangt, das mit dem Zweck der Anwendung des Rechts völlig unvereinbar ist, sich in seiner eigenen Unmöglichkeit selber vernichtet, – die Rechtslogik ist nicht mehr, wie in Rom, des Lebens, sondern das Leben der Rechtslogik wegen da.

Diese Überspannung einer an sich mit dem Wesen der Jurisprudenz selber gegebenen Methode ist neuesten Datums, sie ist meines Erachtens, wie oben bereits bemerkt, von Savigny in seiner Erstlingsschrift inauguriert worden. Unbekümmertheit um die Anwendbarkeit der auf dem Wege der abstrakten Begriffsentwicklung und der Konsequenz gewonnenen Sätze für das Leben, – das ist der Grundzug der heutigen Begriffsjurisprudenz. Bei einer Jurisprudenz, wie die römische, die mitten im Leben stand, war diese Gleichgültigkeit gegen die Anforderungen des Lebens unmöglich. Aber unsere heutigen Theoretiker haben das Recht nicht anzuwenden, sondern bloß zu lehren, – und darin liegt der Grund, der es ihnen ermöglicht, sich der Rücksicht auf die Anwendbarkeit ihrer Theorien zu entschlagen.

Wie ist hier nun Wandel zu schaffen? Wäre es ausführbar, daß der Theoretiker zugleich eine praktische Berufsstellung bekleidete: als Advokat oder Richter, das Mittel wäre gefunden, der Praktiker würde den Theoretiker in Zaum halten. In Italien bildet dies zur Zeit die Regel, die meisten italienischen Professoren, die ich auf meinen Reisen in Italien habe kennen lernen, waren Advokaten oder bei einem Gericht angestellt. Aber der Zustand ist kein wünschenswerter; dem Theoretiker, der von der Professur nicht leben kann, muß der Praktiker das Brot schaffen, und dieser raubt jenem die Zeit. Die Unvereinbarkeit beider Lebensberufe hat dahin geführt, daß ausgezeichnete Lehrer sich genötigt sahen, den Lehrstuhl zu verlassen und sich ausschließlich der Advokatur zuzuwenden.

So scheint die Trennung der Lebensberufe des Theoretikers und des Praktikers, wie sie bei uns in Deutschland und in den meisten andern Ländern besteht, trotz der Entfremdung vom Leben, die sie für ersteren in sich schließt, gleichwohl den Vorzug zu verdienen, und ich glaube, daß sie sich auch in der Zukunft behaupten wird. Allerdings hat sich die Vereinigung beider in anderen praktischen Wissenschaften, z. B. der Medicin, als ausführbar erwiesen, und weit entfernt, daß die Lehrer der praktischen Zweige der Medicin: der Kliniker und der Chirurg dem gewöhnlichen Praktiker das Feld räumen müßten, erfreuen gerade sie sich des größten Vertrauens des Publikums und liefern damit den Beweis, daß man zugleich ein großer Theoretiker und ein großer Praktiker sein kann. Warum soll nun für den Juristen – oder, da ich hier nur den Romanisten ins Auge fasse – für letzteren nicht dasselbe möglich sein? Warum sollte er nicht zugleich Richter oder Advokat sein können? Weil sein Studiengebiet in ungleich höherem Maße historischer Art ist als das des Klinikers und Chirurgen. Die beiden letzteren stehen mit beiden Füßen auf dem Boden der Gegenwart, der Romanist mit dem einen in der Gegenwart, mit dem andern in der Vergangenheit, und die eben herangezogene wissenschaftlich bedrängte Lage der italienischen Rechtslehrer und der Hinweis auf die wertvollen rechtshistorischen Leistungen, welche ihre deutschen Kollegen auf dem Gebiete des römischen wie des germanischen Rechts aufzuweisen haben, die lediglich durch die völlig freie wissenschaftliche Muße ermöglicht worden sind, – beides zusammen scheint mir über die Vorteilhaftigkeit der Trennung beider Lebensberufe keinen Zweifel übrig zu lassen.

Aber wenn wir auch diese Einrichtung als eine unabänderliche entgegennehmen, so frägt sich doch, ob nicht ein Mittel sich finden lasse, welches die Nachteile, die mit ihr für den Theoretiker gegeben sind, wenn auch nicht aufhebt, so doch bis zu einem gewissen Grade abschwächt. Es ist dies eine Frage, mit der ich mich viel beschäftigt habe, und ich lege im Folgenden die Ansichten vor, die ich mir in dieser Beziehung gebildet habe.

Es sind drei Mittel, von denen ich mir einen Erfolg verspreche.

Das erste ist der Durchgang des Theoretikers durch die Praxis während der gesetzlichen Zeit der Vorbereitung zu derselben, m. a. W. nur derjenige, welcher sein Assessorexamen gemacht hat, soll für das römische Recht und unser künftiges Civilrecht als Privatdocent zugelassen werden. Der verspätete Eintritt in die akademische Laufbahn wird aufgewogen durch die praktischen Anschauungen, welche der Mann mitbringt, und wer diese Laufbahn in Aussicht genommen hat, findet auch bereits in der Periode seiner praktischen Tätigkeit Zeit und Gelegenheit genug, sich auf sie vorzubereiten.

Eine äußere Trennung der beiden Seiten des römischen Rechts: der dogmatischen und rechtshistorischen ist unserem akademischen Unterrichtsplan fremd, der Romanist hat beide Seiten zu vertreten, und man kann daher von ihm auch verlangen, daß er nach beiden Seiten hin der Aufgabe gerecht werde. Selbst wenn die Neigung ihn mehr nach der rechtshistorischen Seite hinzieht, wird ihm die gewonnene praktische Anschauung vom Recht auch in dieser Richtung im reichem Maße zugute kommen. Ich bin der Überzeugung, daß nur derjenige das Recht der Vergangenheit begreifen kann, der das der Gegenwart versteht, d. h. der eine praktische Anschauung und ein Urteil über die Anforderungen des Lebens mitbringt. Den letzten Grund so mancher gänzlich ungesunden und verfehlten rechtshistorischen Ansichten kann ich nur darin erblicken, daß es ihren Urhebern an dieser Voraussetzung gefehlt hat.

Das zweite Mittel ist die Gestaltung des akademischen Rechtsstudiums in einer Weise, wie sie der praktische Endzweck desselben mit sich bringt. Ich verstehe darunter nicht sowohl die angemessene Einrichtung der rein theoretischen Vorlesungen durch unausgesetzte Exemplifizierung der vorgetragenen Rechtssätze an praktischen Fällen und Beispielen, – denn das läßt sich nur wünschen, nicht erzwingen, es ist nichts als ein frommer Wunsch, den der einzelne Docent in der Hand hat zu erfüllen oder zu ignorieren. Aber erzwingen, d. h. durch eine Einrichtung sichern, läßt sich die Ergänzung der theoretischen Vorlesungen durch praktische Übungen, für die Pandekten durch die sog. Pandekten- oder Civilpraktika. Nicht bloß der Zuhörer wegen verlange ich sie, sondern auch des Docenten wegen, – als Korrektiv gegen theoretische Einseitigkeit. Er soll dasjenige, was er gelehrt hat, selber zur Anwendung bringen, dann wird sich zeigen, ob es dazu geeignet ist. Er wird sich dann überzeugen, daß es ein anderes Ding ist, einen Unterschied in abstracto aufstellen, ein anderes Ding, Rede und Antwort darüber stehen, woran er in concreto erkannt werden soll, – daß es für den Theoretiker gar leicht ist, sich etwas zu denken, gar schwer aber für die Partei, etwas zu beweisen, daß es ein anderes Ding ist, die Verantwortung für die logische Korrektheit, und ein anderes, die für die praktische Angemessenheit des Resultates zu übernehmen. Ich spreche hier aus Erfahrung. Seit länger als vierzig Jahren halte ich ein solches Pandektenpraktikum, und ich kann nicht genug rühmen, wie sehr es mich gefördert hat; es ist mir dadurch zur zweiten Natur geworden, bei allen Rechtssätzen, Begriffen, Unterschieden mir ihre Anwendung an einem konkreten Fall zu veranschaulichen und sie daran die Probe bestehen zu lassen, kurz das abstrakte Denken durch das kasuistische zu kontrollieren.

Mt dem bloßen Vortrag von Rechtsfällen von Seiten des Lehrers und der eigenen Entscheidung derselben ist es aber nicht getan. Sowohl für ihn selber wie für die Zuhörer erlangen derartige Übungen ihren Wert nur durch den regsten Wechselverkehr zwischen beiden Teilen, durch den unausgesetzten Austausch der Ansichten. Der Lehrer muß den Widerspruch gegen die von ihm aufgestellten Behauptungen und den Versuch ihrer Widerlegung nicht bloß dulden, sondern herausfordern, sich auf eine Linie mit seinen Zuhörern stellen, gleich als wären er und sie Mitglieder eines Richterkollegiums, – nicht die äußere Autorität des Lehrers, sondern das innere Gewicht der Gründe muß schließlich für ihn den Ausschlag geben. Wenn diese Übungen in solcher Weise abgehalten werden, so sind sie für beide Teile in gleicher Weise förderlich und anregend. Auf mich üben sie bis auf den heutigen Tag die höchste Anziehungskraft aus; es ist mir immer eine Freude, sie abzuhalten, ich lerne stets durch sie, und ich will das Geständnis nicht unterdrücken, daß ich nicht selten durch einen tüchtigen Zuhörer auf einen Gesichtspunkt aufmerksam geworden bin, der mir bis dahin entgangen war.

Freilich haben dieselben auch für den Docenten ihr Unbequemes. Er muß herabsteigen von seiner Höhe und gewärtigen, daß die Rollen des Fragenden und Gefragten vertauscht, und daß ihm Fragen vorgelegt werden, auf die er nicht gefaßt war. Er muß nicht bloß über ein sicheres, exaktes Wissen gebieten, sondern er muß es in jedem Augenblick ohne einen großen Apparat und lange Deduktionen in knappster, präcisester Form auf die gerade vorliegende Frage zur Anwendung zu bringen verstehen. Gerade darum aber, weil diese Übungen Anforderungen an den Lehrer erheben, denen sich nicht jeder gern fügt, sollten sie von Seiten der Staatsbehörde zur obligaten Einrichtung erhoben werden. Kein Docent des römischen Rechts sollte die venia legendi erhalten ohne die Verpflichtung, sie anzukündigen, – – wer sich für berufen hält, eine praktische Disciplin andere zu lehren, soll auch die Fähigkeit dokumentieren, sie selber anzuwenden. Mag dem Romanisten im späteren Alter, wo ihm vielleicht die Beweglichkeit des Geistes und die Frische fehlt, um diese Übungen mit Erfolg für seine Zuhörer und zu seiner eigenen Befriedigung zu leiten, mag ihm hier verstattet werden, sie einzustellen, – vorher sollte keiner davon dispensiert werden. Das Praktikum soll nicht bloß die Schule des Romanisten bilden, durch welche jeder hindurch muß, sondern das dauernde Korrektiv abgeben, welches ihn selber und das Interesse des richtigen akademischen Unterrichts gegen die Gefahr theoretischer Einseitigkeit sichert.

Das dritte Mittel, welches ich in Vorschlag bringe, hat eine Reform des bisherigen juristischen Examinationswesens zum Gegenstand und zwar in einer doppelten Richtung, einmal, was die Art des Examinierens und sodann, was die Bildung der Examinationskommissionen anbetrifft.

Der Zweck eines jeden Examens besteht darin, der prüfenden Behörde die Überzeugung zu verschaffen, daß der Examinand das nötige Maß der Kenntnisse in seinem Fach besitzt. Die Verschiedenheit des Faches, je nachdem es ein theoretisches ist, wie die Geschichte, Sprachwissenschaft, gewisse Fächer der Naturwissenschaft, oder ein praktisches, wie die Medicin, Theologie, Jurisprudenz, bedingt eine verschiedene Einrichtung des Examens. Bei Fächern der letzteren Art muß der Examinand nicht bloß den Besitz eines ausreichenden theoretischen Wissens, sondern auch die Fertigkeit der richtigen Anwendung desselben dokumentieren. Für die Medicin und die Theologie geschieht dies; der Mediciner besteht seine praktische Prüfung am Krankenbett, am Seziertisch, im Gebärhause, der Theolog muß predigen und katechisieren. Nur bei dem Juristen ist das erste Examen in den meisten deutschen Ländern ausschließlich auf die Theorie gerichtet. In Preußen wird im schriftlichen Examen regelmäßig ein theoretisches Thema gegeben, nur in Hannover (Celle) pflegt noch wohl ab und zu, wie es früher stets geschah, eine Akte gewählt zu werden. Auch das mündliche Examen hält meines Wissens im ganzen und großen dieselbe Richtung auf die Theorie inne; die Vorlage von Rechtsfällen im ersten Examen dürfte zu den Seltenheiten gehören, – der theoretische Grundzug unserer heutigen Jurisprudenz wiederholt sich also auch im Examen.

Ich halte die Einrichtung für eine gänzlich verfehlte, und die üblen Früchte derselben sind nicht ausgeblieben. Die Klagen der Praktiker über die ungenügende Vorbildung der jungen Juristen sind an der Tagesordnung, und ich selber habe bei der Prüfung von Referendaren im Doctorexamen Erfahrungen in dieser Beziehung gemacht, die mich staunend fragen ließen, wie es möglich war, daß ein Mann das Staatsexamen bestehen konnte, dessen ganzes Wissen im römischen Recht in einigen mechanisch eingeprägten Definitionen und Einteilungen bestand, dem es aber an aller und jeder juristischen Anschauung und an jeder Festigkeit des Wissens fehlte. Wo so etwas möglich ist, leistet das Examen nicht, was es soll.

Wie nun helfen?

Von Seiten einiger Theoretiker ist in den letzten Jahren zu dem Zweck eine Verlängerung des juristischen Studiums von drei auf vier Jahre vorgeschlagen worden. Ich kann mich damit durchaus nicht einverstanden erklären. Ich halte den Zeitraum von drei Jahren für vollkommen ausreichend, wobei ich selbstverständlich voraussetze, daß der Mann seine Pflicht tut und nicht während der Zeit sein Freiwilligenjahr abdient, welches für das Studium so gut wie verloren ist. Ich stütze meine Behauptung auf langjährige Erfahrungen, die ich sowohl als Examinator wie in meinem Praktikum gemacht habe. Die jungen Leute, welche am längsten studiert hatten, waren regelmäßig die schlechtesten, und ich habe umgekehrt Leute examiniert, welche nicht länger als drei Jahre studiert hatten, die mir durch den Umfang, die Gediegenheit und Sicherheit ihres Wissens und die Fähigkeit, ihre Kenntnisse auf einen gegebenen Fall anzuwenden, meine volle Anerkennung abnötigten. Die Verlängerung der Studienzeit würde nach meinem Dafürhalten lediglich den Untüchtigeren zugute kommen. Die von vornherein von ihnen in Aussicht genommene Zeit des Nichtstuns würde um ein Jahr verlängert werden, und die Tüchtigeren müßten dies bezahlen, – eine Maßregel für die letzteren sehr drückend und unmotiviert, für die ersteren ohne Erfolg. Über solche Fragen kann nur die Erfahrung richten, von einem abstrakten, apriorischen Standpunkt lassen sie sich nicht beantworten. Auf Grundlage meiner langjährigen Erfahrungen, die schwerlich durch die irgend eines anderen Theoretikers überboten werden können, nehme ich keinen Anstand, die beantragte Verlängerung des Studiums für eine völlig verfehlte Maßregel, für ein Experiment zu erklären, von dessen Zweck- und Wertlosigkeit man sich sicherlich sehr bald überzeugen würde, – die Maßregel würde der Anordnung eines Arztes gleichen, der einem Patienten, der frische Luft und Bewegung nötig hat, vorschreiben wollte zu Bett zu bleiben.

Nicht die Kürze der Studienzeit trägt die Schuld an der dürftigen Bildung so vieler in die Praxis eintretenden Juristen, sondern die Einrichtung des akademischen Studiums und des Examens. Beide leiden an demselben Gebrechen: der vorherrschenden, vielfach geradezu ausschließlichen Richtung auf die Theorie, der Vernachlässigung der praktischen Bestimmung des Rechtsstudiums.

In welcher Gestalt der akademische Unterricht dem Gebrechen Abhilfe gewähren kann, habe ich oben (S. 366) ausgeführt, es sind die praktischen Übungen. Wer sie nicht aus eigener Erfahrung, sei es als Student, sei es als Lehrer, kennt, hat über den Wert derselben gar kein Urteil. Erst durch sie wird dem Studierenden das Verständnis dessen, was er sich bisher angeeignet hat, wahrhaft erschlossen, sein Besitz ein sicherer, mit dem Interesse an den praktischen Entscheidungen stellt sich auch das an der Theorie ein, der Tüchtige wird der Jurisprudenz gewonnen und faßt Liebe zu ihr. Diese Erfahrung habe ich als Student an mir selber in reichem Maße gemacht. Das Verständnis für die Jurisprudenz ist mir erst aufgegangen in dem Civilpraktikum, das ich bei meinem damaligen Lehrer, späteren Kollegen und unvergeßlichen Freunde Thöl in Göttingen hörte, – es bildet den Wendepunkt in meinem akademischen Leben. Erst von da an hat die Jurisprudenz die Anziehungskraft für mich gewonnen, der sie bis dahin entbehrte. Dieselbe Erfahrung habe ich als Docent an meinen Zuhörern gemacht und mache sie jedes Jahr von neuem.

So lautet denn mein ceterum censeo in Bezug auf die Reform des Rechtsstudiums: wie bei den Medicinern und Theologen müssen auch bei den Juristen die praktischen Übungen zu obligaten Einrichtungen erhoben werden.

Ich wende mich den Vorschlägen in Bezug auf die Reform des juristischen Examens zu.

Die bisherige Einrichtung des schriftlichen Examens in Preußen halte ich für gänzlich verfehlt. Es ist das reine Scheinwesen! Die schriftliche Arbeit, welche der Kandidat einliefert, leistet nicht die geringste Garantie für seine juristische Bildung. Mit Hilfe der Kompendien und der Literatur bringt auch derjenige, dem es an ihr gänzlich fehlt, eine Arbeit zustande, welche den an eine solche billigerweise zu stellenden Anforderungen vollkommen entspricht. Ist denn das eine große Kunst? Die Wege, die er zu wandeln hat, sind ihm vorgezeichnet, er braucht nur nicht von ihnen abzuweichen. Die systematische Anordnung des Stoffes, die verschiedenen möglichen und unmöglichen Ansichten, die Kritik derselben von Seiten namhafter Schriftsteller, die Erklärungen der Stellen, der gesamte literarhistorische Apparat – alles liegt fertig vor ihm, er braucht nur die Hand auszustrecken, um sich in Besitz zu setzen. Die ganze Aufgabe reduziert sich darauf, Bericht über die Lösungen anderer zu erstatten, und für welche der Ansichten der Kandidat sich auch entscheiden mag, immer findet er eine namhafte Autorität, mit der er sich decken kann, und die auch der Examinator, mag er die Ansicht billigen oder nicht, respektieren muß.

Auch in diesem Punkt appelliere ich einfach an die Erfahrung. Ich habe im Doctorexamen Arbeiten von Referendaren unter Händen gehabt, an denen nichts zu bemängeln war, während der Verfasser im mündlichen Examen einen gänzlichen Mangel an aller und jeder juristischen Bildung an den Tag legte. Eine ähnliche Erfahrung habe ich hie und da bei Studierenden gemacht, welche eine Preisfrage gelöst hatten. Die Lösung derselben mittelst Konzentrierung der ganzen Kraft auf ein einzelnes Thema war erkauft worden auf Kosten der Gesamtausbildung. In Bezug auf den trügerischen Wert solcher schriftlichen Arbeiten bei Studierenden hat man in dem historischen Examen ähnliche Erfahrungen gemacht: gelungene Seminararbeiten und eine erschreckende Ignoranz im mündlichen Examen – gelehrtes Konfekt und Mangel an täglichem Brot.

Darum fort mit diesen theoretischen Aufgaben, welche nicht die mindeste Garantie gewähren! Für den Fall aber, daß sie dennoch beibehalten werden sollten, will ich nicht unterlassen, eine Erfahrung mitzuteilen, die ich in Bezug auf den hie und da vorkommenden kaum glaublichen Mißgriff in der Wahl der Themata gemacht habe. Ich habe Themata kennen gelernt, von einer solchen Schwierigkeit und von einer solchen Ausdehnung, daß sie dem gewiegtesten Theoretiker die doppelte und dreifache Zahl von Monaten gekostet haben würden, als dem Kandidaten Wochen zur Verfügung gestellt waren, ja ich erinnere mich einer Frage in Bezug auf die Usucapio pro herede, welche ich meinerseits gar nicht imstande war zu verstehen, und der Kandidat, der sie zur Zufriedenheit des Examinators beantwortet hatte, teilte mir mit, daß es Bruns in Berlin, bei dem er sich Rats hatte erholen wollen, ebenso gegangen war. Sollten denn nicht, um einem solchen Unfug vorzubeugen, die Themata, wenn es einmal bei ihnen bleiben soll, einer Revision und Billigung von Seiten des Justizministeriums unterworfen werden? Ich bin überzeugt, daß die Stellung solcher Themata, wie ich sie hier im Auge habe, auf Seiten des Examinators nur darin ihren Grund gehabt hat, daß er von ihrer Schwierigkeit und ihrem Umfang gar keine Ahnung gehabt hat, – er kannte sie nur vom Hörensagen, sonst würde er sie nicht gestellt haben, er selber wäre sicherlich am wenigsten imstande gewesen, sie zu bearbeiten, – nur wer selber die Schwierigkeiten einer Aufgabe nicht kennt, kann sich in der Wahl derselben in der Weise vergreifen, daß er eine unlösbare für eine lösbare und eine schwierige für eine leichte hält.

Was soll nun an die Stelle jener theoretischen Arbeiten treten? Wenn dasjenige, was ich bisher über die praktische Wertlosigkeit derselben gesagt habe, richtig ist, so begründet der Wegfall derselben nicht die mindeste Lücke, und man könnte das schriftliche Examen völlig aufgeben und die dadurch für die Examinatoren wie die Kandidaten gewonnene freie Zeit dazu verwenden, um dem mündlichen Examen eine längere Dauer zu geben, was im Vergleich zu der bisherigen Einrichtung des Examens schon eine ganz wertvolle Verbesserung in sich schließen würde. Es muß ein schlechter Examinator sein, der sich nicht lediglich auf Grund einer längern mündlichen Prüfung ein Urteil über die Reife oder Unreife des Examinanden zu bilden vermag. Ich finde nur einen Grund, der für Beibehaltung des schriftlichen Examens spricht, es ist die Rücksicht auf die Befangenheit und Ängstlichkeit, unter deren Druck selbst tüchtigere Kandidaten im mündlichen Examen nicht selten einen minder günstigen Erfolg erzielen, als sie es ohne dies Hemmnis imstande gewesen wären. Das schriftliche Examen schließt die Gefahr einer solchen Beeinflussung aus, die übrigens meines Erachtens bei einem humanen und erfahrenen Examinator nicht viel zu bedeuten hat, dasselbe würde also in dieser Einsicht als eine Kompensation oder ein Korrektiv der eigentümlichen, dem Kandidaten ungünstigen Umstände des mündlichen Examens beizubehalten sein.

Aber nur unter der Voraussetzung, daß die Einrichtung desselben eine derartige wird, daß es die Garantie wirklich gewährt, die man in ihm sucht. Und da kenne ich nur eine einzige Einrichtung: die Ausarbeitung leichter schriftlicher Aufgaben, welche der Examinand in der Klausur und ohne Benutzung von literarischen Hilfsmitteln anzufertigen hat. Ich habe den Wert eines derartigen schriftlichen Examens, der freilich durch eine strenge und gewissenhafte Handhabung der Klausur bedingt ist, im Laufe von mehr als sechzehn Jahren als Mitglied der Prüfungskommission in Gießen kennen gelernt. Die Resultate desselben haben mich niemals getäuscht, sie haben sich im mündlichen Examen stets bewährt.

Selbstverständlich müssen der Fragen mehrere sein und sie so gewählt werden, daß sie sich in einer kurzen Klausurzeit (in Gießen zwei Stunden) beantworten lassen. Aus dem römischen Recht wurden dort drei Fragen gestellt, welche, wie alle, der Zustimmung der Kommission bedurften. Die eine derselben bildete bei mir stets ein Rechtsfall, und zwar ein leichter, wie der Zweck es erfordert, die andere eine dogmatische Aufgabe, die ich in eine Reihe einzelner Fragen auflöste, welche mit relativ wenig Worten zu erledigen waren, die dritte bald eine rechtshistorische Frage, bald die Interpretation einer Quellenstelle. Die Bearbeitung des Rechtsfalles und die Interpretation der Quellenstelle hat mir stets den sichersten Anhalt zur Beurteilung der juristischen Bildung des Mannes gewährt. Mit dem bloßen mechanischen Auswendiglernen von Definitionen und Rechtsregeln und rechtshistorischen Notizen war es bei beiden nicht getan, das Wissen mußte ein solides, der Mann imstande sein, es anzuwenden, um beide Aufgaben lösen zu können. Bei den tüchtigeren Kandidaten waren diese beiden Fragen: die praktische und die exegetische stets wohl gelitten, während die untüchtigeren sich vor ihnen am meisten fürchteten; beide Teile wußten, daß der wirkliche Stand ihrer Bildung bei keiner anderen in dem Maße ans Licht treten mußte, wie bei ihnen. Damit ist über den praktischen Wert derselben alles gesagt!

Die Ersetzung der bisherigen schriftlichen Arbeiten des ersten Examens durch Klausurarbeiten würde überdies noch den Vorteil einer erheblichen Zeitersparnis für beide dabei mitwirkenden Teile zur Folge haben. Gegenwärtig beträgt die Frist zur Anfertigung der schriftlichen Arbeiten sechs Wochen, wozu noch etwa vier zum Zweck der Durchsicht derselben von Seiten der Examinatoren hinzukommen. Zur Anfertigung der Klausurarbeiten würden meines Erachtens zwei Tage vollkommen ausreichen. Ich halte es nicht für richtig, wenn der Kandidat, wie es meines Wissens in Oldenburg geschieht, den ganzen Tag unter der Klausur gehalten wird. In Gießen dauerte letztere für jede einzelne Arbeit zwei Stunden; während dieser Zeit durfte der Examinand das Lokal nicht verlassen. Am Vormittag wurden zwei Klausurarbeiten aufgegeben, nach Beendigung der ersten ward eine kleine Pause gemacht, um dem Kandidaten Gelegenheit zu gewähren, sich etwas zu erholen; für den Nachmittag war nur eine Klausurarbeit bestimmt. Die Zahl der Klausurarbeiten betrug in Gießen 14, was ich nicht für notig halte; 6 scheinen mir vollkommen zu genügen: zwei Fragen aus dem römischen Recht, eine aus dem deutschen Privatrecht oder Handelsrecht, eine aus dem Civilprozeß, eine aus dem Kriminalrecht, eine aus dem Staatsrecht oder Kirchenrecht. Die zur Durchsicht dieser Arbeiten seitens der Examinatoren erforderliche Zeit würde sich auf mindestens ein Drittel der bisherigen reduzieren.

Ich habe im Bisherigen nur das erste juristische Examen im Auge gehabt, und ich fasse meinen Änderungsvorschlag in die Alternative zusammen: entweder gänzlicher Wegfall des bisherigen völlig wertlosen schriftlichen Examens und Ersetzung desselben durch ein längeres mündliches oder Verwandlung desselben in ein Klausurexamen, das allein die Garantie zu bieten vermag, welche man von jedem Examen erwartet.

Auch für das zweite, das Assessorexamen, würde ich die Beseitigung der theoretischen Aufgabe beantragen. Die Bearbeitung derselben mag ungewöhnlich tüchtigen Leuten Gelegenheit gewähren, sich in vorteilhafter Weise zu exhibieren, ein sicheres Kriterium der Reife oder Unreife bildet sie erfahrungsmäßig nicht, und die Kandidaten selber betrachten sie als das leichteste Stück des Examens, während sie vor der ihnen zum Zweck der Ausarbeitung eines Urteilsentwurfs zugestellten Akte die meiste Angst haben. In meinen Augen hat die theoretische Arbeit nur einen rein dekorativen Zweck, sie soll dem Examen den Anstrich des Wissenschaftlichen geben, es soll dadurch betont werden, daß es nicht bloß auf die praktische Tüchtigkeit des Examinanden, sondern auch auf seine wissenschaftliche Durchbildung ankommt. Als ob nicht in einer praktischen Wissenschaft die Anwendung des Wissens der sicherste Maßstab des letzteren selber wäre, und als ob nicht das mündliche Examen vollauf Gelegenheit gäbe, sich in der Theorie zu ergehen. Auch im zweiten ganz so wie im ersten bildet die theoretische Aufgabe ein reines Dekorationsstück ohne realen Sinn und Wert, sie verdankt ihre Einführung und Beibehaltung bloß der falschen Scheu vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, der nur aus dem Munde solcher kommen kann, welche die Theorie ohne Anwendung für die wahre Wissenschaft erklären und der Theorie in der Anwendung den Namen derselben absprechen. Von der Leichtigkeit, mit der der Kandidat seine Qualifikation in der ersteren Richtung, seine »theoretische Bildung« erweist, scheinen sie keine Vorstellung zu haben.

Im übrigen läßt meines Erachtens das zweite preußische Examen nichts zu wünschen übrig. Die Zuteilung einer Akte zum Zweck der Ausarbeitung eines schriftlichen Urteilsentwurfs mit längerer Zeitfrist zur Ausarbeitung und die drei Tage vor dem mündlichen Examen erfolgende Zustellung einer Akte zum Zweck des Referats im mündlichen Examen sind zwei Einrichtungen, welche dem Zweck, die praktische Tüchtigkeit und das juristische Urteil des Mannes zu erproben, vollkommen entsprechen, und das mündliche Examen gewährt ausreichende Gelegenheit, den Umfang, die Gediegenheit und Sicherheit seines theoretischen Wissens zu konstatieren.

Dagegen kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß das erste preußische Examen nach meinen Erfahrungen sehr viel zu wünschen übrig läßt. Ich habe, wie bereits oben bemerkt, Leute geprüft, welche dasselbe bestanden hatten, und denen es doch an aller und jeder juristischen Bildung gebrach, die nicht einmal imstande waren, die elementarsten Begriffe des römischen Rechts, z. B. Besitz und Eigentum, zu unterscheiden. Daß ein Examen, welches solche vollendete Ignoranten imstande gewesen sind zu bestehen, grundschlecht eingerichtet sein muß, bedarf nicht der Bemerkung. Worin liegt der Grund? In der zu großen Milde der Examinatoren? Sie mag hie und da vielleicht mitspielen, aber den durchschlagenden Grund erblicke ich in der verkehrten Art des Examinierens. Zum Teil hängt sie mit der Ungeschicklichkeit und Ungeübtheit der Examinatoren zusammen – ein Punkt, auf den ich unten zurückkommen werde –, zum Teil mit dem Vorurteil, als müßten dem ersten Examen, da es ein rein theoretisches sei, die Fragen, welche die Anwendung des Erlernten zum Gegenstand haben, fern bleiben. Der zum Examinator berufene Praktiker glaubt seiner Aufgabe nur dadurch zu entsprechen, daß er das Examen möglichst theoretisch hält, sich künstlich zum Theoretiker aufspielt, er verleugnet in sich den geeigneten Examinator und tauscht dafür den ungeeigneten ein, hält sich in der vermeintlichen Höhe des Abstrakten, verlangt Definitionen, Einteilungen u. s. w., anstatt das Examen auf den Boden hinüber zu spielen, auf dem er selber vollkommen sicher ist: auf den der Anwendung der Rechtssätze.

Meines Erachtens sollte in keinem ersten Examen, weder im schriftlichen, noch im mündlichen, der Rechtsfall fehlen, selbstverständlich kein schwieriger, sondern ein leichter, wie ihn jeder, der das Rechtsstudium ernstlich betrieben hat, beurteilen muß und kann. Nur wer einen Rechtssatz auf den gegebenen Fall anzuwenden, nur wer die abstrakten Unterschiede in concreto zu erkennen vermag, hat sie sich wirklich zu eigen gemacht, alles andere ist reiner Schein, ein wertloser Besitz. Alles Abstrakte im Recht ist ja nur dazu da, daß es sich am Konkreten verwirkliche, und wer dasselbe in seiner konkreten oder kasuistischen Gestalt nicht wiederzuerkennen oder es auf einen gegebenen einfachen Tatbestand nicht anzuwenden vermag, beweist damit, daß er es nicht wirklich erfaßt hat.

Zu dem Rechtsfall oder zu den Rechtsfällen sollte dann meines Erachtens noch die Gelegenheit zur Interpretation einer Quellenstelle hinzukommen, ich meine nicht bloß aus dem Corpus juris, sondern auch aus dem Handelsgesetzbuch, dem Strafgesetzbuch, der Civilprozeßordnung. Einen Rechtsfall entscheiden und das Gesetz interpretieren, – das sind die beiden Aufgaben des praktischen Juristen, und wer sich zum Eintritt in die praktische juristische Laufbahn meldet, dem dürfen sie ebensowenig erspart werden, wie dem Theologen die Predigt, dem Mediciner die Prüfung am Krankenbett und am Seziertisch. Die gelehrte theoretische Arbeit fällt dem künftigen Theoretiker: dem Privatdocenten bei seiner Habilitation anheim. Der künftige Praktiker soll dartun, daß er den eigentümlichen Aufgaben seines Berufs wenigstens insoweit gewachsen ist, als man es von einem Anfänger verlangen kann. Wenn das theoretische Studium ihn dazu nicht instand setzt, so trägt entweder dieses oder er selber die Schuld, – jenes, wenn es ihm die Gelegenheit dazu nicht darbietet, was, soweit es an einzelnen Universitäten bisher nicht der Fall sein sollte, geändert werden muß und wird, – er selber, wenn er die sich ihm darbietende Gelegenheit nicht benutzt.

Ich wende mich, nachdem ich meine Ansichten über die nötigen Veränderungen in der Art des Examinierens entwickelt habe, dem zweiten oben (S. 368) namhaft gemachten Punkt zu: der Einrichtung der Examinationsbehörden.

Zu der praktischen Verwirklichung der Vorschläge, welche ich in dieser Richtung zu machen gedenke, habe ich, offen gesagt, kein rechtes Vertrauen – sie werden an dem Finanzpunkt scheitern – und eben darum halte ich es nicht für erforderlich, sie ausführlicher darzulegen, ganz abgesehen davon, daß auch äußere Gründe mich zum Schluß drängen. Ich bringe das, was ich zu sagen habe, in Form knapper Sätze, welche als solche die Prüfung ihrer Richtigkeit erleichtern.

1. Der ganze Wert des Examens hängt an der Tauglichkeit der Examinatoren.

2. Die Tauglichkeit derselben bestimmt sich nicht bloß nach dem Umfang und der Gediegenheit ihres Wissens, sondern in ganz erheblichem Maße nach ihrer Geschicklichkeit im Examinieren.

3. Das Examinieren ist eine schwere Kunst, welche selbst derjenige, der eine natürliche Begabung dafür mitbringt, erst durch Übung erlernen muß.

4. Nur der geübte Examinator ist der taugliche. Nur er weiß den Schein des Wissens vom wirklichen Wissen zu unterscheiden. Seine Erfahrung setzt ihn instand, bei einer unrichtigen Antwort sofort zu erkennen, ob der Kandidat sich nur im Ausdruck vergriffen hat oder die Sache selber nicht kennt. Er gibt dem Tüchtigen Gelegenheit, sich zu berichtigen, dem Kenntnislosen, seine Ignoranz in voller Blöße darzulegen.

5. Darum muß dem Examinator die Möglichkeit geboten werden, sich in dieser Kunst auszubilden. Die Ernennung eines Examinators auf vorübergehende Zeit ist ein Übelstand, gleichmäßig für ihn, wie für die Kandidaten, wie für den Zweck des Examens.

6. Das Richtige ist dauernde Anstellung der Examinatoren.

7. Der Examinator muß von seinen sonstigen Berufsarbeiten dispensiert werden. Er muß die Zeit haben, um den Fortschritten der Wissenschaft zu folgen, und mehr als das: es muß ihm die Möglichkeit zu einem selbständigen, eindringenden wissenschaftlichen Studium geboten werden.

8. Die in dieser Weise eingerichteten Examinationsbehörden bilden das Mittelglied zwischen Theorie und Praxis. Gebildet in der Praxis und ausgerüstet mit der Erfahrung und dem praktischen Blick, den sie ihr verdanken, sind die Mitglieder dieser Kommissionen durch die ihnen gewährte Muße zu theoretischen Studien berufen dazu, durch schriftstellerische Leistungen eine heilsame Rückwirkung auf die Theorie auszuüben. Nach beiden Seiten hin ihrer Aufgabe gewachsen, würden sie in der Zukunft die maßgebenden Autoritäten für die Dogmatik des Rechts werden. Der dogmatische Theoretiker würde ihnen gegenüber nach dieser Seite hin, wenn er nicht durch eine ganz ungewöhnliche Begabung das Übergewicht ausgliche, in die zweite Linie zurücktreten, und nur in der Rechtsgeschichte würde nach wie vor dem Theoretiker der Universitäten der erste Platz verbleiben.

Ich weiß, welchen Anstoß diese Prophezeiung in den Kreisen meiner Fachgenossen erregen wird. Das Wagnis, den Praktikern in der Zukunft die erste Stelle in der dogmatischen Rechtswissenschaft in Aussicht zu stellen, wird hinreichen, mir den Vorwurf des Abfalls von der Wissenschaft einzutragen. Ich nehme ihn willig entgegen; ich lege ihn zu denen, welche auf Grund dieser ganzen Schrift gegen mich ergehen werden. Zur Beruhigung ängstlicher Gemüter füge ich hinzu, daß meine Prophezeiung, so lange sie und ich leben, nicht in Erfüllung gehen wird – – die einzige Prophezeiung, welche Aussicht auf Erfüllung hat, ist die: es bleibt beim alten!

Ich lasse mich durch diese Aussicht nicht irre machen, meine Reformvorschläge weiter zu entwickeln.

9. Neben den ältern Mitgliedern, welche aus der Zahl hervorragender praktischer Juristen genommen würden, und denen durch Erhöhung des Gehalts und der Rangstellung ein Motiv gewährt werden müßte, ihre bisherige Stellung mit der eines Mitgliedes der Prüfungskommission zu vertauschen, würden jüngere durch Wissen und Begabung hervorragende Assessoren oder Richter vorübergehend in die Kommission deputiert. Bewähren sie sich, so bleiben sie darin, bewähren sie sich nicht, oder wünschen sie in die Praxis zurückzutreten, so bleibt ihnen der Rücktritt mit Vorbehalt der Anciennität frei. Auch ihnen müßte ein höheres Gehalt und eine entsprechende höhere Stellung gewährt werden, – Examinator zu sein, muß als Auszeichnung gelten, als Anerkennung für eine ungewöhnliche Kraft und Tüchtigkeit.

10. Die Mittelstellung der Examinationsbehörden zwischen Theorie und Praxis soll beiden zugute kommen. Dem akademischen Lehrer, der des Lehrens müde geworden, nicht mehr die Fähigkeit oder die Lust in sich fühlt, seinen Lehrberuf zu eigener oder fremder Befriedigung fortzusetzen, soll die Examinationskommission die Möglichkeit eröffnen, den Lehrer mit dem Examinator zu vertauschen, – ein Vorteil gleichmäßig für ihn, wie für den Unterricht. Umgekehrt sollen die Kommissionen den juristischen Fakultäten die Möglichkeit gewähren, sich aus ihnen zu rekrutieren. Die jüngeren Mitglieder derselben, welche sich durch literarische Leistungen hervorgetan hätten, wären die geborenen Professoren für alle Zweige der juristischen Dogmatik: Civilrecht, Civilprozeß, Kriminalrecht. Dadurch würde dem Mangel an geeigneten Persönlichkeiten vorgebeugt, welcher sich für die Besetzung juristischer Professuren augenblicklich in so hohem Grade fühlbar macht. Auch bei den Medicinern ist es nichts Seltenes, daß jemand aus einer praktischen Lebensstellung auf die Professur berufen wird, – warum sollte dies bei den Juristen ausgeschlossen sein? Der Tüchtigste ist der Beste. Wer ihm das mißgönnt, mag selber der Beste werden, und der künftige Privatdocent an den juristischen Fakultäten mag wissen und es beherzigen, daß ihm in dem talentvollen und literarisch bewährten Assessor oder Amts- oder Landrichter der Prüfungskommissionen ein gefährlicher Konkurrent erwachsen ist, dem er durch eigene wertvolle Leistungen die Stange zu halten hat. Fakultäten, die das Interesse des Unterrichts höher stellen als das der Unterrichtenden, würden eine solche Konkurrenz nur mit Freuden begrüßen können, und wären sie engherzig oder schwach genug, um dem mittelmäßigen Akademiker vor dem tüchtigen Nichtakademiker den Vorzug einzuräumen, die höchste Behörde würde einsichtig genug sein, die richtige Wahl zu treffen.

11. Die Zahl der Prüfungskommissionen für das erste Examen müßte gegenüber der bisherigen ganz erheblich vermindert werden, vielleicht würde sich die Einsetzung einer einzigen empfehlen, welche groß genug sein müßte, um verschiedene Abteilungen zu bilden. Die Centralisation derselben an einem Ort würde den Vorteil bieten, daß durch eine periodisch wechselnde Zusammensetzung der einzelnen Abteilungen eine Gleichmäßigkeit des Maßstabes erzielt würde, der zur Zeit gänzlich fehlt; das erste juristische Examen würde damit in dieser Beziehung auf die Höhe des zweiten gehoben.

Meine Vorschläge sind hiermit beschlossen. Aber das Schlußwort fehlt noch. Es ist dasselbe wie bei der dritten Abteilung der Schrift: ich habe geträumt. Aber ich bedaure nicht, beide Träume geträumt zu haben, – vielleicht stiften sie doch etwas Gutes.


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