Jerome Klapka Jerome
Drei Mann in einem Boot
Jerome Klapka Jerome

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Ich saß am Ufer, während ich die vorher beschriebenen Szenen vor meines Geistes Auge aus dem Dunkel der Jahrhunderte heraufbeschwor, da machte Georg die Bemerkung gegen mich, wenn ich vollständig ausgeruht habe, so werde es mir vielleicht nichts ausmachen, ein wenig beim Aufwaschen zu helfen; auf diese Weise aus den Tagen glorreicher Vergangenheit in die prosaische Gegenwart mit all ihrem Elend und all ihrer Sünde zurückgerufen, schlüpfte ich denn wieder ins Boot hinein, fegte die Bratpfanne mit einem Stück Holz, an welches ich ein Bündel Gras befestigt hatte, und rieb sie zuletzt mit Georgs nassem Hemd glänzend.

Wir gingen dann nach der Magna Charta-Insel hinüber und beschauten uns den Stein, der dort in der Hütte steht, auf welchem die große Charta unterzeichnet worden sein soll; ich möchte mich indessen nicht dafür verbürgen, daß dies wirklich hier und nicht am andern Ufer in Runningmede geschehen ist. Was meine eigene Meinung anbetrifft, so bin ich eher geneigt anzunehmen, daß es auf der Magna Charta-Insel, wie die Volkssage will, geschehen sei. –

Gewiß, wäre ich einer der Barone jener Zeit gewesen, so würde ich fest darauf bestanden haben, daß es sehr geraten sei, einen so schlüpfrigen Kameraden wie König Johann nach dem Eiland zu bugsieren, wo sich ihm weniger Gelegenheit für Überraschungen und Verrat darbot.

Auf dem Grund von Ankerwyke, nahe bei Picnic-Point, sieht man heute noch die Ruinen eines alten Klosters. In dieser Gegend soll Heinrich VIII. seine Zusammenkünfte mit Anna Boleyn gehabt haben. Aber er pflegte solche auch auf Bever Schloß in der Grafschaft Kent und auch irgendwo in der Gegend von St. Albans zu halten.

Es muß für das englische Volk damals ziemlich schwierig gewesen sein, einen Platz zu finden, wo dieses gedankenlose junge Volk sich nicht umhertrieb!

Wart ihr jemals in einem Hause, wo ein Liebespaar sich gerade aufhielt? O, das zählt schon zu dem Unangenehmsten auf dieser Welt. Ihr wollt euch ein Weilchen im Salon aufhalten und begebt euch dahin. Beim Öffnen der Tür hört ihr ein Geräusch, als ob sich jemand plötzlich nach einem zuvor vergessenen Gegenstand umsehen wollte, und wenn ihr dann eingetreten seid, so steht Emilie am Fenster und schaut voll Interesse nach der entgegengesetzten Seite der Straße, während euer Freund Johann Eduard am anderen Ende des Salons durch den Anblick von Photographien von Leuten, die er gar nicht kennt, völlig gebannt zu sein scheint.

»O,« sagt ihr und bleibt am Eingang stehen, »Verzeihung, ich wußte nicht, daß jemand hier sei.«

»O,« sagt Emilie in ihrem kühlsten Tone, der euch deutlich zu verstehen gibt, daß sie euch nicht glaubt; »Sie haben es nicht gewußt?«

Dann drückt ihr euch noch ein Weilchen herum und fragt dann:

»Warum habt ihr denn das Gas nicht angezündet? Es ist doch so dunkel hier!«

Und Johann Eduard sagt:

»O, ich habe es nicht bemerkt.«

Und Emilie setzt schnippisch hinzu:

»Papa liebt es nicht, wenn nachmittags das Gas angezündet wird.«

Nun erzählt ihr den jungen Leuten ein paar Tagesneuigkeiten oder gebt ihnen eure Ansicht über die irische Frage zum besten; aber all das scheint sie nicht im mindesten zu interessieren, alles, was sie über den Gegenstand bemerken, ist:

»O, wirklich! Nicht möglich. – Ach so! Was Sie nicht sagen!«

Und nachdem ihr zehn Minuten lang diese Art Unterhaltung genossen habt, drückt ihr euch allmählich gegen die Tür und schlüpft hinaus, wobei ihr mit Erstaunen bemerkt, daß sie sich unmittelbar hinter euch schließt, ohne daß ihr sie berührt habt.

Eine halbe Stunde später denkt ihr, im Wintergarten würde sich hübsch ein Pfeifchen rauchen lassen. Aber der einzige Stuhl darin ist von Emilien besetzt, und Eduard, wenn man sich auf die Sprache der Kleider verlassen darf, muß augenscheinlich auf dem Boden gesessen haben. Und sie sprechen nicht, aber sie sehen euch an mit Blicken, die alles ausdrücken, was man sich in zivilisierter Gesellschaft nicht sagen darf. Ihr nehmt einen schleunigen Rückzug und schließt die Tür hinter euch. Jetzt habt ihr aber wirklich Angst, eure Nase noch in irgendein Zimmer im Hause hineinzustecken; so geht ihr denn eine Weile die Treppe auf und ab, bis ihr euch entschließt, euch in eurem Schlafzimmer niederzusetzen. Das wird euch aber auf die Dauer recht langweilig; so setzt ihr denn euren Hut auf und geht hinaus in den Garten; euer Weg führt euch an dem Pavillon vorbei, und wie ihr da einen Blick hineinwerft, seht ihr darin in einer Ecke zusammengedrängt jene zwei närrischen jungen Leute. Und sie sehen euch auch und sind offenbar des Glaubens, daß ihr sie absichtlich und böswillig überallhin verfolgt.

»Warum hat man denn für dergleichen nicht ein besonderes Zimmer, wo sich solches Volk aufzuhalten verpflichtet wäre?« brummt ihr in eurem Ärger, rennt zurück nach dem Hause, greift nach eurem Regenschirm und geht aus.

Ähnlich muß es früher wohl auch schon zugegangen sein, als jener närrische Knabe, Heinrich VIII., seiner kleinen Anna den Hof machte. Die Leute aus der Grafschaft Buckingham haben sie wohl öfter überrascht, wenn sie um Windsor und Wraysbury ihre Mondscheinpromenaden machten.

Und wenn die Leute dann ausriefen: »O, Sie sind es!«, so pflegte wohl Heinrich errötend zu sagen: »Ja! Ich habe nach jemand sehen wollen«; und Anna pflegte dann wohl hinzuzusetzen: »O, wie freue ich mich, Sie zu sehen. Ist das nicht sonderbar, eben bin ich mit Herrn Heinrich VIII. auf diesem Feldweg zusammengetroffen, und nun, denken Sie sich nur, geht er denselben Weg wie ich.«

Dann pflegten jene Leute wohl zueinander zu sagen: »O, wir tun besser daran, uns aus dem Staub zu machen, solange dies Girren und Balzen hier herum zu hören ist. Wir wollen nach Kent hinab.« Und kamen sie dann nach Kent, so war das erste, was sie dort gewahrten, Heinrich VIII. und Anna, die Schloß Bever unsicher machten.

»O, daß doch ein Donnerwetter!« rufen sie nun wütend aus. »Wir wollen fort von hier. Ich kann das nicht länger mehr ertragen. Wir wollen nach St. Albans. Ein netter, ruhiger Ort, dieses St. Albans.«

Und wenn sie nun nach St. Albans kamen, wen trafen sie da? Wiederum jenes verwünschte Liebespärchen, das sich an der Mauer der alten Abtei herzte und küßte.

Da war es denn kein Wunder, wenn jene guten Leute die Gegend verließen und Seeräuber wurden, bis die Hochzeit vorbei war.

Von Picnic-Point aufwärts bis zur Schleuse bei Windsor bietet der Fluß ein reizendes Bild dar. Ein schattiger Weg, an dem dann und wann ein kleines grünumsponnenes Landhaus steht, zieht sich längs des Ufers hin bis zu den »Glocken von Onseley«, einem malerisch aussehenden Wirtshause (nebenbei bemerkt, die meisten dieser Wirtshäuser am Fluß sehen malerisch aus), wo ein gutes Glas Bier winkt, so sagt uns wenigstens Harris, und bei einer derartigen Sache kann man sich auf sein Wort verlassen. Das liebe, alte Windsor ist ein eigenartig berühmter Ort. Eduard der Bekenner hatte hier einen Palast; und hier wurde der mächtige Graf Godwin durch die damaligen Gerichte für schuldig befunden, den Tod des Bruders des Königs verschuldet zu haben. Der Graf Godwin brach ein Stückchen Brot ab und hielt es in die Höhe.

»Dies Brot soll mir den Tod bringen, wenn ich schuldig bin,« rief er aus; dann schob er das Brot in den Mund, aß es – und erstickte daran.

Als wir an Datched vorüberkamen, fragte mich Georg, ob ich mich auch noch unserer ersten Fahrt auf dem Flusse erinnere, und wie wir um zehn Uhr nachts in Datched gelandet, um dort zu übernachten.

»Na ob,« antwortete ich ihm. Es wird noch eine geraume Zeit dauern, bis ich es vergesse. Es war am Samstag vor dem Augustfeiertag.An den sogenannten Bankfeiertagen, namentlich an dem im August, pflegt in England alles los und ledig zu sein. Wir waren müde und hungrig – wir nämlichen drei – und als wir nach Datched kamen, zogen wir unseren Korb heraus sowie unsere zwei Koffer, Teppiche, Überzieher und dergleichen und begaben uns auf die Suche nach irgendeinem Unterschlupf. Wir kamen an ein ganz ordentlich aussehendes Wirtshaus, dessen Eingang mit Klematis und anderen Schlingpflanzen umsponnen war. Aber Geißblatt war nicht darunter; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund ich meinen Kopf nun einmal auf Geißblatt gesetzt hatte; aber auf Geißblatt gesetzt hatte ich ihn; deshalb erklärte ich meinen Gefährten:

»O, da wollen wir nicht hinein! Wir wollen etwas weiter gehen und sehen, ob nicht auch ein Wirtshaus kommt, das von Geißblatt umrankt ist.«

So gingen wir weiter, bis wir zu einem Hotel kamen. Auch das war ein ganz nettes Hotel, und es war auf der Seite mit Geißblatt überwachsen; aber Harris gefiel das Aussehen eines Menschen nicht, der am Eingange lehnte.

Harris sagte, der Mann sehe gar nicht liebenswürdig aus, und er habe so abscheuliche Stiefel an. So gingen wir denn weiter. Nachdem wir eine gute Weile marschiert waren und kein weiteres Hotel angetroffen hatten, ersuchten wir einen Vorübergehenden, uns nach einigen zu weisen.

Der Mann meinte: »Ei! Sie kommen ja von ihnen her! Sie müssen umkehren und gerade wieder zurückgehen, dann kommen Sie zum ›Hirschen‹«!

Wir darauf: »O, dort waren wir schon, aber es gefiel uns nicht; es ist ja kein Geißblatt daran!«

»Nun,« sagte der Mann, »dann ist ja dort das ›Herrenhaus‹ gerade gegenüber. Haben Sie es dort schon versucht?«

Harris sagte, dahin wollten wir nicht gehen; er habe da einen Mann gesehen, der ihm nicht gefallen habe; die Farbe seines Haares habe ihm nicht gefallen, seine Stiefel ebenfalls nicht.

»Ja, dann ist guter Rat teuer,« sagte unser Cicerone, »denn das sind die einzigen Wirtshäuser dieses Orts.«

»Sonst keine Wirtshäuser?!« rief Harris verzweiflungsvoll.

»Nein, keine!« entgegnete der Mann.

»Ja, um des Himmels willen! Was fangen wir denn jetzt an?«

Jetzt ergriff Georg das Wort; er sagte, Harris und ich, wir könnten uns ein Hotel, speziell für uns zwei, bauen und auch gleich die Kunden dafür backen lassen, wenn es uns beliebe. Er für sein Teil gehe zurück zum »Hirschen«.

Den größten Geistern gelingt es ja selten, ihre Ideale zu verwirklichen; da seufzten denn ich und Harris über die Hohlheit alles irdischen Strebens und folgten Georg.

Wir brachten unsere Sachen in den »Hirschen« und legten sie in der Vorhalle nieder. Der Wirt kam und sagte: »Guten Abend, meine Herren!« »O! Guten Abend!« sagte Georg. »Wir möchten drei Betten haben.«

»Tut mir leid, meine Herren!« sagte der Wirt, »aber ich fürchte, es wird nicht gehen.«

»Nun,« sagte Georg, »es macht nichts! Zwei Betten tun's auch! Zwei von uns können in einem Bett schlafen, nicht wahr?« Hierbei wandte er sich gegen Harris und mich.

Harris sagte: »O freilich«; er dachte, Georg und ich könnten wohl in einem Bett schlafen.

»Tut mir sehr leid,« wiederholte der Wirt, »aber wir haben in der Tat im ganzen Hause kein einziges Bett frei. Wir haben wirklich schon zwei und selbst drei Herren in einem Bett untergebracht!«

Dies machte uns denn doch etwas bedenklich, aber Harris, der schon viel gereist ist, zeigte sich jetzt in seiner ganzen Größe, indem er heiter lachend ausrief: »Ah, das läßt sich nun einmal nicht ändern. Sie müssen uns eben im Billardzimmer ein primitives Lager aufschlagen.«

»Tut mir sehr leid, mein Herr! Es liegen bereits drei Herren auf dem Billard,« sagte der Wirt, »und zwei im Kaffeesaal. Ich kann Sie heute unmöglich über Nacht behalten.«

Da nahmen wir unsere Sachen wieder auf und gingen hinüber nach dem »Herrenhaus«. Ich sagte, es gefalle mir doch besser als das andere, und Harris sagte: »O ja; es werde gewiß ganz nett sein; wir brauchten ja auch den Mann mit dem roten Haar nicht anzusehen; überdies könne der arme Teufel wahrscheinlich nichts dafür.«

Harris sprach ganz freundlich und verständig darüber. Aber die Wirtsleute im »Herrenhaus« ließen uns nicht lange Zeit zu unserer Unterhaltung.

Die Wirtin begrüßte uns schon auf der Treppe mit den Worten, wir seien bereits die vierzehnte Gesellschaft, die sie seit den letzten anderthalb Stunden habe abweisen müssen.

Auf unsere sanften Andeutungen betreffs Billardzimmer, Ställe oder Kohlenschuppen hatte sie nur ein überlegenes Lächeln; diese Schlupfwinkel seien alle schon längst weggeschnappt und belegt.

Ob sie vielleicht im Dorfe ein Plätzchen wüßte, wo wir über Nacht bleiben könnten?

Nun, wenn es uns nicht darauf ankäme, sie könne es zwar nicht empfehlen, gewiß nicht, aber eine Viertelstunde weiter auf dem Wege nach Eton, da sei eine kleine Bierschenke. Wir wollten nicht weiter hören, wir faßten den Korb, die Reisesäcke, die Überzieher, die Plaids und die Pakete und rannten davon.

Die Entfernung schien uns eher eine halbe denn eine Viertelstunde zu betragen; doch endlich erreichten wir die Schenke und stürmten atemlos hinein. Der Schenkwirt und seine Leute waren gefühllos. Sie lachten uns bloß aus. Es gäbe nur drei Betten im ganzen Haus und darin hätten sie schon sieben ledige Herren und zwei verheiratete Paare untergebracht. Ein gutmütiger Fischer, der gerade in der Schenkstube war, meinte, wir könnten es ja bei dem Krämer versuchen, der neben dem »Hirschen« wohne; so gingen wir denn wieder zurück.

Bei den Krämersleuten war alles besetzt. Eine alte Frau, die wir im Laden antrafen, war so gutherzig, uns ungefähr eine Viertelmeile weit zu einer alten Freundin von ihr, welche gelegentlich Zimmer an Fremde vermiete, mitzunehmen. Die alte Frau bewegte sich sehr langsam vorwärts, so daß wir wohl zwanzig Minuten unterwegs waren. Während wir so dahintrippelten, erheiterte sie uns durch die Beschreibung all der verschiedenen Gebresten, die sie in ihrem Rücken verspüre.

Aber ihrer Freundin Zimmer war vermietet; von dort wurden wir an Haus Nr. 27 gewiesen. Nr. 27 war besetzt und sandte uns zu Nr. 32. Auch dieses Haus war vermietet.

Jetzt gingen wir zurück auf die Landstraße, wo sich Harris mit der Erklärung, daß er nimmer weitergehe, auf den Korb niedersetzte. Er meinte, es sei hier ein ruhiges Plätzchen; hier werde er gerne sterben. Er ersuchte Georg und mich, seine Mutter noch einmal von ihm zu grüßen und zu küssen und allen seinen Freunden zu sagen, daß er ihnen vergeben habe und selig gestorben sei.

In diesem Augenblick kam uns ein Engel, zugesandt in der Gestalt eines kleinen Knaben (ich kann mir keine eines Engels würdigere Gestalt denken) mit einer Bierkanne in einer Hand und in der andern ein Etwas an einer Schnur, das er auf jeden Stein auf dem Wege auffallen ließ, um es dann wieder in die Höhe zu schnellen, was jedesmal einen wenig anziehenden, beinahe kläglichen Ton hervorbrachte. Wir fragten diesen himmlischen Boten (als einen solchen haben wir ihn nachmals erkannt), ob er hier herum irgendein einsames Haus wüßte, mit nur wenigen schwächlichen Bewohnern (ältliche Damen oder lahme Herren würden wir vorziehen), die man leicht so weit einschüchtern könnte, daß sie ihre Betten für diese Nacht an drei desperate Männer abtreten würden; aber im Fall es damit nichts wäre, ob er uns vielleicht einen leeren Schweinestall oder einen nicht mehr im Gebrauch stehenden Kalkofen oder irgend etwas Derartiges empfehlen könne. –

Nichts von alledem war ihm bekannt, wenigstens kein netter derartiger Ort; doch wenn wir mit ihm kommen wollten, sagte er, seine Mutter habe ein Schlafzimmer und könnte uns über Nacht behalten. Wir fielen dem Knaben um den Hals, während der Mond auf uns herniederschaute, und küßten ihn; es hätte ohne Zweifel ein schönes Gemälde abgegeben, wenn nur der Knabe nicht so sehr von unserer Rührung überwältigt worden wäre, daß er sich nicht mehr aufrecht halten konnte, sondern zu Boden fiel, und wir alle drei über ihn her.

Auch Harris war so sehr von der Freude übermannt, daß er ohnmächtig wurde und des Knaben Bierkanne erfassen und zur Hälfte leeren mußte, ehe er wieder zu sich selber kommen konnte; dann raffte er sich plötzlich auf und rannte davon, Georg und mir die Sorge für unser Gepäck überlassend. –

Es war ein kleines, vier Zimmer enthaltendes Häuschen, wo der Knabe mit seiner Mutter lebte; diese gute Seele gab uns gerösteten Speck zum Nachtessen. Es waren fünf Pfund, aber wir aßen ihn ganz auf, und ebenso einen Geleekuchen, – und zwei Töpfe Tee tranken wir leer.

Dann gingen wir zu Bett. Es waren zwei Betten in dem Zimmer. Das eine war ein zwei und einen halben Fuß breites Rollbett; in diesem schliefen Georg und ich; wir verhinderten unser Herausfallen dadurch, daß wir uns mit einem Leintuch zusammenbanden. Das andere war des Knaben Bett, das Harris ganz für sich allein bekam.

Am andern Morgen fanden wir ihn, wie seine nackten Beine zwei Fuß weit über die Bettstatt heraushingen; Georg und ich benützten diese Beine bei unserem Bade als Handtuchständer.

Als wir das nächste Mal wieder nach Datched kamen, waren wir nicht mehr so anspruchsvoll in bezug auf ein Hotel.

Aber – um auf unsere gegenwärtige Fahrt zurückzukommen – nichts Aufregendes geschah, und wir strebten in gleichmäßigem Trott vorwärts bis in die Nähe der »Affeninsel«, wo wir anhielten und unser Gabelfrühstück verzehrten. Wir machten uns über das kalte Roastbeef her und entdeckten, daß wir den Senf vergessen hatten. Ich glaube nicht, daß ich je in meinem Leben den Senf so sehr vermißt habe, wie damals. Ich mache mir sonst nicht viel aus Senf, ich esse ihn sogar sehr selten, – aber damals hätte ich eine Welt für ein bißchen Senf gegeben!

Ich weiß nicht, wie viele Welten es überhaupt im Universum geben mag, aber demjenigen, der mir einen Teelöffel voll Senf gebracht hätte, würde ich sie alle miteinander überlassen haben. Ich kann ganz rabiat werden, wenn ich etwas haben möchte und es nicht bekommen kann.

Harris meinte, auch er würde ein paar Welten für ein wenig Senf gegeben haben. Da hätte einer mit einem Topf Senf ein gutes Geschäft machen können; ja, da wäre einer für den Rest seines Lebens geborgen gewesen!

Aber, trau einer der Menschennatur! – Wir beide, Harris und ich, hätten bald den Handel wieder rückgängig machen wollen, sobald wir den Senf bekommen hätten. In der Aufregung macht man oft solch ausschweifende Anerbietungen, aber wenn man hinterher darüber nachdenkt, so wird einem natürlich die Lächerlichkeit einer solch übertriebenen Wertschätzung des gewünschten Gegenstandes klar. –

So hörte ich einmal einen Herrn, der in der Schweiz eine Bergtour machte, ausrufen: »Eine Welt für ein Glas Bier!« und als er bald darauf ein kleines Wirtshaus erreichte, in welchem Bier zu haben war, da schlug er einen Höllenlärm auf, weil man ihm für eine Flasche Bier fünf Franken abverlangte. Er schrie, es sei das eine schamlose Betrügerei und schrieb darüber einen Bericht an die »Times«.

Die Abwesenheit des Senfs warf einen düstern Schatten in unser Leben auf dem Boot. In aller Stille aßen wir unsern Rindsbraten. Unser Dasein erschien uns schal und öde. Wir gedachten der glücklichen Tage unsrer Kindheit und seufzten. Als wir aber bei der Apfeltorte angekommen waren, wurden wir doch wieder etwas heiterer, und als Georg eine Zinnbüchse mit Ananas aus dem Korb hervorzog und mitten in das Boot rollen ließ, fanden wir, daß dieses Leben doch wohl lebenswert sei.

Wir alle drei sind große Liebhaber von Ananas. Wir schauten mit freundlichen Blicken die Abbildung auf der Zinnbüchse an, gedachten des Saftes, den sie enthalten würde, und lächelten einander an; Harris hatte sofort seinen Löffel parat, dann suchten wir das Messer, um die Büchse zu öffnen. Wir lehrten den ganzen Korb danach um; dann leerten wir die Reisesäcke aus. Hernach hoben wir die Bretter des Boots in die Höhe. Hierauf schleppten wir alles ans Ufer und schüttelten es aus. Aber kein Büchsenmesser wollte sich finden.

Jetzt versuchte Harris die Büchse mit seinem Taschenmesser zu öffnen; aber dabei zerbrach er die Klinge und schnitt sich tief in die Hand; dann versuchte es Georg mit der Schere; aber diese schnellte in die Höhe und hätte ihm um ein Haar ein Auge ausgestochen. Während die beiden ihre Wunden verbanden, versuchte ich mit dem spitzen Ende des Bootshakens ein Loch in die Büchse zu bohren, aber der Haken entschlüpfte mir und warf mich über das Boot hinaus in zwei Fuß tiefes schmutziges Wasser, während die Büchse unversehrt davonrollte und eine Teetasse zerschlug.

Jetzt wurden wir alle drei fuchswild. Wir nahmen die heimtückische Büchse ebenfalls ans Ufer; Harris holte einen schweren, scharfkantigen Stein, und ich holte den Mast aus dem Boot; Georg hielt die Büchse und Harris die Spitze des Steines darauf, und ich schwang den Mast mit aller Kraft in die Höhe und schmetterte ihn nieder.

Georgs Strohhut war es, der ihm damals das Leben rettete! Er hat diesen Strohhut, d. h. was davon übrig blieb, als eine teure Erinnerung aufbewahrt; und an Winterabenden, wenn die Pfeifen glühen und die Jungen von ihren kühnen Streichen erzählen und von den Gefahren, denen sie glücklich entronnen sind, holt Georg ihn herbei und zeigt ihn den Anwesenden, und die aufregende Geschichte wird aufs neue, jedesmal mit erhabeneren Ausschmückungen, erzählt. Harris kam mit einer bloßen Fleischwunde davon. Daraufhin nahm ich die Büchse allein in Angriff und hieb mit dem Mast darauf, bis ich erschöpft und todestraurig niedersank, worauf Harris sie ergriff.

Wir schlugen sie flach, wir schlugen sie wieder zu einem Würfel, wir brachten sie in jede denkbare geometrische Form – aber wir konnten kein Loch hineinbekommen. Dann griff Georg wieder danach und klopfte sie in eine so seltsame, so unheimliche, in ihrer wilden Häßlichkeit so unirdische Form, daß ihm selbst bange davor wurde und er den Mast wegwarf. Jetzt setzten wir uns alle drei rings um das Ding herum und schauten es an. Quer über das obere Ende lief ein Einschnitt, der sich wie ein höhnisches Grinsen ausnahm und uns derart in Wut versetzte, daß Harris sich darauf losstürzte, es erfaßte und mit einem furchtbaren Schwung bis in die Mitte des Stromes hineinwarf, wohin wir ihm unsere Verwünschungen nachsandten. Dann stiegen wir wieder ins Boot, ruderten eilends hinweg von dem Ort und ruhten nicht eher, bis wir Maidenhead erreicht hatten.

Maidenhead selbst ist zu übertüncht, um ein angenehmer Aufenthalt zu sein. Es ist ein Aufenthalt für die den Fluß unsicher machenden Sonntagsstutzer mit ihren übertrieben gekleideten Duennas. Es ist eine Stadt voll aufgeputzter Hotels, hauptsächlich von Kommis und Ballettmädchen frequentiert. Es ist die Hexenküche, woraus jene den Fluß heimsuchenden Teufel, jene kleinen Dampfboote hervorgehen. Der Herzog, wie er in der »Londoner Zeitung« figuriert, hat immer sein »kleines Schlößchen« in Maidenhead; und die Heldin der dreibändigen Tagesromane speist regelmäßig dort, wenn sie mit dem Gatten einer andern einen lustigen Tag verbringen will.

Schnell passierten wir das schlüpfrige Maidenhead, dann verlangsamten wir die Fahrt, um die nun folgende herrliche Strecke mit Muße zu genießen. Am Abend hatte sich ein steifer Wind erhoben, diesmal merkwürdigerweise zu unseren Gunsten; denn fährt man auf dem Flusse, so ist einem in der Regel der Wind entgegen, welche Richtung man auch einschlagen mag. Wenn ihr auf einen ganzen Tag ausfahren wollt, müßt ihr am Morgen natürlich gegen den Wind fahren; ihr rudert nun eine tüchtige Strecke weit und denkt dabei, wie angenehm bei solchem Wind die Rückfahrt mit aufgehißtem Segel sein werde. Aber nach dem Nachmittagstee springt der Wind um und ihr dürft euch beim Heimfahren den ganzen Weg lang wieder ebenso tüchtig ins Zeug legen. Habt ihr aber vergessen, euch mit einem Segel zu versehen, dann bläst der Wind immer in eurer Richtung, ob ihr auf- oder abwärts fahrt! Aber das ist nun einmal so auf dieser Welt. Das Leben ist eine Prüfung, und der Mensch ist geboren zu arbeiten, daß die Funken stieben.

Aber an diesem Abend war augenscheinlich ein Mißgriff geschehen; der Wind blies uns in den Rücken, anstatt ins Gesicht. Wir waren deshalb auch mäuschenstill und hißten geschwind unser Segel auf, ehe Freund Äolus es merkte; dann suchte sich jeder einen bequemen Platz im Boot und nahm eine nachlässig gedankenvolle Haltung an. Da blähte und spannte sich das Segel, daß der Mast und die Spieren krachten und das Boot vor dem Winde dahinflog.

Ich steuerte. Es gibt meines Wissens keine den ganzen Körper mehr durchzitternde Erregung als die, die das Segeln in uns hervorbringt. Es grenzt das so nahe ans Fliegen, als der Mensch dem Fliegen bis jetzt überhaupt nahegekommen ist – ausgenommen im Traum! Auf Windesflügeln scheint man getragen zu werden, man weiß nicht wohin. Man ist nicht mehr der träge, schwache Erdenklotz, der, sich am Boden krümmend, dahinkriecht. Nein, man ist ein Teil der Natur. Unser Herz schlägt gegen das ihre. Sie schlingt ihre herrlichen Arme um uns und drückt uns an ihren Busen. Unser Geist ist eins mit dem ihren. Unsere Glieder werden leichter und leichter. Der Sphärengesang klingt an unser Ohr. Die Erde scheint uns in immer weitere Ferne gerückt, zuletzt winzig klein, und die Wolken dicht über unsern Häuptern sind unsre Geschwister, denen wir sehnend die Arme entgegenstrecken.

Wir hatten jetzt den Fluß für uns ganz allein; nur in weiter Ferne erblickten wir ein flaches Fischerboot, das ziemlich in der Mitte des Stromes vor Anker lag; drei Fischer saßen darin. Unser Boot tanzte über das Wasser hin, als wir an dem waldigen Ufer vorbeistrichen; keiner von uns sprach ein Wort. Ich saß am Steuer.

Als wir näher kamen, sahen wir, daß die drei Fischer alt und ehrwürdig dreinschauten. Sie hatten sich auf drei Stühlen niedergesetzt und schauten aufmerksam auf ihre Angelschnüre.

Die Abendröte warf einen mystischen Schein auf die Wasserflut, tauchte das Ufergehölz in feurige Glut und vergoldete die aufgetürmten Wolken. Es war eine Stunde voll tiefen Zaubers, voll süßer Hoffnung und Sehnsucht. Unser kleines Segel hob sich gegen den purpurnen Himmel ab, die Dämmerung umfing uns und hüllte die Welt in Schatten – und hinter uns schlich die Nacht einher.

Wir deuchten uns wie die Ritter einer alten Sage, die über einen Geistersee in das unbekannte Land der Dämmerung oder nach dem Lande der Abendröte segeln.

Wir fuhren aber nicht ins Land der Dämmerung, nein, wir fuhren – krach! – auf besagtes Boot mit den drei Fischern auf.

Wir wußten zuerst nicht, was geschehen war, weil uns das aufgespannte Segel die Aussicht benahm; aber die Art und Weise der Ausdrücke, die jetzt die Abendluft durchzitterten, brachte uns auf die Vermutung, daß wir uns nahe bei menschlichen Wesen befinden müßten, welche erbost und unzufrieden zu sein schienen.

Harris zog das Segel ein, und dann sahen wir, was geschehen war. Wir hatten jene drei alten Leute von ihren Sitzen auf den Grund des Bootes niedergeworfen, wo sie jetzt zu einem einzigen Haufen zusammengeballt lagen, während jeder mit großer Mühe sich aus dem Knäuel loszuwickeln und die Fische von sich abzuschütteln bemüht war. Dabei fluchten sie auf uns, nicht mehr in gewöhnlichen, menschlichen Flüchen, sondern in langen, wohlausgedachten Verwünschungen, welche unsere ganze Laufbahn umfaßten, noch bis auf die entfernteste Zukunft sich erstreckten, alle unsere Freunde, Verwandte und Bekannte, alles, was jemals mit uns in Verbindung war oder treten könnte, mit eingeschlossen – um es kurz zu sagen: echte, schwerwiegende Flüche!

Harris sagte zu ihnen, sie sollten uns vielmehr dankbar sein, daß wir ihnen etwas Abwechslung in die Langeweile ihres Daseins gebracht hätten; und er fügte hinzu, es habe ihn tief betrübt, daß Männer in ihrem Alter so ihren Leidenschaften die Zügel schießen ließen. Aber es half alles nichts – sie schimpften fort. Da erhob sich Georg und sagte, nunmehr wolle er steuern. Er meinte, von einem Geist wie dem meinigen sei nicht zu erwarten, daß er jemals werde ein Boot ordentlich steuern können; es sei besser, man lasse einen gewöhnlichen Sterblichen das Boot in Obhut nehmen, ehe wir alle mit bester Manier ersäuft würden – und damit ergriff er das Steuer und brachte uns nach Marlow. Dort ließen wir das Boot an der Brücke und gingen zum Übernachten in die »Krone.«

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