Jerome Klapka Jerome
Drei Mann in einem Boot
Jerome Klapka Jerome

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Den andern Morgen erwachte ich um sechs Uhr und fand auch Georg schon erwacht. Wir legten uns auf die andere Seite und suchten noch einmal einzuschlafen; aber es ging nicht. Wäre irgendein besonderer Grund gewesen, weshalb wir nicht wieder hätten einschlafen, sondern aufstehen und uns anziehen sollen, so wären wir mit einem Blick auf unsere Uhren gewiß wieder in Schlaf versunken und hätten bis zehn Uhr fortgeschlafen.

Aber da wir auf der weiten Gotteswelt gar keine Veranlassung hatten, zum mindesten zwei Stunden zu früh aufzustehen, und dies denn auch wirklich die größte Absurdität gewesen wäre, so war es ja auch nur der verwünschten Widerspenstigkeit aller menschlichen Dinge zuzuschreiben, daß wir beide das Gefühl hatten, es würde unser Tod sein, wenn wir noch fünf Minuten länger liegen blieben.

Georg erzählte, daß ihm die nämliche Geschichte, nur noch schlimmer, vor achtzehn Monaten schon einmal passiert sei, als er bei einer gewissen Frau Gippings wohnte.

Seine Uhr sei einmal nicht in Ordnung gewesen und um Viertel auf neun stehen geblieben. Er habe dies aber damals nicht bemerkt, da er abends vergessen hatte, sie aufzuziehen (bei ihm ein ganz ungewöhnliches Vorkommnis). Er habe sie über seinem Bett aufgehängt, ohne nochmals darauf zu sehen. Es war im Winter, ganz nahe dem kürzesten Tag, als sich dies ereignete, und überdies war die ganze Woche über starker Nebel gewesen, so daß die Dunkelheit ihm kein Anhaltspunkt für die Zeit sein konnte, als er am andern Morgen erwachte. Er fuhr in die Höhe und holte seine Uhr herab. Sie zeigte viertel auf neun Uhr.

»O, jetzt umringt mich, all ihr guten Geister!« rief er aus, »ich muß ja bis um 9 Uhr in der City sein! Warum hat man mich denn nicht geweckt? O, es ist eine Schande!«

Er warf die Uhr zu Boden, sprang aus dem Bett, nahm ein kaltes Bad, wusch sich, kleidete sich an, rasierte sich mit kaltem Wasser, weil keine Zeit mehr war, auf heißes Wasser zu warten, und warf dann noch einen schnellen Blick auf die Uhr.

Ob nun die Erschütterung, welche die Uhr durch das Hinwerfen empfangen, sie in Gang versetzt, oder wie es sonst gekommen, konnte Georg nicht sagen; aber das war sicher, daß sie von viertel auf neun Uhr an wieder gegangen war und jetzt zwanzig Minuten vor neun Uhr zeigte.

Er steckte sie nun eilends ein und stürmte die Treppe hinab.

Im Wohnzimmer war noch alles dunkel und still; da war kein Feuer, kein Frühstück parat. Georg dachte bei sich selbst, das sei doch eine Erzschande für Frau Gippings, und war fest entschlossen, ihr verschiedenes zu sagen, wenn er abends zurückkäme. Dann zog er hastig einen Überrock an, stülpte den Hut auf den Kopf, griff nach dem Schirm und rannte hinab zu der Haustür. Sie war noch nicht einmal aufgeschlossen.

Georg verwünschte diese faule alte Frau Gippings ins Pfefferland und dachte, es sei doch sehr seltsam, daß die Leute nicht auch so anständig sein und zu rechter Zeit aufstehen könnten, – so schloß er denn selbst auf und eilte fort.

Eine Strecke weit rannte er in scharfem Trab, dann kam es ihm doch sehr sonderbar vor, daß so wenig Leute auf der Straße und noch keine Läden offen waren. Es war heute gewiß ein sehr finsterer und nebliger Tag; aber es war doch ungewöhnlich, daß deshalb alle Geschäfte stillstehen sollten! Er mußte doch auch ins Geschäft! Warum sollten denn andere Leute im Bett bleiben dürfen, nur weil es finster und neblig war? Endlich erreichte er Holborn, auch nicht ein einziger Laden war offen, kein einziger Omnibus zu erblicken. Nur drei Männer, wovon der eine ein Polizeidiener war, dann ein Marktkarren voll Gemüse und eine baufällige Kutsche waren zu sehen.

Georg zog wieder seine Uhr heraus; es war noch fünf Minuten bis neun Uhr. Er stand still und fühlte sich den Puls. Dann beugte er sich nieder und befühlte sich die Beine. Dann ging er, noch immer die Uhr in der Hand, auf den Polizeidiener zu und fragte ihn, ob er vielleicht wisse, wie spät es sei.

»Wie spät?« fragte der Mann, indem er Georg von oben bis unten musterte, da er ihn augenscheinlich für ein verdächtiges Subjekt hielt. »Ei, wenn Sie aufpassen, werden Sie gleich die Turmuhr schlagen hören.«

Georg lauschte, und eine benachbarte Glocke war sofort so gefällig zu schlagen.

»Ja, es hat aber nur drei geschlagen!« rief Georg ganz beleidigt aus.

»Nun, wieviel hätte es für Sie denn schlagen sollen?« fragte der Polizeidiener.

»I, nun – neun Uhr,« – sagte Georg, indem er auf die Uhr zeigte.

»Wissen Sie, wo Sie wohnen?« fragte der Mann des Gesetzes in strengem Tone.

Georg dachte etwas nach und gab ihm dann seine Adresse an.

»O, da wohnen Sie wirklich?« sagte der Mann. »Nun, ich denke, Sie folgen meinem Rat und gehen hübsch ruhig dahin, stecken diese Ihre Uhr wieder in die Tasche und lassen uns im übrigen ungeschoren.«

In tiefe Betrachtungen versunken, ging Georg heim und war wiederum sein eigener Portier. Zuerst wollte er sich wieder auskleiden und noch einmal zu Bette gehen – aber da dachte er, daß er sich dann ja noch einmal ankleiden und waschen und baden müßte, und so entschloß er sich, aufzubleiben und im Armstuhl zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht, wieder in Schlaf zu fallen; er war in seinem ganzen Leben nie so munter gewesen. So zündete er sich denn die Lampe an, zog das Schachspiel heraus und spielte eine Partie Schach mit sich selbst. Aber auch das konnte keine rechte Freude in ihm erwecken. Er wußte nicht, wie es kam; aber diese Unterhaltung dünkte ihn nachgerade etwas langweilig; so gab er denn das Schachspiel auf und versuchte etwas zu lesen. Aber die Fähigkeit, sich für irgendein Buch zu interessieren, schien ihm plötzlich abhanden gekommen zu sein. So zog er denn seinen Überrock wieder an und trat hinaus, um einen Spaziergang zu machen.

Draußen war es schrecklich einsam und düster; alle Polizeidiener, die ihm begegneten, schauten ihn mit unverhohlenem Argwohn an, richteten ihre Laternen auf ihn und gingen ihm nach.

Das übte eine solch niederschmetternde Wirkung auf ihn aus, daß er sich zuletzt wie ein wirklicher Bösewicht vorkam und sich seitwärts in die Nebengäßchen schlug und an dunklen Einfahrtstoren verkroch, wenn er die heilige Hermandad anrücken hörte.

Natürlich machte dies Benehmen die Polizei nur noch mißtrauischer gegen ihn. Sie kamen, stöberten ihn hervor und fragten ihn, was er da zu tun habe; und wenn er nun antwortete: Nichts, er habe nur ein bißchen bummeln wollen – es war' jetzt vier Uhr morgens –, schauten sie ihn ungläubig an, und zwei dunkelgekleidete Konstabler begleiteten ihn nach Hause, um zu sehen, ob er wirklich da wohne, wo er angab. Als sie ihn mit seinem Schlüssel öffnen und hineingehen sahen, nahmen sie dem Hause gegenüber Aufstellung und beobachteten es.

Als er wieder in seiner Wohnung angekommen war, wollte er sich ein Feuer anzünden und sich ein kleines Frühstück bereiten, eben nur um sich die Zeit zu vertreiben; aber es schien ihm, als ob er unfähig sei, irgend etwas, ob es nun Kohlenschaufel oder Teelöffel hieß, in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen oder darüber zu stolpern und einen solchen Lärm zu verursachen, daß er in Todesangst sein mußte, er würde Frau Gippings aufwecken; diese würde dann sicherlich glauben, es seien Einbrecher im Hause; sie würde das Fenster aufreißen und nach der Polizei schreien, und dann würden die zwei Geheimpolizisten hereinstürmen, ihm Handschellen anlegen und ihn nach der Polizeistation bringen.

Er hatte sich in eine tödliche Aufregung hineingearbeitet und malte sich jetzt das Verhör und seine ganz vergeblichen Versuche, dem Gerichtshofe die betreffenden Umstände klar zu machen, in den schwärzesten Farben aus – er sah sich im Geiste schon zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt und seine Mutter an gebrochenem Herzen sterben.

So gab er denn den Gedanken auf, sich ein Frühstück zu bereiten, hüllte sich in seinen Überrock und blieb im Lehnstuhl sitzen, bis Frau Gippings um halb acht Uhr herunterkam.

Georg sagte, seit jenem Morgen sei er nie wieder zu früh aufgestanden, so sehr habe er sich jenen Fall zur Warnung dienen lassen.

Während Georg mir diese wahrhaftige Geschichte erzählte, hatten wir, in unsere Pelze eingehüllt, dagesessen, und als er damit zu Ende war, machte ich mich daran, Harris mit einem Ruder aufzuwecken; der dritte Stoß hatte die beabsichtigte Wirkung; er legte sich auf die andere Seite und sagte, er werde im Augenblick hinunterkommen, man solle ihm heute seine Schnürstiefel bringen. Wir ließen ihn aber mit Hilfe des Boothakens bald merken, wo er sich befinde; er richtete sich plötzlich in die Höhe, indem er zugleich Montmorency, der mitten auf seiner Brust den Schlaf des Gerechten geschlafen, zappelnd und krabbelnd auf den Boden des Bootes warf.

Dann schlugen wir die Leinwand etwas zurück, streckten alle vier die Köpfe hinaus, sahen hinab auf das Wasser – und schauderten. Am Abend zuvor hatten wir den Gedanken gehabt, heute morgen früh aufzustehen, unsere Teppiche und Schals abzuwerfen, uns mit einem fröhlichen Sprung kopfüber in das Wasser zu stürzen und uns durch ein langes, köstliches Schwimmbad zu erfrischen. Aber sonderbar – jetzt am Morgen schien uns das Bad viel weniger verführerisch. Das Wasser sah so feucht und frostig aus, und der Wind war so kalt.

»Na!« sagte Harris, »wer wird der erste sein?« Es gab aber keinen edlen Wettstreit wegen des Vortritts. Georg kam sofort zu einem Entschluß, soweit ihn die Sache betraf. Er kehrte in die Mitte des Bootes zurück und zog seine Socken an.

Montmorency stieß unwillkürlich ein Geheul aus, als ob ihm schon der Gedanke an ein solches Frühbad Grausen erregt hätte. Harris meinte, es würde so schwierig sein, nach dem Bade wieder in das Boot zu steigen, wandte sich ebenfalls zurück und suchte sich seine Beinkleider aus.

Ich wollte mich nicht gerade feig zeigen, obschon auch mir das Frühbad nicht behagen wollte. Da unten könne es verborgene Pfosten oder Tang geben, dachte ich. Da entschloß ich mich zu einem Vergleich: ich wollte am Rande des Flusses nur eben ein bißchen Wasser über mich herspritzen. So ergriff ich denn ein Badetuch, stieg aus und kroch bis zu einem ins Wasser hängenden Ast eines Uferbaumes. Es war bitterlich kalt. Der Wind schnitt wie ein Messer. Ich dachte, ich wollte doch lieber kein Wasser über mich spritzen, sondern in das Boot zurückkehren und mich ankleiden.

Ich wandte mich, um dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, aber beim Umkehren brach der dumme Zweig, an dem ich mich gehalten hatte, ab: ich stürzte samt dem Tuch mit einem fürchterlichen Platschen ins Wasser und war, ehe ich mich recht besinnen konnte, was geschehen war, draußen mitten im Strome, mit einem Maß Themsewasser im Leibe.

»Bei Gott! Der alte Jerome hat sich hineingewagt,« hörte ich Harris sagen, als ich spritzend und pustend wieder an die Oberfläche kam. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so viel Mut haben würde; hättest du es ihm zugetraut?« »Ist es nett?« rief Georg zu mir herüber. »O herrlich!« sprudelte ich zurück. »Ihr seid recht dumm, wenn ihr nicht auch 'rein kommt. Nicht um die Welt würde ich auf dieses Vergnügen verzichten. Warum wollt ihr es denn nicht auch versuchen? Es braucht nur etwas Entschlossenheit!«

Aber ich konnte sie nicht überreden.

An diesem Morgen passierte uns beim Ankleiden noch eine heitere Geschichte. Mir war sehr kalt, als ich von meinem Bade wieder ins Boot stieg; wie ich nun hastig mein Hemd anziehen wollte, fiel es mir ins Wasser. Ich erboste mich schrecklich darüber, besonders weil Georg in ein furchtbares Gelächter ausbrach. Ich konnte doch gar nichts Lächerliches dabei finden, wie ich Georg auch auseinandersetzte, aber er lachte nur noch unbändiger. Ich habe niemals einen Menschen so lachen sehen. Ich geriet zuletzt ganz außer mir und bedeutete ihm, was für ein närrischer, hirnverbrannter, verschrobener, verrückter Kerl er sei; aber er lachte nur noch unsinniger. Da bemerkte ich, als ich eben das Hemd wieder herausgefischt hatte, daß es gar nicht mein Hemd war, sondern Georgs, das ich in der Eile mit dem meinigen verwechselt hatte. Das erweckte in mir plötzlich das Verständnis für den Humor der Sache, und nun fing ich an zu lachen. Und je länger ich Georgs nasses Hemd und dann wieder den aus vollem Halse lachenden Georg betrachtete, um so mehr belustigte mich die Geschichte, und ich lachte so sehr, daß mir das nasse Hemd wieder ins Wasser fiel. »Ei, willst du es denn nicht wieder herausfischen?« fragte Georg, noch halb erstickt vor Lachen. Eine geraume Weile konnte ich ihm vor Lachen keine Antwort geben; endlich aber stieß ich unter schallendem Gelächter die Worte hervor: »Es ist ja gar nicht mein Hemd! Es ist deines!«

In meinem Leben habe ich nie den Gesichtsausdruck eines Menschen so plötzlich wechseln sehen wie jetzt Georgs.

»Was?« rief er, in die Höhe springend, »du Einfaltspinsel! Was zum Teufel hast du dich nicht draußen am Ufer ankleiden können? Du gehörst nicht in ein Boot, du Dummkopf, gib mir den Boothaken!«

Ich versuchte, ihm den Spaß der Geschichte klar zu machen, aber es fehlte ihm an Verständnis. Georg ist manchmal zu vernagelt, um die Komik der Lage zu verstehen.

Jetzt schlug uns Harris Rührei zum Frühstück vor. Er sagte, er wolle es bereiten. Nach seinen Worten zu schließen, mußte er die Bereitung von Rührei sehr wohl verstehen. Er habe es bei Landpartien und Bootfahrten schon oft gemacht. Er sei in diesem Stück schon ganz berühmt geworden; Leute, die einmal von seinem Rührei gegessen, gab er uns zu verstehen, hätten nachher absolut nichts anderes mehr essen wollen oder können. Sie hätten sich fast zu Tode gegrämt, wenn sie es sich nicht verschaffen konnten.

Er machte uns mit diesen Berichten wirklich den Mund wässerig; so händigten wir ihm denn das Herdchen, die Bratpfanne und alle Eier, die noch nicht flöten gegangen waren, ein und baten ihn, ans Werk zu gehen.

Mit dem Aufschlagen der Eier haperte es etwas, d. h. das Aufschlagen brachte er schon fertig; aber sie richtig in die Pfanne zu bringen, wenn sie offen waren, sie nicht an seine Hosen zu schmieren, und sie nicht an den Ärmeln hinauflaufen zu lassen, das war die Schwierigkeit. Zuletzt brachte er doch ungefähr ein halbes Dutzend in die Pfanne hinein; nun hockte er neben dem Herde nieder und stupste dann mit einer Gabel darin herum.

Es schien ein schwieriges Geschäft zu sein, soviel Georg und ich die Sache beurteilen konnten. So oft er der Pfanne nahe kam, brannte er sich; dann ließ er alles fallen, was er in der Hand hatte, tanzte um den Ofen herum schnippte mit den Fingern und schimpfte weidlich auf das verwünschte Gerät. In der Tat, so oft Georg und ich nach ihm hinsahen, passierte ihm etwas Derartiges. Wir glaubten zuerst, das gehöre als etwas Wesentliches zu seiner kulinarischen Kunstentwicklung. Wir wußten damals noch nicht, was Rührei eigentlich ist, und dachten, es sei entweder irgendein von den Rothäuten oder den Sandwichinsulanern stammendes Gericht, bei dessen richtiger Zubereitung Tänze und Zaubersprüche unerläßlich seien. Montmorency war auch neugierig und steckte seine Nase darüber; da spritzte das Fett in die Höhe und verbrannte ihn, und nun begann der auch zu tanzen und zu schimpfen. Alles in allem war diese Eierbereitung einer der interessantesten Vorgänge, deren ich jemals Zeuge gewesen. Georg und ich bedauerten es lebhaft, als sie zu Ende war. Das Resultat entsprach indessen Harris' Erwartungen nicht ganz. »Viel Geschrei und wenig Wolle,« konnte man da sagen. Sechs Eier waren in die Pfanne gelangt, was herauskam, war ein Teelöffel voll verbrannten, unappetitlich aussehenden Gerichts. Harris sagte, die Bratpfanne sei schuld daran; die Sache wäre viel besser geworden, wenn wir einen Fischkessel und ein Gasherdchen gehabt hätten; da beschlossen wir denn, dies Gericht nicht wieder zu bereiten, ehe wir uns diese Haushaltungsgegenstände angeschafft hätten.

Die Sonne war inzwischen mächtiger geworden, auch der Wind hatte nachgelassen, als wir unser Frühstück beendigt hatten; der Morgen war so lieblich, als er nur sein konnte. Nur wenig war in Sicht, was uns an das neunzehnte Jahrhundert erinnern konnte; und als wir auf den Fluß hinausschauten, der so ruhig dahinfloß, konnten wir uns beinahe einbilden, daß die Jahrhunderte, die zwischen uns und jenem ewig denkwürdigen Junimorgen des Jahres 1215 liegen, versunken seien, und daß wir, die Söhne englischer Freisassen, in selbstgesponnener Kleidung, den Dolch im Gürtel, hier warteten, um zuzusehen, wie jene merkwürdige Seite der Geschichte geschrieben wurde, deren Sinn dem gemeinen Volk vier Jahrhunderte später durch einen gewissen Oliver Cromwell verständlich gemacht werden sollte. Es ist ein schöner Sommermorgen, sonnig, sanft und ruhig. Aber durch die Luft geht ein Hauch kommender Bewegung. Der König Johann hat in Duncroft-Hall übernachtet, und den ganzen Tag zuvor hat die kleine Stadt Staines widergehallt von dem Waffenklang der Ritterschaft, dem Hufschlag der schweren Rosse auf dem rauhen Pflaster, den Befehlen der Hauptleute, den grimmen Flüchen und rohen Scherzen der bärtigen Bogenschützen, Streitaxtbewaffneten, Lanzenreiter und seltsam sprechenden fremden Spießträger. Abteilungen buntgekleideter Ritter und Schildknappen sind hereingeritten, ganz bestaubt von der Reise.

Den ganzen Abend mußten die furchtsamen Einwohner ihre Wohnungen schleunigst öffnen, um immer noch weitere Haufen roher Söldnerscharen aufzunehmen, welchen sie Nahrung und Nachtquartier geben mußten, beides, so gut sie es irgend vermochten, oder wehe den Häusern und allem, was darin war! Denn in diesen stürmischen Zeiten ist das Schwert Richter, Kläger und Gerichtsvollzieher zugleich und bezahlt für das, was es nimmt, nur damit, daß es die am Leben läßt, welche es zuvor nach Belieben beraubt hat.

Um das Lagerfeuer auf dem Marktplatz lagern noch weitere Knappen der Barone, essen und trinken viel, brüllen dazu ihre rauhen Trinklieder und spielen und streiten bis tief in die Nacht hinein.

Das flackernde Wachtfeuer wirft sonderbare Lichter auf die aufgestellten Waffen und auf ihre ungeschlachten Gestalten. Und die Kinder der Stadt stellen sich herzu und staunen sie an; stattliche Landdirnen nähern sich lachend den Bierschenken, um ihren Scherz zu treiben mit den prahlenden Kriegern, die so ganz anders sind als ihre Liebhaber vom Dorfe, die jetzt verachtet beiseite stehen und nur ohnmächtigen Grimm auf ihren breiten Gesichtern zur Schau tragen.

Und draußen im Felde ringsum leuchten die Lichter der entfernteren Lagerfeuer, um die sich die Truppen einiger mächtiger Herren gelagert haben, und dort drücken sich des falschen Johann französische Söldner gleich schleichenden Wölfen um die Stadt herum.

Wachen stehen an allen dunklen Straßenecken, während ringsumher auf jeder Anhöhe die Wachtfeuer glimmen; so geht die Nacht hin; und über dieses schöne Tal der alten Themse ist der Morgen des großen Tages hereingebrochen, der mit dem Schicksal noch ungeborener Jahrhunderte geschwängert enden sollte.

Seit Tagesgrauen ertönt auf der unteren der beiden Inseln – gerade oberhalb unseres jetzigen Standorts – großer Lärm von den Werkzeugen der Zimmerleute. Das große Zelt, das gestern hereingebracht wurde, soll heute morgen aufgeschlagen werden; die Zimmerleute bringen ringsumher Sitzreihen an, während Londoner Ladenburschen mit vielfarbigen Stoffen, mit Seide und golddurchwirktem Tuch ankommen. Und jetzt, siehe, dort auf der Straße, die sich von Staines her längs des Flusses hinzieht, kommt ein Fähnlein stahlgepanzerter Hellebardiere, lachend und in tiefen Baßtönen miteinander scherzend, auf uns zu. Es sind die Leute einiger Barone; sie halten ein paar hundert Schritte oberhalb unseres Standorts am andern Ufer, lehnen sich auf ihre Waffen und warten.

Und so, von Stunde zu Stunde, marschieren immer weitere Truppen und Horden gewappneter Männer auf – ihre Helme und Stahlpanzer glänzen im Morgenlicht – bis, soweit das Auge reicht, der Weg dicht mit schimmernden Waffen und stolzen Rossen besetzt ist. Daher sprengen Reiter und geben von Gruppe zu Gruppe ihre Befehle; die kleinen Banner bewegen sich leicht im Winde, hie und da ist eine lebhaftere Bewegung in den Reihen zu bemerken, wenn sie Platz machen müssen, um irgendeinen großen Baron auf seinem Schlachtrosse, von einem Haufen seiner Knappen umgeben, seinen Stand in der Mitte seiner Diener und Vasallen einnehmen zu lassen. Und oben auf dem Coopersberge, uns gerade gegenüber, hat sich das staunende Land- und neugierige Stadtvolk versammelt, das von Staines herausrannte, wenn auch keiner weiß, was all das Getriebe bedeuten soll; aber jeder hat eine andere Erklärung für die Dinge, die da kommen sollen, und einige sagen, daß der heutige Tag dem Volke viel Gutes bringen werde, aber die alten Leute schütteln die Köpfe, denn sie haben solche Redensarten schon mehr gehört!

Und der ganze Fluß bis hinunter nach Staines wimmelt von kleinen Booten und Barken und winzigen ledernen Fischerkähnen, welch letztere jetzt mehr und mehr in Abgang kommen und nur noch von armen Leuten benutzt werden.

Über die Stromschnellen, wo nachmals die Bellweir-Schleuse errichtet werden sollte, sind sie mit Hilfe ihrer handfesten Rudersleute hinabgesteuert, und nun drängen sie sich, so nahe sie können, an die großen Barken, welche hier in Bereitschaft liegen, um den König Johann dahin zu bringen, wo die verhängnisvolle Charta seiner Unterschrift wartet.

Es ist Mittag, und wir inmitten der andern haben manche Stunde geduldig gewartet; nun geht ein Gerücht, der aalglatte Johann sei dem Griff der Barone abermals entschlüpft, habe sich, im Gefolge seiner Söldner, von Duncroft-Hall weggestohlen und werde bald anderes Werk betreiben, als Freiheitsurkunden für sein Volk unterzeichnen.

Aber nein! – Diesmal war es der Griff einer Eisenfaust gewesen; diesmal hat er vergeblich versucht, sich ihr zu entwinden und zu entschlüpfen. In der Ferne steigt eine kleine Staubwolke auf, die, je näher sie rückt, desto größer wird; der Hufschlag wird lauter, und durch die längs des Weges versammelten Haufen bricht sich ein glänzender Aufzug berittener buntgekleideter Herren und Ritter Bahn. Und vorn und hinten und zu beiden Seiten reiten die Vasallen der Barone und in deren Mitte – König Johann.

Er reitet dahin, wo die Barken in Bereitschaft liegen, und die großen Barone verlassen ihren Platz, um ihn zu begrüßen. Er begrüßt sie mit heiterem Lachen und honigsüßen Worten, als ob es sich um irgendein Fest handle, das ihm zu Ehren gegeben werde. Aber indem er sich erhebt, um abzusteigen, wirft er rasch noch einen Blick auf seine französischen Söldnerscharen, die sich ganz im Hintergrunde hatten aufstellen müssen, und auf die festgeschlossenen Reihen der Barone und ihrer Leute, die ihn auf allen Seiten einschließen.

Wäre es wirklich zu spät?

Ein kräftiger Schlag auf die ahnungslosen Reiter an seiner Seite, ein Kommandoruf an seine fränkische Garde, ein verzweifelter Angriff auf die unbereiten Linien vor ihm, und diese rebellischen Barone könnten den Tag bereuen müssen, an dem sie es wagten, seine Pläne zu kreuzen!

Eine kühnere Hand würde vielleicht das Spiel gewagt und selbst in diesem Augenblick noch gewonnen haben! Ja, wenn ein Richard anstatt eines Johann dagewesen wäre! Dann wäre vielleicht die Schale der Freiheit von Englands Lippen weggerissen und noch für ein Jahrhundert vorenthalten worden!

Aber König Johann fühlt sich entmutigt, wie er auf die entschlossenen Mienen der bewaffneten Männer schaut, sein erhobener Arm senkt sich, er steigt ab und nimmt seinen Platz in der vordersten Barke ein. Und die Barone folgen ihm, die eisenbehandschuhte Hand am Schwertgriff; dann ergeht der Befehl, vorwärts zu steuern.

Langsam verlassen die schweren, glänzend ausstaffierten Barken das Ufer von Runningmede. Langsam bewegen sie sich, im Kampf mit der starken Strömung, bis sie mit dumpfem Schürfen das Ufer der kleinen Insel streifen, die von diesem Tage an den Namen Magna Charta-Insel trägt. Nun ist König Johann ans Ufer gestiegen, und wir warten in atemloser Stille, bis ein weithin hallender Schrei die Luft durchzittert und wir nun sicher wissen, daß der große Eckstein zu Englands Freiheitstempel felsenfest gelegt ist.

*


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