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Harris und ich fingen an, zu befürchten, daß die Bell Weirschleuse auf die nämliche Art verschwunden sein dürfte wie die Wallingfordschleuse. Georg hatte uns bis oberhalb Staines hinaufgeschleppt; dort hatten wir das Boot zu schleppen übernommen; es däuchte uns, als ob wir fünfzig Tonnen zu ziehen hätten und vierzig Meilen stampfen müßten.
Es war halb acht Uhr, als wir es endlich hinter uns hatten; dann stiegen wir auch ein und ruderten uns dicht an das linke Ufer, indem wir uns nach einer Stelle zum Anhalten umschauten.
Wir hatten zuerst nach der Magna Charta-Insel schiffen wollen, einem freundlichen, hübschen Fleck im Flusse, wo sich dieser durch ein sanftes grünes Tal hindurchschlängelt; dort wollten wir zwischen einer der pittoresken Einfahrten, die sich zwischen dem Ufer befinden, kampieren.
Aber seltsam, wir hatten nun bei weitem nicht mehr solche Sehnsucht nach dem Pittoresken, wie wir sie früher am Tage empfunden hatten. Ein bißchen Wasser zwischen einer Kohlenbarke und einem Gaswerk würde uns für diese Nacht vollkommen genügt haben. Wir verlangten jetzt nach keiner Szenerie mehr. Wir verlangten nach unserem Abendessen und dann nach der Nachtruhe. Trotzdem ruderten wir vollends hinauf bis zu einem Orte namens »Picnic Point« und hielten an einem recht angenehmen Eckchen unter einem Ulmenbaum, an dessen hervorragenden Wurzeln wir unser Boot befestigten.
Dann gedachten wir unser Abendessen zu bereiten (den Fünfuhrtee hatten wir uns, um Zeit zu gewinnen, geschenkt), aber Georg sagte, nein, wir täten besser, erst die Leinwand aufzuspannen, ehe es ganz dunkel werde. Dann, meinte er, sei unsere ganze Arbeit getan, und wir könnten uns mit leichtem Herzen zum Essen niedersetzen.
Aber diese Leinwand aufzuwickeln, kostete mehr Arbeit, als einer von uns sich hatte träumen lassen. In abstracto sah sich die Sache so einfach an! Man nimmt fünf eiserne Bogen, riesigen Krocketringen ähnlich, befestigt sie an dem Bord des Boots, zieht die Decke darüber her und knüpft sie unten fest; das erfordert höchstens zehn Minuten, dachten wir.
Aber das war eine gewaltige Unterschätzung.
Wir stellten die Bogen auf und steckten deren Enden in die dafür angebrachten Augen. Wer dächte, daß dies ein gefährliches Geschäft sei? Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, so wundere ich mich, daß überhaupt noch einer von uns am Leben ist, um die Geschichte zu erzählen. Das waren keine Bogen, das waren Teufel!
Zuerst wollten sie nicht in die Augen hineinpassen; wir mußten mit den Füßen darauftrampeln, mit dem Boothaken daraufstoßen und hämmern, und nachdem sie endlich darinsteckten, zeigte es sich, daß sie nicht in den richtigen Augen steckten und wieder herausgezogen werden mußten.
Aber sie wollten nicht wieder heraus, und zwei von uns strengten sich fünf Minuten lang vergeblich an; plötzlich aber sprangen sie heraus und versuchten, uns ins Wasser zu werfen und zu ertränken.
Sie hatten Scharniere in der Mitte, und wenn wir nicht aufmerkten, so kneipten sie uns an delikaten Teilen des Leibes, und während wir auf der einen Seite des Boots mit den Bogen uns abmühten und sie zu überreden suchten, ihre Pflicht zu tun, kamen sie auf der anderen Seite wieder hinterlistig heraus und schlugen uns an die Köpfe.
Nun, zuletzt brachten wir es doch zuwege, und dann war weiter nichts zu tun, als die Decke darüber zu ziehen.
Georg rollte sie auseinander und befestigte das eine Ende an dem Schnabel des Boots.
Harris stand in der Mitte, um sie von Georg in Empfang zu nehmen und sie mir zuzurollen. Ich war am andern Ende des Boots und harrte der Decke, die da kommen sollte. Es dauerte aber etwas lange, bis sie endlich bei mir ankam.
Georg machte sein Teil ganz gut; aber für Harris war das eine neue Arbeit, und er verhunzte sie.
Wie er es anfing, weiß ich wirklich nicht; er konnte es auch selbst nicht erklären; aber auf irgendeine mysteriöse Weise gelang es ihm, nach ungefähr zehn Minuten übermenschlicher Anstrengung sich vollständig darin zu verwickeln. Er war so fest darin eingewickelt und in den Falten begraben, daß er sich nicht herauswinden konnte. Er machte natürlich verzweifelte Versuche loszukommen und seine Freiheit zu erlangen – das Recht jedes Engländers von Geburt an – und bei diesem Bestreben hieb er auf Georg ein; dann fluchte Georg auf Harris, begann ebenfalls zu ringen und wurde geradeso eingewickelt und eingerollt.
Von alledem wußte ich aber die ganze Zeit nichts; ich verstand auch nichts von dem ganzen Geschäft. Man hatte mich stehen heißen, wo ich stand, und warten, bis die Leinwand zu mir herüberkäme, und so standen Montmorency und ich da und warteten, beide so geduldig wie die Lämmer. Wir bemerkten wohl, daß die Leinwand sich zeitweise hob und heftig umhergeworfen wurde, aber wir dachten, das gehöre zum Geschäft, und mischten uns weiter nicht ein.
Wir hörten auch mancherlei höfliche und schmeichelhafte Zwiegespräche, aber wir wollten doch noch warten, bis sich die Sache etwas mehr abgeklärt haben würde, ehe wir uns damit befaßten.
So warteten wir eine ganze Weile, aber die Geschichte schien nur immer verwickelter zu werden, bis zuletzt Georgs Kopf an der Seite des Boots hervorkam und den Mund öffnete.
»So hilf uns doch ein bißchen!« rief er, »kannst du denn das nicht, du Kuckucksmensch! Steht der Kerl da wie eine ausgestopfte Mumie, und sieht doch, daß wir beide am Ersticken sind! O, du Schafskopf du!«
Ein Ruf nach Hilfe schlägt bei mir niemals an ein taubes Ohr; so ging ich denn und half ihnen sich herauswickeln. Es war auch die höchste Zeit, denn Harris war bereits ganz schwarz im Gesicht.
Es brauchte noch eine halbe Stunde harter Arbeit, bevor wir mit der Geschichte ordentlich zustande kamen; dann machten wir das Deck klar und schickten uns an, das Abendessen zu bereiten.
Am Schnabel des Boots hingen wir unsern Teekessel auf, dann gingen wir nach dem andern Ende, als ob uns der Kessel nichts anginge, und holten die zur Abendkost nötigen Sachen hervor.
Das ist das einzige Mittel, um bei einer Bootfahrt einen Teekessel zum Sieden zu bringen. Wenn der Kessel merkt, daß ihr auf ihn wartet und ungeduldig werdet, dann wird er gewiß nicht singen! Ihr müßt vielmehr ganz auf die Seite gehen, und tun, als ob ihr überhaupt gar keinen Tee verlangtet. Nicht einmal nach ihm umsehen müßt ihr euch; dann wird das Wasser sofort zu dampfen beginnen, und sich wie närrisch in Tee verwandeln.
Auch ist es ein guter Plan, wenn es auch sehr pressiert mit dem Tee, euch recht laut miteinander darüber zu unterhalten, daß ihr eigentlich keinen Tee nötig habt und keinen haben wollt. Dann begebt ihr euch in die Nähe des Kessels und sprecht so laut, daß er euch hören kann:
»Ich will keinen Tee! Willst du vielleicht Tee, Georg?«, worauf Georg dann zurückruft: »O nein! Ich mag keinen Tee; wir wollen statt dessen Limonade nehmen. Tee ist so schwer verdaulich!«
Dann kocht der Kessel auf einmal über und löscht das Feuer aus.
Wir hatten diesen harmlosen Betrug auch diesmal mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Als wir mit den übrigen Zurüstungen zu Ende waren, war auch der Tee fertig. Dann zündeten wir die Lampe an und setzten uns zum Abendessen nieder.
Wir waren dessen sehr bedürftig. Während fünfunddreißig Minuten war durch die ganze Länge und Breite des Boots auch nicht ein anderer Laut zu hören als der Klang von Messer und Gabeln und das Mahlen unserer vier Gebisse. Am Ende besagter fünfunddreißig Minuten stieß Harris den Ruf »Ah« aus, zog sein linkes Bein unter sich vor und placierte das rechte an dessen Stelle.
Fünf Minuten später stieß Georg ebenfalls sein »Ah« aus und warf seinen Teller ans Ufer hinaus; und nach Verlauf von drei weiteren Minuten gab Montmorency das erste Zeichen von Befriedigung, das er seit unserer Abfahrt geäußert, von sich, legte sich auf die Seite und streckte die Beine aus. Und dann kam auch mein »Ah«, während ich meinen Kopf zurückbog; dabei stieß ich ihn aber an einen der Reifen des Boots – ich machte mir indessen nichts daraus. Ich fluchte nicht einmal.
Wie gut ist doch der Mensch, wenn er satt ist. Wie zufrieden sind wir dann mit uns selbst und mit der Welt.
Leute von Erfahrung haben mir versichert, daß ein reines Gewissen den Menschen froh und glücklich mache. Aber ein voller Magen tut das auch, und das ist billiger und leichter zu beschaffen. Ja, man ist geneigt zu vergeben und zu vergessen, man ist so voll edler und großmütiger Gefühle – nach einer reichlichen und wohlverdauten Mahlzeit.
Es ist etwas recht Sonderbares um diese Herrschaft des Magens über unsern Verstand.
Wir können weder arbeiten noch denken, bis er es uns erlaubt. Er diktiert unsere Bewegungen und beherrscht unsere Leidenschaften.
Nach Eiern und Speck sagt er uns: »Jetzt arbeite!«
Nach einem Beefsteak und Porter ladet er uns zum Schlafen ein.
Nach einer Tasse Tee (NB. zwei Löffel Tee auf eine Tasse, aber nur drei Minuten ziehen lassen) sagt er zum Verstand: »Jetzt erhebe dich und zeige, was du kannst! Nun sei beredt, voll tiefer Gedanken und zärtlich! Schau mit klarem Auge in die Natur und das Leben! Breite die Flügel deiner schnellen Gedanken aus und schwebe auf wie ein göttlicher Geist, auf über die unter dir rollende Welt, schweife dahin zwischen dem Heer der flammenden Sterne bis an die Tore der Ewigkeit!«
Nach heißem Pfannkuchen spricht der Magen: »Sei dumm und unvernünftig wie das Vieh auf dem Felde – ein Tier ohne Sinn und Verstand, unerleuchtet von irgendeinem Strahl der Phantasie, der Hoffnung, der Furcht, der Liebe oder des Lebens!«
Und nach Brandy – nach einem genügenden Maß Brandy – sagt er: »Jetzt komm, Narr, grinse und stolpere, daß deine Mitmenschen über dich lachen! Geifere wie ein Toller, stoße sinnlose Worte hervor und zeige der Welt, was für ein nutzloses Geschöpf doch der Mensch ist, dessen Witz und Wille ersäuft sind – wie zwei junge Katzen – in einem halben Zoll Alkohol!«
Wir sind wahr und wahrhaftig die traurigsten Sklaven unseres Magens. O, meine Freunde, strebt doch nicht nach Moralität und Rechtschaffenheit. Wacht vielmehr so sorgsam als möglich über euren Magen und regelt eure Diät mit Verstand und Sorgfalt. Dann wird Tugend und Zufriedenheit in euren Herzen herrschen, ohne daß ihr euch besonders anstrengen müßt. Dann werden aus euch gute Bürger, liebende Gatten, zärtliche Väter – edle, brave Menschen!
Vor unserem Abendessen waren Harris, Georg und ich drei streitsüchtige, bissige, schlecht aufgelegte Kerle gewesen. Dagegen nachher – wie schauten wir einander so freundlich an! Ja, auch der Hund bekam jetzt einen freundlichen Blick. Wir liebten einander, wir liebten die ganze Welt. – Als Harris aufstand, trat er Georg auf die Hühneraugen. Wäre das vor dem Abendessen passiert, würde Georg wohl Wünsche betreffs Harris' Schicksal in dieser und jener Welt ausgedrückt haben, Wünsche, die einem ängstlichen Mann ein Schaudern erweckt hätten. Jetzt aber sagte er nur: »Langsam, altes Haus! Gib acht auf meine Hühneraugen.« Und Harris, der ihm vor dem Abendessen gewiß in seiner maliziösesten Weise gesagt haben würde, wie ein Mensch denn überhaupt vermeiden könne, jemand innerhalb zehn Meter auf den Fuß zu treten, wenn dieser jemand Georg heiße und Füße von solcher Länge in ein Boot von gewöhnlicher Größe mitbringe, und daß er ihm überhaupt raten würde, sie über Bord zu hängen – so sagte Harris jetzt ganz freundlich: »O, es ist mir leid, alter Herr; ich habe dir hoffentlich nicht weh getan!«
Und Georg versetzte: »O nein, gar nicht,« und fügte hinzu, es sei seine eigene Schuld gewesen. Und Harris sagte, nein, seine sei es gewesen. O, es war erquickend, ihnen zuzuhören.
Hierauf zündeten wir unsere Pfeifen an, schauten in die stille Nacht hinaus und schwatzten.
Georg sagte: »Warum können wir nicht immer so sein? Warum können wir nicht fern von der Welt und ihren Versuchungen ein nüchternes, ehrbares Leben führen und Gutes tun?« Da erwiderte ich: »Gerade das habe auch ich schon oft gewünscht;« und dann berieten wir, ob wir vier Geschöpfe uns nicht nach einem hübschen, wohl eingerichteten, weltabgekehrten Eiland einschiffen können, um dort im Walde zu leben.
Harris meinte, soviel er gehört habe, sei die Gefahr bei solchen weltabgekehrten Inseln die, daß sie so feucht seien; Georg aber sagte: »Durchaus nicht, wenn sie ordentlich drainiert werden.«
Und als wir auf die Drainage kamen, da fiel Georg eine lustige Geschichte ein, die einst seinem Vater passiert war. Er erzählte, sein Vater sei einst mit einem guten Bekannten durch Wales gereist; da hätten sie eines Abends in einem kleinen Wirtshause am Wege angehalten, in welchem sie noch andere Bekannte angetroffen, mit denen sie den Abend zubrachten.
Sie hatten einen sehr lustigen Abend und blieben lange sitzen und als sie endlich zu Bett gingen, waren sie ein ganz klein wenig angeheitert. (Georgs Vater war damals noch ein sehr junger Mann.) Er und sein Freund sollten in einem Zimmer schlafen, aber jeder hatte sein eigenes Bett. Sie nahmen das Licht und stiegen hinauf. Das Licht stieß an die Wand und verlöschte; da mußten sie sich im Finstern auskleiden und ins Bett kriechen. Das brachten sie denn auch endlich fertig; aber anstatt daß jeder in sein eigenes Bett stieg, wie sie glaubten, stiegen sie beide in das nämliche, ohne es zu bemerken, der eine den Kopf oben, der andere unten im Bett und die Füße auf dem Kissen.
Eine Zeit lang war alles ruhig; dann aber fing Georgs Vater an: »Joseph!«
»Was gibt's, Tom?« fragte der andere vom Fußende des Bettes her.
»Ei! es ist einer im Bett,« sagte Georgs Vater, »da streckt mir der Kerl seine Füße ohne viel Umstände einfach auf mein Kissen!«
»Wie sonderbar das doch ist, Tom, aber ich will verdammt sein,« sagte nun der andere, »wenn bei mir nicht auch einer im Bett liegt!«
»Ja, was willst du mit ihm anfangen?«
»Nun – ich werde ihn hinausschmeißen!« sagte Joseph.
»Das tue ich auch!« meinte tapfer Georgs Vater. Dann entspann sich ein kurzer Kampf, gefolgt von einem zweimaligen schweren Fall auf den Boden; dann sagte eine Stimme in etwas schmerzlichem Tone: »He, Tom, hörst du nicht?«
»Wohl!« sagte Tom.
»Bist du mit deinem fertig geworden?«
»Nun – die Wahrheit zu sagen, der Kerl hat mich hinausgeworfen!«
»Ja! So ist's mir auch gegangen. Ich sage dir, auf dieses Wirtshaus halte ich nicht viel.«
Hier unterbrach Harris den Erzähler:
»Wie hieß dieses Wirtshaus?«
»Das ›Schwein und die Pfeife‹« sagte darauf Georg. »Aber warum?«
»Ja – doch nein! Dann ist es doch nicht das nämliche!« sagte Harris.
»Was willst du damit sagen, Harris?« fragte Georg.
»Je nun, es ist so merkwürdig. Ganz die gleiche Geschichte passierte auch meinem Vater in einem Wirtshause auf dem Lande, wie er uns oft erzählte. Ich dachte, es möchte in demselben Wirtshaus« gewesen sein!«
*
Um zehn Uhr nachts zogen wir uns zum Schlafen zurück; ich hoffte, gut zu schlafen, denn ich war ordentlich müde; aber es war nichts damit. Sonst pflege ich mich auszukleiden und den Kopf aufs Kissen zu legen; dann klopft jemand an die Türe und sagt: »Stehen Sie auf, es ist halb neun Uhr!«
Aber heute nacht schien sich alles gegen mich verschworen zu haben. Die Neuheit der ganzen Begebenheit, das harte Lager im Boote, die zusammengekrümmte Lage (ich lag mit den Füßen unter der einen Sitzbank, während mein Kopf auf der andern ruhte); das Geräusch des rings an das Boot klatschenden Wassers, der Wind, der in dem Gebüsch des Ufers rauschte – alles störte meine Ruhe und hielt mich vom Schlafe ab.
Ich konnte endlich ein paar Stunden schlafen; dann schien es mir, als ob das Boot in der Nacht einen Auswuchs bekommen hätte – denn derselbe war sicher am Abend zuvor nicht dagewesen, und am Morgen war er auch wieder verschwunden – einen Auswuchs, der sich mir beständig in den Rücken eingrub. Ich schlief trotzdem fort und träumte, ich hätte einen Sovereign verschluckt, und man habe mir mit einem Bohrer ein Loch in den Rücken gebohrt, um ihn wieder herauszukriegen. Es schien mir das ziemlich unhold von den Leuten; ich sagte ihnen, ich wolle ihnen den Betrag schuldig bleiben, sie sollten ihn am Ende des Monats bekommen. Aber sie wollten nicht darauf hören und meinten, es sei viel besser, sie hätten ihn sofort, weil sonst die Zinsen zu hoch anwachsen würden. Nach einer Weile aber wurde mir das Ding zu arg, und ich sagte ihnen meine Meinung ganz unverhohlen; da stießen sie mir den Bohrer so heftig in den Leib, daß ich erwachte.
Das Boot schien so dumpf, und mein Kopf schmerzte. So dachte ich, ich würde besser tun, hinaus in die frische Nachtluft zu gehen. Ich warf an Kleidungsstücken um, was ich gerade finden konnte, etwas von meinen eigenen, das übrige von Harris und Georg – dann kroch ich unter der Leinwand hervor ans Ufer.
Es war eine wundervolle Nacht. Der Mond war schon hinab unter den Horizont und hatte die stille Erde mit den Sternen allein gelassen. Es war, als ob sie während der tiefen Stille mit der Mutter Erde eine leise Zwiesprach hielten, mit ihrer Schwester, deren Kinder schliefen; Zwiesprach über die tiefen Geheimnisse – in Worten zu hoch und zu tief, als daß die kindischen Ohren der Menschen ihren Sinn hätten fassen können.
Sie erfüllen uns mit Ehrfurcht, diese seltsamen Geschöpfe, diese kalten, klaren Sterne! Wir sind wie Kinder, deren kleine Füße sich in einen schwach erleuchteten Tempel verirrt haben, wo man sie gelehrt hat, jenen unbekannten Gott zu verehren; und da stehen sie nun in dem Dom, dessen ungeheurer Bogen das Halbdunkel umspannt, und schauen auf zu den Lichtern, teils in Hoffnung, teils in Grauen, eine wunderbare Vision wahrzunehmen.
Und doch scheint die Nacht so voll Trost und Stärkung zu sein. In ihrer ruhigen Pracht schleichen unsere Sorgen still und beschämt von dannen. Der Tag war so voll Streit und Sorge, unsre Herzen waren mit so bittern und schlimmen Gedanken beschwert, und die Welt erschien uns so hart und schlecht. Da kommt die Nacht und legt wie eine liebende Mutter ihre Hand auf unser fieberndes Haupt, richtet unser tränenfeuchtes Antlitz empor gegen das ihre und lächelt uns an; und obwohl sie nicht zu uns spricht, wissen wir doch, was sie uns sagen möchte; wir drücken unsre glühenden Wangen an ihren Busen, und dann schwindet aller Schmerz.
Ja! Oftmals ist unsere Pein wirklich tief, nicht bloß in der Einbildung; da stehen wir dann wohl stumm, weil wir keine Worte mehr dafür haben, sondern nur schmerzliche Seufzer. Aber die Nacht hat ein Herz voll Mitleids gegen ihre Kinder; sie kann uns unser Weh nicht wegnehmen, aber sie nimmt unsre zuckende Hand in die ihre. Dann schwindet die kleine Welt um uns her in weite Ferne und wird immer kleiner; in ihren Armen eingelullt übergibt sie uns für einen Augenblick einer höhern Gewalt als die ihrige ist, und in dem wunderbaren Licht dieser Himmelsgewalt liegt das ganze Menschenleben wie ein offenes Buch vor uns; wir wissen dann, daß Pein und Sorge nur Engel sind, von Gott gesandt.
Nur diejenigen, die die Dornenkrone des Leidens getragen haben, können dieses wunderbare Licht schauen; sie sprechen nicht von dem, was sie erschaut haben, und erzählen nichts von den Geheimnissen, die ihnen geoffenbart wurden.
Vor langen Jahren ritten einmal ein paar tapfere Degen durch ein fremdes Land; ihr Weg führte sie durch einen tiefen Wald, wo das Dornengestrüpp so dicht wurde, daß es ihnen das Fleisch vom Leibe riß, und sie den Weg verloren. Und das Laub der Bäume in diesem Wald war dunkel und dicht, so daß kein Lichtstrahl hindurchdringen konnte, um das traurige Düster zu erhellen.
Während ihres Marsches durch diesen Wald verloren sie einen ihrer Kameraden, der sich von ihnen entfernt hatte; er irrte in weiter Ferne und sie sahen ihn nicht wieder; sie trauerten sehr um ihn, während sie ihren Ritt fortsetzten und hielten ihn für tot. Und als sie nun das schöne Schloß, dem sie zustrebten, erreicht hatten, blieben sie da viele Tage lang und waren fröhlich und guter Dinge; eines Abends nun, als sie in der großen Halle in heiterem, gemütlichem Geplauder beim Feuer saßen und ein fröhliches Gelage hielten, trat auf einmal ihr verlorener Kamerad herein und grüßte sie. Sein Gewand war zerrissen wie eines Bettlers Gewand, und viele tiefe Wunden zeigte sein edler Leib; aber von seinem Antlitz erglänzte ein heller Strahl von Freude und Frieden.
Sie fragten ihn und wollten wissen, wie es ihm ergangen seit seiner Trennung von ihnen; da erzählte er denn, wie er sich in dem großen, dunkeln Walde verirrt habe, wie er viele Tage und Nächte gewandert sei, bis er, zerrissen und blutend, sich niedergelegt habe, um zu sterben.
Dann, als er dem Tode schon ziemlich nahe gewesen: Siehe! Da kam durch das düstere Dunkel plötzlich ein herrliches Frauenbild daher, das nahm ihn an der Hand und führte ihn durch verschlungene Pfade, die niemand zuvor gekannt, bis auf einmal ein wunderbares Licht in das Dunkel des Waldes hineindämmerte – ein Licht, vor dem das Licht der Sonne erblaßte – und der müde Wanderer in diesem himmlischen Lichte eine Erscheinung erblickte, so hehr und schön, daß er darüber seiner blutenden Wunden nicht mehr gedachte, sondern nur in staunender Bewunderung und Verzückung dastand und eine Freude fühlte, so tief wie das Meer, dessen Tiefe niemand ergründen kann!
Doch die Erscheinung schwand, und der Ritter kniete auf die Erde und dankte der guten heiligen Jungfrau, die seine Schritte durch den dunkeln Wald geleitet hatte, und ihn die Erscheinung hatte sehen lassen.
Und der Name des dunkeln Waldes heißt Sorge – aber von der Erscheinung, die der gute Ritter sah, wollte er nichts weiter erzählen.
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