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XX

Den ganzen nächsten Tag schrieb Dr. Renault an seinen Memoiren.

Am darauffolgenden Tag wurde er morgens gegen sechs Uhr durch harte Schläge an seiner Tür geweckt. Als er öffnete, stand Innis draußen, im Pyjama, ungekämmt, ganz verstört, und forderte Dr. Renault kurz auf, ihm zu folgen. Er ging durch den langen Korridor bis zum Lazarett. Vor der Tür wandte er sich mit großen runden Augen zu Dr. Renault um.

»Dr. Dunkirk hat Anne Kielstra gestern operiert,« sagte er mit einem gequälten Ausdruck in den Mundwinkeln, »und es ist mißlungen. Ich glaube, sie ist tot.«

Dr. Renault öffnete die Tür zum Lazarett und trat ein.

Sie lag in einem der beiden Betten, auf dem Rücken ausgestreckt, mit einer Decke zugedeckt, unter der sich die gestreckte Form abzeichnete. Sie war tot, aber noch warm, wahrscheinlich war der Tod erst vor einer Stunde eingetreten. Sie war ganz weiß, alles Blut schien aus ihrem Körper entwichen.

»Wo ist Dr. Dunkirk?« fragte Dr. Renault.

»Wir haben ihn nebenan im Laboratorium auf dem Fußboden gefunden, total betrunken oder betäubt, blau im Gesicht und schnarchend. Wahrscheinlich Morphium oder Kokain …«

»Kann ich ihn sprechen?«

»Nein.«

»Wo ist die Krankenschwester?«

»Ist sie noch zu retten?«

»Nein, sie ist tot.«

Innis verharrte eine Weile schweigend. Mit unverhülltem Vorwurf blickte er Dr. Renault an.

»Wollen Sie bitte das Notwendige vornehmen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten es vorher getan.«

Damit wandte er sich und ging hinaus.

Dr. Renault blieb mit der Toten allein.

Noch einmal fühlte er ihren Puls, aber er schlug nicht mehr, sie war tot, unwiderruflich, hier gab es keine Hoffnung mehr. Regungslos lag die gestreckte Gestalt unter der Decke, und dennoch sah es aus, als schliefe sie nur. Nein, nicht der leiseste Atemzug hob den Brustkasten wie bei einer Schlafenden, sie war still wie ein Ding, für immer still. Sie war nicht verändert oder abgezehrt wie nach einer schweren Krankheit, nur weiß wie ein Laken, alles Blut war aus ihren Adern geflossen. Wahrscheinlich war sie im Schlaf gestorben, unmerklich, nach einer langsamen inneren Verblutung im Lauf der Nacht, hatte es nicht erfahren, war ohne Tod gestorben. Auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck einer Schlafenden, nur an den halbgeöffneten, gebrochenen Augen konnte man sehen, daß sie tot war.

Dr. Renault brach in Tränen aus. Er sank fassungslos auf einen Stuhl, ein Schluchzen drang aus ihm wie bei einem weinenden Knaben, er bellte vor Atemnot, bis er sich faßte, dann saß er mit schmerzender Brust und weit geöffnetem Mund da, bis der Anfall vorüber war, und rang seine nassen Hände.

Während er lebte und Arzt war, hatte er viele Menschen sterben gesehen, es war, als habe er die ganze Welt sterben gesehen. Wöchnerinnen hatten dagelegen wie ein zugefrorener See an einem Frostmorgen nach dem Sturm, stilles Eis nach hohem Wogengang, Kampf und Schreien und Hitze, und dann nur noch ein stilles Ding in den Kissen, weiß wie Papier, alles Blut entwichen. Junge, tapfere Frauen, gesund, doch zerrissen und mit leeren Adern, bei lebendigem Leib zusammengebrochen auf dem Kampffeld der Frau, ihrem Marterplatz, auf dem sie Leben gab und Niederlagen hinnehmen mußte.

Nun lag auch sie tot auf der Walstatt, sie, die nicht Leben geben wollte. Die Kindbett-Göttin mit den harten Zügen hatte sich an ihr gerächt, hatte ihren Lebensfaden durchschnitten, sie mußte ihren Zoll bezahlen, ob sie wollte oder nicht. Da lag sie mit ihrer zierlichen Kopfform und dem kurzgeschnittenen Haar, der langen, geraden Nase, die der Athenens glich, einem Kindermund, sie war ja erst neunzehn Jahre alt, noch ein Schulmädchen! Die langen, gebräunten Arme lagen auf der Decke. Während sie lebte, hatte es wie Goldstaub unter ihrer Haut geschimmert, nun war das Licht in ihnen erloschen, sie hatten eine matte Ziegelsteinfarbe bekommen, als sei ein Schatten auf das durchscheinende Leben gefallen. So oft man es auch sieht, nie begreift man das Paradoxon des Todes, die Form ist noch da, ganz und unberührt, die zarten Nasenflügel wie Orchideenblätter, die Ohrmuschel, der Ausdruck in den Zügen der Toten, sprechende Züge, obwohl sie erstarrt sind, physiognomisch erzählt das alles von Leben und tut dadurch zweifach kund, daß das Leben entwichen ist. Die Form war noch dieselbe, aber entseelt, erloschen, eine Leiche. Man lernt es nie, jedesmal reißt es von neuem eine Wurzel aus deinem Herzen.

Und was hatte sie getötet, abgesehen davon, daß sie einem Dunkirk in die Hände geraten war? Eine Transfusion hätte sie vielleicht retten können, trotzdem man sie so schändlich zerstört hatte, ein Gedanke, der den Jammer noch größer machte, nun sie tot war und blieb. Wie aber stand es überhaupt mit den jungen Frauen, was hatten sie nicht alles auf sich herabbeschworen? Was nützte es, danach zu forschen, die Zeit brachte es mit sich, Krankheit, Gehetztheit, innere Verzehrung. Frauenherzen! Man hatte sie in ein Karussel gesetzt, und in ihnen raste es wie ein Motor, der nirgends angekoppelt war, Leben, Leben, aber nur äußerlich, ein Scheinleben, Gebärden, immer dieselben, flüchtig, nichts als Schatten, Von allem gekostet, Lachen gelacht, das nicht froh war, die Gegenwart gestürmt, und nur Lärm als Gewinn. Alles nachgeahmt, wie alle allen nachahmen, eine Waffel nach der anderen aus demselben Eisen, alles erlaubt! Und trugen sie ein Kind unterm Herzen, dann waren sie außer sich und gebärdeten sich, als hätten sie eine Geschlechtskrankheit bekommen. Armes Geschlecht!

Freiheit für die Frau! Sie waren ja nicht frei, aller Ungebundenheit, Keckheit, Ungezügeltheit zum Trotz! Die eine glich der andern, man war freimütig, Gott sei Dank, kein Mittelalter mehr, man war die Frau des zwanzigsten Jahrhunderts, in kecken Hosen, Zigaretten zwischen feuchten Lippen, dem Trunk ergeben, häufig betrunken, ohne Knochen im Leibe wie ein junger Hund. Sie wollten den Mann und seine Laster nachahmen, darin bestand ihre Freiheit! Daß Freiheit Entfaltung ihrer weiblichen Individualität bedeutete, daß dies ihre Bestimmung war, das hatten sie noch nicht begriffen, und es würde noch lange dauern, bevor die Spießbürger Gelegenheit bekamen, sich darüber zu entsetzen.

Warum schritten sie nicht ruhig über den brutalen Mann hinweg und gründeten ihr eigenes Leben? Nein, sie mußten ihn nachahmen, Brutalität zur Schau tragen und mit Sünde prahlen, selbst nehmen, obgleich die Natur ihnen keine aktiven Triebe gegeben hat! Für die Frau aber gab es keine Grenzen wie für den Mann, der trotz seiner Angriffslust von dem Eindruck abhängig ist, den eine Frau auf ihn macht, wie der Hengst, der eine unfruchtbare Stute ablehnt. Die moderne Frau aber liebt am laufenden Band, wahllos, kein Erlebnis, kein Schicksal, kein Kind. Leere! Leere!

Wer konnte wissen, wie es im Gemüt einer Frau aussah? Sie wußte es selbst nicht. Wenn sie nicht vom Leben gepackt wurde, war sie nur ein Ding, und lebte sie, was brauchte sie dann viel nachzudenken? Frauen kennen sich selbst nicht, sie sind wie der Mond, dessen Rückseite noch niemand gesehen hat. Manchmal sind sie geschwätzig und stellen sich zur Schau, auch dann aber ahmen sie nur den Mann nach, keine, nicht die Verworfenste, hat je ihr tiefstes Innere verraten; eine Vornehmheit, die ganz Natur ist und von der sie selbst nichts wissen, hält sie davon zurück. Und wie die eine sind sie alle.

Sie, die dort lag, hatte ihre Eigenart gehabt, aber auch sie war von der Krankheit der Zeit angesteckt und hatte es mit ihrem Leben büßen müssen. Der Zeitgeist hatte Hemmungen in ihr aufgehoben und ihr einen Spiegel vorgehalten, worin wie Verdienst aussah, was in Wirklichkeit Unglück war. Sie hatte gesehen und gehört, was alle taten und was als freimütig galt, und da sie eine ehrliche Natur war, die Mut besaß, wo Furcht Selbstsüchtigere vielleicht zurückgehalten hätte, war sie ins Unglück geraten.

Ein Teufel ist unterwegs und versucht, der Welt einzureden, die Frau unseres Zeitalters müsse ein freies Wesen sein. Stellt man aber eine Gewissensfrage an den Mann, in dessen Interesse es liegt, daß Frauen hemmungslos sind, so viele Männer wie möglich, so würde er wahrscheinlich eingestehen, er nähme ungern eine Frau, die nicht mehr Jungfrau ist. So ist der Mann nun einmal.

Er hätte sie retten können und fühlte nun, er hätte es tun müssen. Er war befangen, enttäuscht, fassungslos, zornig gewesen und hatte sie dem Mann, auf den sie ihren Blick geworfen hatte, nicht gegönnt. Und nun war auch ihm das Leben unter den Füßen fortgezogen.

Er näherte sich der Toten, betrachtete sie lange, prägte sich ihre Gestalt ein, die in Kürze für immer verschwinden sollte. Dort lag ein vollkommener Mensch, fehlerlos von Kopf bis Fuß, mit einfachen, mädchenhaft süßen Zügen, lang und stark und gesund, auserwählt als Mensch, als Frau und Einzelwesen. Er wußte, daß jedes ihrer Organe dem Urbild der Gesundheit entsprach, sie hatte es bewiesen. Und er sah den Inhalt des hohen Brustkastens vor sich, Lunge und Herz, sparsam und plastisch geordnet, wie gegossen in einem Menschen, vom Raum geformt, dem er selbst die Form gab. Ein großes, schönes Herz, wie das eines jungen Tieres, stand nun still, leere Kammern, leere Adern bis in die Glieder, bis in die Haut, die wie Marmor war. Alles in ihr war stehengeblieben, die Nerven mit ihren geheimnisvollen Strömungen, die Drüsen, die Verdauung. Alle Zellen erstarrten, die ganze organische Tätigkeit war im Begriff, aus der Form zu schwinden, die noch wie ein Mensch aussah. Wie grausam, niederschmetternd war der Unterschied zwischen Leben und Tod!

Während er noch stand und sie betrachtete, bildete sich eine Blase in ihrem Nasenloch, die langsam größer wurde; es waren die Gase, die Auflösung, die bereits begonnen hatte. Er sah sich nach einer Serviette um und als er keine fand, nahm er die Decke von dem anderen Bett und deckte sie bis an die Stirn damit zu. Dann setzte er sich, vergrub seinen Kopf in den Händen, sank tiefer und tiefer zusammen, als habe die Erde nun auch ihn in ihre Macht bekommen.

So fand ihn die Krankenschwester. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, dann einen unterdrückten Aufschrei, und als er aufblickte, sah er sie in der Tür stehen, mit ihrem weißen Kittel und der Haube, das Gesicht vor Schreck verzerrt, unsicher, was sie tun sollte.

Dr. Renault erhob sich schwerfällig und betrachtete die Schwester mit roten, erloschenen Augen.

»Nähen Sie sie ein«, sagte er. »Sie können sie in diese Decken wickeln und lose zusammenheften. Später wird man sie in Segeltuch einnähen und mit etwas Schwerem, Kohlen oder was man gerade zur Hand hat, ins Meer versenken. Sorgen Sie dafür.«

Und ohne sich noch einmal nach dem Bett und der Toten umzusehen, verließ er das Lazarett und kehrte schwankend in seine Kabine zurück, unterwegs wieder und wieder nach einem Halt suchend.

Seine Memoiren lagen auf dem Tisch, viele Manuskriptseiten, fast vollendet, er schenkte ihnen aber keinen Gedanken mehr. Wer ihre Memoiren schreiben könnte! Keiner vermochte in eine Mädchenseele wie die ihre einzudringen, solange sie lebte, geschweige nach ihrem Tod!

Sie konnte tun, was sie getan hatte, ohne die natürliche Unschuld einzubüßen, von der ihr ganzes Wesen durchtränkt war. Eine reinere Seele hatte er nie gekannt. Jedesmal, wenn sie ihn sah und die wenigen Male, wenn er mit ihr gesprochen hatte, war sie rot geworden, hatte einen Knicks gemacht wie ein Schulmädchen, dankbar für die Aufmerksamkeit, die er ihr zuteil werden ließ. Es war echte, unbewußte Seelenreinheit, trotzdem sie regelmäßig einen Faun besuchte, der sicher nicht versäumt hatte, sie in die Erfahrungen eines Faunlebens einzuweihen. Wie ließ sich dies erklären? Waren Frauen so, oder waren sie so geworden? Gibt es für sie nur Sünde, wenn andere darum wissen, oder war sexuelle Freiheit heutzutage etwas so Selbstverständliches, daß man sich auf diesem Gebiet überhaupt nicht mehr versündigen konnte? Oder woran lag es? Mit Schaudern erinnerte er sich an ein Erlebnis vor mehr als vierzig Jahren, als sich ein junges Mädchen ihm hingegeben hatte, unter der Bedingung, daß er sie nicht verführen dürfe, sie wußte nicht einmal, was es war, nachdem es geschehen war! Solche Untaten bedrücken noch nach vierzig Jahren! Unwissend konnte Anne nicht gewesen sein, ihre Nerven, ihre Phantasie aber waren nicht von Verderbnis berührt worden. Der Faun hatte sie seinen Trophäen einverleibt, ihr Herz aber hatte er nicht zu erschließen vermocht. War dies der neue Unschuldszustand der Frau, nachdem sie sich an Erfahrung gesättigt hatte, oder war sie immer so gewesen? War überhaupt alles, was man der Frau zuschrieb, nur Männererfindung, Dogma im Hirn des Mannes, der sich die Frau so ausmalte, wie er sie sich wünschte, verschieden im Lauf der Zeiten? Und war die Frau, unerforscht, sich selbst unbekannt, stets dieselbe geblieben?

Andere, reinere Geschlechter würden etwas darüber erfahren, etwas heute noch Verborgenes im Frauenwesen würde einst das Leben schmücken, wenn der Mann nicht mehr durch Raubtierinstinkte und Brunst sah, wenn er ein Mensch geworden war!

Miranda! hatte er gedacht, wenn er Anne Kielstra und ihre roten Wangen sah, so unschuldig wirkte sie, wie das junge Mädchen in Shakespeares Sturm, das noch nie einen Mann gesehen hatte. Ach, was war aus Miranda geworden! Sie hatte mehr als einen Mann gesehen und trotzdem ihre Reinheit bewahrt. Caliban war auch mit in dem Spiel, das sich an Bord entfaltet hatte. Wo aber war Ariel? Er selbst war Prospero, der alte Mann, der Weisheit statt Leben besaß und nach beendetem Sturm seinen Stab niederlegte. Auch er war bereit, den seinen niederzulegen.

Er war am Ende. Diesmal hatte er nicht nur einen Menschen, er hatte das Leben selbst sterben gesehen.

 

So saß er, untätig, in schwarze Gedanken versunken, als etwas geschah, von dem er zunächst glaubte, daß es eine Katastrophe in ihm selbst sei. Es war wie ein Druck in den Ohren oder wie eine Sprengung im Kopf, der Schiffsboden schien sich unter ihm zu bäumen, und unmittelbar darauf hörte er tiefes, unterseeisches Dröhnen.

Doch war es nicht in ihm, der Dampfer war getroffen! Ein Zittern lief durch seine Wände, und während Dr. Renault noch lauschte, begann sich der Boden der Kabine bereits zu senken. Tief unten aus dem Schiffsrumpf klang ein Rauschen wie von einem Wasserfall, und Dr. Renault begriff, daß es das eindringende Meerwasser sei.


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