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Die Fahrt ging vom Arabischen Meer nach Vorder- und Hinterindien, Aufenthalt in Ceylon, Kalkutta und Singapore, und dann ging es wieder nordwärts, nach China und Japan. Abgesehen von den Abstechern an Land, verlief das Leben an Bord ziemlich einförmig.
Die Tropen waren anstrengend, ermüdeten die Damen und erfüllten eigentlich nicht die Erwartungen. Gewitter wechselten mit Wolkenbrüchen, davon hatte nichts im Prospekt gestanden, aber schließlich konnte man ja die Schiffahrtsgesellschaft nicht für das Wetter verantwortlich machen. In Singapore warteten an Stelle der Touristenautos, endlose Reihen von Rikschas, in denen man nett zu zweien saß und von nackten Chinesen gezogen wurde. Das erstemal war es ganz lustig und paßte zu den mitgebrachten Vorstellungen. Zu kaufen aber gab es nicht viel, zur Abwechslung erschienen die Damen in malaiischen Sarongs statt in Shorts. Nach den wochenlangen Sonnenbädern waren sie ebenso farbig wie die Eingeborenen und stellten viel mehr von ihrem Körper zur Schau. Man konnte glauben, daß das Verhältnis umgekehrt sei, eine Schar Wilder, die die friedlichen Stätten der Malaien heimsuchte; die armen Kulis sahen ganz entsetzt aus.
Die Passagiere atmeten erleichtert auf, als man endlich wieder nordwärts, nach Hongkong fuhr, wo gewohnte Temperaturen und kühle Nächte ihrer warteten. Die Damen waren entzückt, daß sie wieder Toilette machen konnten und erschienen zum Abendessen vom Kinn bis an die Hacken bekleidet wie Puppen, nachdem sie wie Larven ausgesehen hatten. Das nächste Stadium würde wohl der Schmetterling sein! Eigentlich war es ganz angenehm, daß man Asien hinter sich hatte, und nur der Stille Ozean einen noch von Amerika trennte. Viele meinten bereits das Kling-Klang von Hollywood im Ohr zu vernehmen, das ersehnteste Reiseziel, nachdem man die anderen Pflichtbesuche überstanden hatte.
China war nichts Besonderes, in Japan blühten die Kirschbäume nicht, weil es nicht die Jahreszeit war, und man fror bitterlich. Was die Temperaturen betraf, so hatte man nun nachgerade alle ausprobiert, und freute sich auf die Gluthitze in Honolulu. Daß man in den Tropen wie tote Fliegen dagelegen hatte, war schon in Vergessenheit geraten.
Wenn die Gesellschaft nach einem Landausflug wieder an Bord kam, hörte man immer entzückte Ausrufe: Nirgends war es so schön wie auf unserem eigenen lieben Dampfer, mit Kühlanlagen in den Kabinen, wenn es zu warm, und Zentralheizung, wenn es zu kalt war. Das Stückchen Großstadt, das all das besaß, dem man entflohen war, um einer abenteuerlichen Vorstellung von einer öden Insel nachzujagen, auf der man das paradiesische Leben von vorn beginnen wollte – dies Stückchen Großstadt war seltsamerweise zur ersehnten Insel geworden. Zivilisation hatte trotz allem ihre Vorzüge.
Nachdem die Wochen an Bord zu Monaten geworden waren, hatte man sich in der Schiffsgesellschaft gut miteinander eingelebt. Es heißt, man könne sich an Bord eines Schiffes gegenseitig nicht lange ertragen, das aber muß auf Polarexpeditionen sein, auf einem Dampfer, wo Damen anwesend sind, kann man es lange aushalten. Reibungen waren natürlich nicht zu vermeiden, doch schliff man Tag für Tag die Kanten aneinander ab. Die Bordgesellschaft war in mancher Beziehung zu einer einzigen großen Familie geworden.
Tatsächlich ähnelte das tägliche Leben an Bord dem Zusammenleben in der Wohnstube eines sehr wohlhabenden Heims, auf einem Rittergut oder in der herrschaftlichen Villa eines Großkaufmannes. An solchen Orten ist ein Hund unentbehrlich. Auch an Bord der Arethusa fehlte er nicht, man hatte ja Spark.
Ein einziger Hund für so viele Leute mag etwas wenig scheinen, Spark aber war ein Allerweltshund und tauchte wie ein Geist stets dort auf, wo ein Mensch allein war. Im Salon ging Spark von Stuhl zu Stuhl und forderte Liebe, kratzte mit der Pfote, brachte sich in Erinnerung und wollte gestreichelt werden. Der Hund besaß eine eigentümliche Art, den Kopf plötzlich vorzustecken und Herren wie Damen im Schoß zu beschnüffeln, als gäbe es dort Geheimnisse zu ergründen. Spark lieferte beständig Gesprächsstoff, und die Damen nahmen das Haustier mitsamt Krallen, Haaren, Hundegestank und allem auf den Arm und kreischten vor Liebe.
Spark war auch ein unglückliches, unbefriedigtes Geschöpf, Jagdhund von Natur, für Feld und Jagd geeignet, aber zum Stubenhund erniedrigt, dem Zärtlichkeitsbedürfnis der Familie ausgeliefert, ein trauriges Zuchthaus für einen Hund, auch wenn es ihm scheinbar gefällt. Auch er war aus Mangel an Leben nur noch ein Nervenbündel, Müßiggang hatte ihn arm gemacht, so daß er beständig geliebt sein wollte, wie die Menschen, unter denen er lebte.
Spark war der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft. Wie in Häuslichkeiten, wo Dumpfheit und Leere an Stelle von Leben getreten ist und ein Haushund die Lücke ausfüllt, so war auch Spark an Bord der Arethusa aller Rettung.
Es war ganz wie an Land, ein Hundehimmelreich.
Dieser und jener machte die Beobachtung, daß Dr. Renault eines Abends am Ball auf dem Achterdeck teilnahm. Man sah ihn mit Anne Kielstra tanzen und fand die Zusammenstellung gar nicht übel. Der vornehme alte Arzt und die Meisterschwimmerin sahen eigentlich gut zusammen aus, ein hochgewachsenes Paar, er etwas größer als sie. Dr. Renault tanzte mit Anstand, man konnte ihm ansehen, daß er jede Bewegung genau abmaß und die Zehenspitzen hübsch nach außen setzte, die erste Position, wie er es vor vielen, ach, so vielen Jahren in der Tanzstunde gelernt hatte. Und das junge Mädchen in seinem Arm folgte schmiegsam seiner Führung, offenbar durch die Auszeichnung geehrt, die ihr zuteil wurde. Eine Unterhaltung schienen sie während des Tanzes nicht zu führen, und der Abstand zwischen ihnen sei reichlich groß, meinten diejenigen, die an weniger gewöhnt waren.
Ja, Dr. Renault tanzte. Ein guter Tänzer war er nie gewesen, weder zur Zeit der alten noch der neuen Tänze, hatte aber doch versucht, mitzukommen. Vor Twostep hatte er Respekt, das klang so verwickelt, mit Onestep aber hatte er es aufgenommen, in der Meinung, die Schwierigkeiten seien hier nur halb so groß. Und nun tanzte er also Onestep mit Anne Kielstra.
Nach dem Tanz mit ihr verließ er sofort den Ball und wanderte einsam auf Deck zwischen den Rettungsbooten auf und ab, auf und ab, tief ergriffen, ganz verzaubert, nachdem er dem jungen mädchenhaften Geschöpf so nah gewesen war.
Es war ein einzigartiger Genuß, sie um die Taille zu fassen, das junge, federnde Rückgrat und das seidenfeine Gewebe darüber zu fühlen, weicher und fester als Daunen, durchdrungen von einer Lebenswärme, die süßer war als Wärme, einer vitalen, seelenvollen Ausstrahlung des Blutes, die ihrer Haut, ihrer ganzen Person entströmte.
Durch Lebenswärme tut sich Wahlverwandtschaft kund, Ätherwellen wie beim Radio. So widerlich man sich von der Körperwärme unsympathischer Personen berührt fühlt – im Grunde ist es wohl eher umgekehrt, die falsche Wärme verursacht Antipathie –, so ergriffen, eingesponnen wird man von der Wärme eines anderen Wesens, falls die Wärme die richtige ist.
Niemals hatte Dr. Renault Lebenswärme so ergreifend, so an ihn persönlich gerichtet empfunden wie durch dieses junge Mädchen. Es war, als habe nur sie Leben für ihn, kein anderer Mensch in der ganzen Welt. Aus ihrem kurzgeschnittenen Haar strömte zarter, sonniger Duft wie frisches Eichenholz, der Erinnerungen an ein Dasein wachrief, das er einst als Kind gelebt hatte, oder als die ganze Menschheit noch Kind war. Und nicht durch ihre Wärme allein meinte er sie schon seit Ewigkeit zu kennen, auch ihre Bewegungen beim Tanzen waren auf die seinen wie auf einen Ton gestimmt, von einer Einfühlsamkeit, welche seine Bewegungen erriet, fast bevor sie gedacht waren, so daß sie sich nach dem Rhythmus der Musik wie ein einziger Körper bewegten.
Nach ihren Familienverhältnissen, ihrer Abstammung hatte er sie nicht gefragt. Wozu? Sie besaß Rasse, das genügte ihm. Bauernvorfahren steckten noch in ihr. Ein Mensch, dem das Blut so heiß in den Wangen pulsierte, war selbst Stamm, mit ihr endete kein Geschlecht, es begann erst. An der Haut kann man Menschen erkennen, reine, makellose Haut zeugt nicht nur von der Gesundheit des Individuums, auch von der des Geschlechts, von Rasse, welcher Art sie auch sein mag. Die Natur freut sich über die eingeschlagene Richtung und steht in voller Blüte. Eine Generation lag in ihr. Wer sie mit ihr teilen, sie immer vor Augen haben, sie immer bei sich behalten könnte! Wer sich von der lebenspendenden Wärme, dem Leben selbst nähren könnte, das ihr aus dem Herzen strahlte, Sonnenschein, der durch ihr Blut gesiebt wurde!
War es denn ein so unmöglicher Gedanke, mit ihr leben zu wollen? Sie war neunzehn Jahre alt, er neunundfünfzig. Zehn Jahre mochten ihm noch beschieden sein, er konnte noch einmal eine Familie gründen. Selbst wenn er nur noch zehn Tage, ja, zehn Stunden zu leben hätte, würde er sie heiraten wollen! Man hat nur ein Leben, nachher sind die anderen dran. Er wollte sie heiraten, wenn sie ihn nahm. Er wollte sie fragen.
Es kam nie dazu. Dinge ereigneten sich, die seinen Gedanken eine ganz neue Richtung gaben.
Serge, der Putzer und erste Tenor des Quartetts, war nach und nach zum Solisten aufgerückt, trug ganz allein die musikalische Unterhaltung und war von seinen ursprünglichen Pflichten an Bord entbunden worden, weil er nützlicher war, wenn er die Damen unterhielt. Seit einiger Zeit trat er in langen russischen Stiefeln auf, sehr tscherkessisch und freiheitsliebend, für die Tropen aber ein wenig unpraktisch.
Eines Abends gab er Solonummern auf dem Achterdeck zum besten, und die ganze Bordgesellschaft saß in Hufeisenform wie in einem Konzertsaal um ihn herum. Der schöne Russe, der übrigens Slowake war, spielte die Balalaika und trug feurige slawische Lieder vor, mit dem Feuer und Unterstrom von Schwermut, der in der Steppe zu Hause ist und durch die fremde, leidenschaftliche Sprache noch gehoben wird. Wolga, Wolga kam immer wieder in seinen Liedern vor, und man begriff, es war von der Wolga, dem Seufzerfluß, die Rede. Auch den Don konnte man hören, der so sacht fließt, und die Damen auf den Zuhörerplätzen machten gefühlvolle Augen und meckerten wie Ziegen vor Wonne über den jungen Sänger, der seine Mähne königlich zurückwarf. Das ganze Achterdeck zerschmolz in Gefühl, man befand sich am Ufer der Flüsse, auf der Steppe, Mazeppa, Wereschtschagin, Wolfsjagd im Winter, die tiefe, russische Seele, und Wolga …
Während des Gottesdienstes suchten Dr. Renaults Augen Anne Kielstra. Bei ihrem Anblick aber sank ihm das Herz in der Brust, es war, als entwiche ihm alles Leben, denn es war ja kein Zweifel möglich! Sie ging völlig in dem Sänger auf, ihre Züge spiegelten die unverhüllteste Bewunderung und Anbetung, ihr Blick, ihr selbst unbewußt, war restlose Hingabe an diesen blassen, fanatischen Komödianten!
Im selben Augenblick, als Dr. Renault sich darüber klar war, kam ihm eine Erkenntnis, die weher tat, als irgend etwas in seinem ganzen Leben: Ihn hatte sie noch nie angesehen! Nie hatten ihre Augen ihn gesucht, obgleich die seinen beständig auf ihr weilten, wann immer sie zugegen war.
An diesem Schauspieler aber, der einen Russen mit Stulpenstiefeln und Russenbluse darstellte, hingen ihre Augen wie magnetisiert, fast phosphoreszierend, und ein unbewußtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dr. Renault wandte seine Augen ab.
Unbemerkt zog er sich zurück, denn aller Augen hingen ja wie in einer Trance an dem Sänger, der Rußlands ganzes Weh über die Gesellschaft ausschüttete.
Was war noch hinzuzufügen? Daß Serge jung, und Dr. Renault alt war. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen: Jugend sucht Jugend. Etwas anderes gab es nicht.