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Dem Dampfer Arethusa konnte man keine Veränderung anmerken. Er setzte seine Fahrt unbekümmert fort, pflügte mit dem Steven vorn die Wogen, und peitschte achtern mit den Schrauben das grüne Meerwasser zu Schaum. Daß das Getier in seinem Innern das untere nach oben gekehrt hatte, verursachte einem Schiff keine Kopfschmerzen.
Es war ruhige See im Stillen Ozean, stilles Wetter, und die Arethusa gab sich der Gemeinschaft hin, die einem Schiff natürlich ist, den Schwestermächten, Himmel und Meer. Das Meer wogt auf und nieder, auf und nieder, der Himmel ist stumm und fern, besitzt aber Sehkraft, tagsüber ein großes, gewaltiges Auge, nachts Sterne, wie eine Netzhaut am Himmel, unendlich ferne Lichtquellen. Das Schiff aber ist eine wandernde Seele, will vorwärts, klettert bei hohem Seegang über Wogenberge, zielt auf den Himmel, und gräbt die Nase wieder ins Wogental, während die Propeller durch die dünne Luft rasen und der ganze Schiffsrumpf erzittert. Hu, ein Schiff hat es nicht gerne, wenn seine Schrauben aus dem Wasser ragen! Bei Nebel brüllt der Dampfer angstvoll, wie ein blinder Walfisch, tiefes, heiseres Gebrüll, wieder und wieder, und zwischendurch hält es den Atem an, das ganze Schiff scheint zu lauschen, rauscht eine Weile durch die Wellen und heult dann wieder laut und entsetzt, tastet sich mit Gebrüll im Nebel vorwärts, einfältig wie alle großen Geschöpfe, mit nur einem einzigen Ton im Leib. Aber es ging vorwärts.
Wenn jemand von oben, von der Stratosphäre oder vom Mond aus, die Fahrt der Arethusa beobachtete, hätte er den Eindruck einer zeitweiligen Störung bekommen. Allen Schiffen kann man ansehen, daß sie einen bestimmten Kurs steuern, das Achterteil kehren sie nach der Richtung, aus der sie kommen, den Steven dem Ziel zu. Die Arethusa aber schien sich über ihren Kurs nicht schlüssig zu sein. Nachdem sie Japan glücklich hinter sich gelassen hatte, hielt sie nach Südosten, einen Kurs, der Honolulu schneiden mußte, falls er in gerader Linie fortgesetzt würde. Plötzlich aber fing sie an, sich um sich selbst zu drehen, als habe sie die Drehkrankheit bekommen oder suche nach etwas, das sie verloren hatte. Dann war die Fahrt einige Tage nordwärts gerichtet, ganz aus dem Kurs; plötzlich ging es wieder nach Süden, in die diametral entgegengesetzte Richtung. Was hatte das wohl zu bedeuten?
Es war während der Revolution an Bord, als der Dampfer sich um sich selbst drehte. Der Mann am Ruder meinte, der Kurs wäre lange genug rechts gewesen, nun sollte er hart nach links umgelegt werden. Als der Dampfer dann nach Norden steuerte, waren sich die Oberbefehlshaber an Bord einig geworden, nach Rußland zu fahren, und als der Kurs wieder nach Süden umgelegt wurde, hatte man beschlossen, irgendeine unbewohnte Südseeinsel aufzusuchen und dort einen kommunistischen Staat zu gründen. Dabei blieb es.
Meister Franck, der an den Sitzungen des Heizer- und Kellnerrates teilnahm, konnte bei seinen heimlichen Besuchen dem emsig schreibenden Dr. Renault darüber berichten.
»Stellen Sie sich vor,« erzählte er, als er einmal wieder in Dr. Renaults Kajüte saß, »die Bande wollte durch die Beringstraße steuern, um durch die Nordostpassage nach Rußland zu gelangen! Die Route, die Tscheljuskin vor kurzem eröffnet hat! Wahrscheinlich hat man seine Weisheit aus dem Film geschöpft …«
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um die Wirkung seiner Mitteilung zu genießen, mit dem Ausdruck eines glücklichen Idioten, der von seinen eigenen Worten entzückt ist. Dann aber beugte er sich an Dr. Renaults Ohr, ließ seinen Blick verstohlen zu Wand, Tür und Bullauge schweifen und flüsterte:
»Dann aber geschah etwas Unerwartetes! Stoker, ein Mitglied des Heizerrates, der aber gar kein Heizer ist, er nennt sich nur so, hat sich nach und nach zum Wortführer aufgeschwungen – also Stoker hat vorgeschlagen, eine öde Insel in der Südsee aufzusuchen, und sein Antrag ist mit Stimmenmehrheit angenommen. Und wissen Sie, wer Stoker ist?«
Er näherte seinen Mund Dr. Renaults Ohr und flüsterte:
»Innis.«
Die beiden Männer zogen sich voneinander zurück, sahen sich an, Dr. Renault stumm, wie an den Stuhl genagelt.
»Ich hatte ja eine Ahnung, daß er an Bord sei,« flüsterte Franck, »erinnern Sie sich, ich erwähnte es einmal. Tatsächlich aber hat nur ein einziger davon gewußt, der Kapitän, er hat es mir erzählt. Durch Stoker aber haben wir einen wichtigen Mann im Rat und können kontrollieren, was vor sich geht.«
Er sah sich wieder vorsichtig um:
»Mit ihm und mir sind wir zwei im Rat. Und wir haben die anderen dann auch glücklich von der verrückten Idee, durch das Polarmeer zu steuern, abgebracht. Stoker redete Serge in Grund und Boden. Ich sage Ihnen, der Mann hat einen Bariton, fabelhaft!«
Dr. Renault war verblüfft. Der graue Schnurrbart bewegte sich wie eine Maus unter seiner Nase.
»Wo finden die Sitzungen statt?«
»Auf dem Achterdeck.«
»Wie ist er verkleidet?«
»Verkleidet? Er ist gar nicht verkleidet. Er hat sich nur eine alte Arbeitermütze aufgesetzt, mit der er wahrscheinlich auch zu Bett geht, damit sie echter wird. Niemand hat ihn gekannt, ich habe ihn nie gesehen, und Bilder gibt es auch nicht von ihm. Er brauchte nur die Mütze aufzusetzen, in Erscheinung zu treten und flugs war er einer von den ihren. Es gibt ja so viele Hände an Bord, wer kennt jeden einzelnen? Sie werden sehen, über kurz oder lang ist er obenauf.«
Meister Franck schlich hinaus, und Dr. Renault saß lange nachdenklich vor seiner Arbeit. Sieh mal einer an!
Eine andere Sache bereitete Dr. Renault Kopfschmerzen, Anne Kielstras Schicksal! Abends rekognoszierte er vorsichtig auf den Gängen, bei künstlichem Licht und tiefem Schatten. Unter den Passagieren hatte er sie nicht gesehen. Eines Abends aber, als er verstohlen an den Fenstern des Speisesaals vorbeiging, wo die Besatzung speiste und mit Messern und Gabeln durch die Luft fuchtelte, sah er ihren zierlichen Kopf mit dem Herrenschnitt, an derselben Stelle wie früher, am Kapitänstisch. Und neben ihr saß Serge! Vor ihnen stand ein Champagnerkühler. Um die Tische saßen die ehemaligen Kellner und ließen sich von den Passagieren bedienen, die die Servierbretter ungeschickt balancierten und über ihre eigenen Beine stolperten. Er sah, wie mehrere der ehemaligen Kellner ungeduldig auf den Tisch trommelten und sich über die schlechte Bedienung beklagten.
Nachdem Dr. Renault gesehen hatte, was er sehen wollte, kehrte er in seine Kajüte zurück.