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Ohne Übergang, wie er gestorben, jenseits aller menschlichen Kontrolle, erwachte Dr. Renault wieder. Ja, er erwachte wieder.
Es dauerte eine Weile, bevor er sich darüber klar war, daß er lebte und daß er es auch wirklich selbst war. Und da er nicht bezweifeln konnte, daß er das Zeitliche gesegnet hatte, so gab es nur eine Erklärung: Er war in ein anderes Dasein hinübergetreten. Hm.
Er blickte sich um, bewegte vorsichtig die Augen, ohne sich zu rühren. Er befand sich in einem roten, spärlich erleuchteten Raum scheinbar ohne Wände oder Grenzen. Sonst war sein Zimmer von der grünen Dämmerung der Nachtlampe erfüllt, hier aber war es so rot wie in einer Dunkelkammer. Auch sehr warm war es.
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür an derselben Stelle wie in seinem Krankenzimmer, und er sah geradewegs in einen glühenden Ofen!
Dieser Anblick kam Dr. Renault doch ein wenig überraschend! Die Erkenntnis aber ließ nicht lange auf sich warten. Diesen Weg mußte er also gehen! Durfte er eigentlich etwas anderes erwarten, wenn es überhaupt so etwas gab? Die Ohren aber wurden ihm heiß.
Die Glut in der offenen Tür war so blendend, daß man den Eindruck eines unendlichen Raumes erhielt, einer Dimension jenseits aller menschlichen Vorstellung, und dennoch ganz deutlich. Dr. Renault schwebte etwas von der Ungewißheit der Überzeugung vor, die man zum Beispiel im Traum hat, wenn man fliegt und sich gleichzeitig darüber wundert, daß man diese Fähigkeit im wachen Zustand nicht besitzt. Von beidem aber war man fest überzeugt, Überzeugung ist absolut. Wo aber liegt die Wahrheit?
Dr. Renault, der die Gewohnheit hatte, allen Dingen auf den Grund zu gehen, war in seinen Betrachtungen bis hierher gekommen, als sich eine Gestalt aus der weißen Glut löste, und ein Mensch, von Flammen umzüngelt, sich seinem Bett näherte. Es war ein Mann unbestimmbaren Alters und von gewöhnlichem Äußern. Er ging ein wenig gebeugt, den Kopf eingezogen, so daß er auf den schmalen, abfallenden Schultern lag. Ein langer Mantel reichte ihm bis an die Fersen. Als der Mann sich höflich näherte, sah Dr. Renault, daß der graue, aschfarbene Mantel von klaren, blitzenden Fäden durchzogen war. In Wirklichkeit war es Marienglas. Der Stoff des Mantels ähnelte der alten Seide, die man Taft nennt, und der ganze Mantel war altmodisch im Schnitt, ohne Rockaufschlag, und vorn mit einer Reihe von Knöpfen, auch aus Marienglas. Es war die Mode aus Kants Zeit, vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Der Mann blieb vor dem Bett stehen, grüßte ein wenig linkisch und stellte sich vor:
»Asbest ist mein Name.«
Sogar das Gesicht war aschgrau, die Augen aber waren dunkel, merkwürdig lebendig und traten stark hervor, man sah fast den ganzen Augapfel. Der Blick hatte etwas Magisches, Selbstleuchtendes. Die Züge waren plump, das Untergesicht war groß und im Profil stark hervortretend.
»Gestatten Sie, daß ich ohne Umschweife zur Sache komme?« begann der Mann mit angenehmer, gedämpfter Stimme, die im Verhältnis zu seiner Statur überraschend tief und voll klang. »Ich möchte mir erlauben, Ihnen ein vorteilhaftes Geschäft vorzuschlagen.«
Und bevor Dr. Renault noch Zeit gehabt hatte zu antworten, räusperte er sich und fuhr fort:
»Ich weiß, Ihr heißester Wunsch ist in diesem Augenblick, in das Leben zurückzukehren, das Sie soeben verlassen haben. Die meisten hegen diesen Wunsch. Im allgemeinen bin ich nicht imstande, ihn zu erfüllen, in Ihrem Fall aber kann ich eine Ausnahme machen. Ich möchte einen Handel mit Ihnen abschließen, indem ich davon ausgehe, daß der eine Teil etwas besitzt, das der andere erwerben möchte, und umgekehrt …«
»Wollen Sie mir vielleicht meinen Schatten abkaufen?« fragte Dr. Renault bedeutungsvoll und richtete sich kampfbereit auf.
»Von Ihrem geehrten Schatten ist hier nicht die Rede«, antwortete Herr Asbest kurz und abweisend. »Auf das, was ich zu erhandeln wünsche, werde ich später zurückkommen. Vorerst möchte ich nur feststellen, ob Sie Wert darauf legen, ins Leben zurückzukehren, ob Sie es von neuem beginnen möchten. Unter Umständen kann ich Ihnen dazu verhelfen.«
»Kann ich wirklich ins Leben zurückkehren?«
»Ja. Falls Sie auf meine Bedingungen eingehen, steht es in meiner Macht, Sie ins Leben zurückzuführen, an den Ausgangspunkt, den Sie selbst bestimmen.«
»Was verlangen Sie dafür?« fragte Dr. Renault trocken.
»Daß Sie mir gehören, wenn das zweite Leben, das ich Ihnen vertragsmäßig liefere, zu Ende ist.«
»Gehöre ich Ihnen denn nicht schon?« fragte Dr. Renault und sah sich in dem heißen Raum um.
»Noch nicht«, erwiderte Herr Asbest. »Vorläufig befinden Sie sich im Fegefeuer, wahrscheinlich auf Grund irgendeines Vergehens, das Sie im Leben nicht gesühnt haben. Ich kann Sie nur solange behalten, wie die Strafe dauert. Falls Sie mein Angebot aber annehmen, dann gehören Sie mir ganz, wenn Ihr zweites Leben zu Ende ist.«
»Was meinen Sie damit, daß ich Ihnen gehöre?«
»Die Art der Abhängigkeit bestimme ich.«
Dr. Renault meinte die Abhängigkeit bereits zu spüren. Er atmete hörbar durch die Nase, und durch seine Stimme klang etwas wie eine Säge, obgleich er sehr höflich bemerkte:
»Ich bedaure, ich kann nicht auf Bedingungen eingehen, deren Tragweite mir nicht bekannt ist. Falls Sie mich nicht verstehen wollen, Herr Asbest, dann möchte ich Sie bitten, mitsamt Ihrem Probenkasten zu verschwinden.«
Er heftete seinen Blick auf eine Tasche oder einen altmodischen Ranzen, ein Felleisen, das Herr Asbest auf der Hüfte trug.
Herrn Asbests Unterkiefer schien noch größer zu werden, undurchdringliche Härte, unerhörter Egoismus malte sich auf seinen Zügen, gerade weil er sie so ausdruckslos wie möglich zu machen versuchte. Seine Stimme klang einen Grad schärfer, als er mit ausgesuchter Höflichkeit bemerkte:
»Es freut mich, mit einem Mann zu verhandeln, der klipp und klar Bescheid verlangt. Und weshalb sollte ich vor einem Mann ihrer Intelligenz verbergen, was ich unter Abhängigkeit verstehe? Wer weiß nicht, was Dienen ist? Ich gebe zu, der Handel ist besonderer Art. Kurz und gut, ich möchte die Persönlichkeit mit Ihnen vertauschen. Ich übernehme Ihre Individualität. Sie die meine …«
»Eine größere Ehre kann ich mir nicht vorstellen!« rief Dr. Renault mit überströmender Höflichkeit und versuchte eine Verbeugung im Bett.
»Ehre ganz auf meiner Seite«, beeilte sich Herr Asbest zu versichern, indem er sich ehrfurchtsvoll verneigte. Sie verbeugten sich mehrmals voreinander, während ihnen der Kamm schwoll.
In der Verhandlung war eine Pause eingetreten. Dr. Renault räusperte sich leise, während er überlegte. Herr Asbest stand kerzengerade vor ihm, die großen Kiefer fest aufeinander gepreßt.
»Die Tragweite meiner Verpflichtungen ist mir nun klar«, begann Dr. Renault schließlich. »Gestatten Sie mir nur noch eine Frage. Indem ich mich einer ähnlichen Situation erinnere, die Ihnen sicher auch nicht unbekannt ist, möchte ich folgendes wissen: Enthält der Vertrag nicht eine Bestimmung, derzufolge unsere Vereinbarung hinfällig wird, auch wenn Sie Ihre Verpflichtungen erfüllt haben?«
»Allerdings, diese Möglichkeit besteht«, erwiderte Herr Asbest. »Falls Sie, wenn Ihr zweites Leben zu Ende ist, sich noch ein drittes Leben wünschen, ehrlich und aufrichtig, dann gehe ich meiner Forderung an Sie verlustig. Andernfalls gehören Sie mir.«
Dr. Renault überlegte. Hier galt es Schwierigkeiten zu durchdringen, auch Dinge der Zukunft, von denen man heute noch nichts wissen konnte. Schließlich aber sagte er ganz impulsiv:
»Kann ich sogleich beginnen?«
»In welchem Alter wollen Sie ins Leben zurückversetzt werden? Wollen Sie in der Wiege beginnen?«
Dr. Renault warf Herrn Asbest einen hastigen Blick zu. Machte er sich über ihn lustig? Der andere schien den Blick nicht zu bemerken.
»Oder als junger Mann?«
Dr. Renault überlegte nicht lange.
»Nein, danke«, sagte er trocken, indem er den Mund verzog.
»Die meisten scheinen das Alter vorzuziehen, in dem sie sich gerade befinden, meinte Herr Asbest. Sie wollen also am liebsten wie Sie sind, mit Ihren Erfahrungen und Ihrer Reife ins Leben zurückkehren? Wie viele Jahre wünschen Sie noch? Etwa zwanzig?«
Dr. Renault überlegte gründlich. Abgesehen von der akuten Krankheit, an der er gestorben war, hatte er sich einer vorzüglichen Gesundheit erfreut, und eigentlich auf keine Weise das Alter gespürt. Nur an anderen hatte er gewisse Beobachtungen gemacht.
»Geben Sie mir elf Jahre«, entschied er.
»Gut. Ich gebe Ihnen elf Jahre und garantiere Ihnen in diesem Zeitraum das Herz eines Jünglings …«
»Machen Sie keine Redensarten«, sagte Dr. Renault warnend. »Die Jahre nehme ich dankbar an, wünsche aber auf natürliche Weise zu altern. Ein Leben außerhalb der Norm hat keinen Reiz für mich.«
»Ich hatte es gut mit Ihnen gemeint«, sagte Herr Asbest kühl, als finge der Handel an, ihm langweilig zu werden. »Ihre Lebensfähigkeit und Gesundheit können Sie als Arzt ja selbst am besten beurteilen«, fügte er hinzu, mit einem kaum merklichen, sardonischen Lächeln. Darauf öffnete er die Klappe seines Ranzens, nahm ein Dokument heraus, altes, bläuliches Protokollpapier mit Wasserstreifen, und legte es vor Dr. Renault hin.
»Bekomme ich elf Jahre nicht billiger als ein ganzes Leben?« fragte dieser und blickte Herrn Asbest starr an.
»Es gibt nur einen Preis«, antwortete Herr Asbest, und entblößte zum erstenmal eine Reihe sehr großer Zähne, eine wahre Knochenmühle in seinem vorgeschobenen Mund.
»Aber,« fügte er großmütig hinzu, »in Anbetracht dessen, daß Ihre Forderung relativ bescheiden ist, will ich noch eine Zugabe machen.«
Damit zog er einen Lederbeutel aus dem Ranzen und gab ihn Dr. Renault. Es war eine alte einfache Geldbörse aus grünem Leder, wahrscheinlich aus Korduan, ein rundes Stück Leder ohne Naht, zusammengefaltet zu einem flachen Stern, den man bequem in der Tasche tragen konnte. Man öffnete sie, indem man den Stern auseinanderfaltete. Sie erinnerte Dr. Renault an ein Ventrikel, ein Magentier.
»Fortunats Börse wird sie genannt«, erklärte Herr Asbest. »Immer, wenn Sie sie öffnen, können Sie ihr ein Pfund entnehmen, eine unbeschränkte Anzahl. Früher gab sie Dukaten, ich habe sie aber auf Pfund umgestellt, mit Pfund kann man heutzutage überall durchkommen.«
Dr. Renault betrachtete die Börse, sie interessierte ihn als Antiquität, etwas Ähnliches hatte er noch nicht gesehen; es war nicht ausgeschlossen, daß sie aus der Maurenzeit in Spanien stammte. Nachdem er sie genügend betrachtet hatte, gab er sie stillschweigend mit einer seitlichen Handbewegung zurück.
»Wie? Was? Sie wollen Sie nicht behalten?«
Dr. Renault schüttelte abweisend den Kopf.
»Haben Sie sich das auch gründlich überlegt?« sagte Herr Asbest eindringlich, mit fast ängstlicher Besorgnis. »Wissen Sie, was Sie damit von sich weisen? Die Macht eines Morgan! Eine Lustjacht können Sie sich leisten, ein Schloß können Sie sich kaufen, an der Riviera oder wo Sie wollen. Ein eigenes Flugzeug können Sie sich halten, ganz Casablanca kaufen …«
Als Dr. Renault ihn fragend anblickte, fuhr er fort:
»Ich meine Casablanca in Marokko. Da sind Sie wohl noch nicht gewesen? Haben Sie Kairo noch nicht gesehen?« Herr Asbest hob die Brauen und betrachtete Dr. Renault ungläubig. War er wirklich so ungebildet?
»Kennen Sie überhaupt die Länder des Mittelländischen Meeres auf der afrikanischen Seite? Ein Mann wie Sie ist natürlich zu beschäftigt gewesen, um etwas vom Leben zu sehen. Ich kann Ihnen erzählen, der Abstand zwischen der nördlichen und südlichen Küste des Mittelländischen Meeres ist viel größer, als das bißchen Seereise ahnen läßt. Dort finden Sie noch ein Überbleibsel von der Vorurteilslosigkeit der Antike, vorausgesetzt, Sie besitzen den Schlüssel dazu. In den nordafrikanischen Städten, in Alexandria, Kyrene, Tunis, da ist in der Glanzzeit des römischen Kaiserreichs gelebt worden, kann ich Ihnen sagen! In entlegenen Ortschaften der Provinzen, aus denen man nicht alles erfuhr, haben die Statthalter Vermögen durchgebracht! Ich könnte Ihnen allerhand erzählen. Und noch heute kann man dort leben, falls man die Mittel dazu besitzt. Was man von diesen Städten mit ihren vergitterten Fenstern weiß, hat man nur von Seeleuten und Pöbel mit einigen lumpigen Francs in der Tasche erfahren. Vermögende Leute, Herren, wissen besser Bescheid. Für Geld kann man dort alles bekommen, kann erfahren, wie im alten Babylon gelebt wurde. Südlich vom Mittelländischen Meer ist die Welt noch jung. Was strömt nicht alles aus afrikanischem Boden und endet dort auch. Farbige Frauen in allen Nuancen kann man dort kaufen, große, schwarze Nubierinnen, an deren Glut man zu verbrennen fürchtet, die aber kühl sind wie eine Melone. In weißgekalkten Kammern hält man riesige, kaneelfarbige Berberinnen, nur mit ein Paar Saffianpantoffeln bekleidet, in Verwahrung. Auch von dem Tanz der orientalischen Frauen hat man in Europa nur eine ganz vulgäre Vorstellung, denn man kennt ihn ja nur aus Kneipen. Ist man aber ein Effendi, dann weiß man, was Tanz bedeutet, behält sein Wissen aber für sich. Haben Sie wirklich den Mut, Mittel zurückzuweisen, die Ihnen die Kreise eines Effendi aufschließen?«
Dr. Renault blickte mit undurchdringlichem Gesicht vor sich hin.
Herr Asbest aber fuhr fort, ihm die Lockungen der Welt auch in anderen Weltteilen auszumalen, in überseeischen Hafenstädten, auf Südseeinseln, in den Badeorten der kalifornischen Küste. Er zählte die mondänen internationalen Vergnügungsstätten auf, Tingeltangel und illuminierten Restaurants, es war wie ein Rundhorizont, von einem hohen Berg aus gesehen. Als er aber Dr. Renault betrachtete, um die Wirkung seiner Worte festzustellen, sah er, daß dieser merkwürdige Mann nur ein Gähnen unterdrückte, das er auf einen Mundwinkel zu beschränken und mit der Hand zu verbergen suchte.
Kopfschüttelnd betrachtete Herr Asbest diesen Menschen, der uneinnehmbar schien, von welcher Seite man sich ihm auch zu nähern versuchte. War es möglich, daß man alle Überredungskünste aufbieten mußte, um einen Menschen zu bewegen, eine Gunstbezeugung anzunehmen, nach der die ganze Welt gierig griffe? Worin begründete sich dieser Widerstand? Herr Asbest betrachtete Dr. Renault bewundernd und zugleich gereizt. Noch aber hatte er nicht alle Hoffnung aufgegeben.
»Soll ich Ihnen die Börse vielleicht lieber leihen?« fragte er vorsichtig, indem er sich Dr. Renault von einer anderen Seite zu nähern versuchte. »Machen Sie doch einmal die Probe! Hier gibt es etwas zu lernen, denn reich sein will auch gelernt werden. Behalten Sie sie ein halbes Jahr lang! Mit Geld kann man auch Gutes tun …«
Dr. Renault schwieg. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als kaue er auf dem Vorschlag.
»Also nehmen Sie sie doch!« drängte Herr Asbest, froh, weil er Erfolg zu haben schien, und schob Dr. Renault die Börse wieder zu.
Dr. Renault blinzelte gereizt. Er war Chefarzt eines Krankenhauses gewesen und hatte es verstanden, seinen Willen durchzusetzen. Solchem Eigensinn aber war er noch nicht begegnet, und er wollte sich keinesfalls davon überwinden lassen.
»Nein«, sagte er gequält und schob die Börse von sich. »Wer sind Sie überhaupt?« fügte er gereizt hinzu.
Herr Asbest steckte die Börse wieder ein. Eine Zeitlang gab er kein Lebenszeichen von sich. Dann aber schien er sich mit dem Unverstand des anderen abzufinden, und als er wieder sprach, klang seine Stimme gefaßt, aber weniger wohlwollend als vorher:
»Wer ich bin? Nennen Sie mich meinetwegen Ihren Dämon. Aber zurück zu unserem Kontrakt. Bitte, überzeugen Sie sich, ob der Wortlaut Ihnen genehm ist. Falls Sie einverstanden sind, muß ich Ihnen eine kleine Unbequemlichkeit bereiten; es ist Vorschrift, daß Sie das Übereinkommen mit Ihrem Blut unterschreiben.«
Damit reichte er Dr. Renault ein altmodisches Besteck, das ein paar kleine Messer und einen verrosteten Schnepper zum Aderlassen enthielt. Dr. Renault betrachtete das Ding, während sein Schnurrbart sich sträubte. Ohne ein Wort stieß er das Besteck zurück, zog eine Sicherheitsnadel aus seinem Nachthemd, spuckte kräftig darauf und stach sich damit ins Ohrläppchen. Es kamen ein paar Blutstropfen, und schnell hielt Herr Asbest eine Feder darunter. Bevor Dr. Renault unterschrieb, warf er einen Blick auf den Federhalter. Es war eine dünne Achatstange, gegen die Aderzeichnung geschliffen. Scheußlicher Geschmack, dachte er, während er mit seiner Rezeptklaue unterschrieb:
G. A. Renault.
Herr Asbest nahm den Vertrag und hielt ihn zum Trocknen in die Höhe. Er sah aus, als habe er ein Geburtstagsgeschenk bekommen.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Indem er seine großen, selbstleuchtenden Augen auf Dr. Renault heftete, zog er die Börse wieder ans Tageslicht.
»Wollen Sie sie nicht doch probieren?« fragte er einschmeichelnd. »Wir sind ja nun sozusagen Verschworene. Bedenken Sie, Geld ist Macht! Reiche können Sie damit stürzen. Geld ist Petroleum, Minen, Waffenfabriken. Eine ganze Republik in Amerika können Sie mit Geld kaufen. Politik ist nichts als Geld.«
»Herr Asbest,« fiel ihm Dr. Renault ins Wort, »ich verstehe nichts von Geld, obgleich ich bisher noch keine Rechnung unbezahlt gelassen habe. Aber hüten Sie sich, mir etwas von Ihrem Wesen aufzudrängen, bevor Sie möglicherweise durch unseren Vertrag dazu berechtigt sind.«
Herr Asbest steckte den Rüffel schweigend ein, wahrhaftig, er schlug die Augen nieder. Dann aber faßte er sich, hielt den Vertrag dicht vor die Augen und musterte die Unterschrift.
»Ein seltener, fremdartiger Name«, bemerkte er familiär. »Wahrscheinlich französischen Ursprungs?«
Dr. Renault nickte. »Ja, mein Geschlecht ist aus Frankreich eingewandert. Ursprünglich war der Name übrigens nicht französisch, sondern nordisch. Ragnvald war die ursprüngliche Form, die mit dem deutschen Reginald verwandt ist …«
»Was Sie sagen! Steht Ihr Geschlecht mit dem Sagenkreis um Renaud de Montalban oder Rinaldo di Montalbano, wie er auf italienisch heißt, in Verbindung? Der Name, der die ganze Ritter- und Räuberromantik, alle Volkslieder und die blaue Blume umfaßt!«
»Das wird wohl eine ältere Linie sein,« meinte Dr. Renault, »fränkischen Ursprungs. Der Name kommt in Ländern mit verschiedener Nationalität vor, weil er sich aus einer gemeinsamen germanischen Sprachwurzel entwickelt hat und von den Normannen später verbreitet worden ist. Die englische Form ist Reynolds …«
»Wie interessant! Sind Sie mit dem Maler verwandt?«
»Sehr entfernt. Die Sprachwurzel aber ist dieselbe.«
Herr Asbest wackelte fast unmerklich mit dem Kopf. Es war eine Art Zittern, das ihn bei aufregenden Mitteilungen befiel.
»Wie aber ist die französische Form zum Norden zurückgelangt?« fragte er gespannt, mit aufrichtigem Interesse.
»Emigranten; die während der französischen Revolution flüchteten, haben den Namen mitgebracht«, erklärte Dr. Renault kurz. Er hatte seine Abstammung oft genug erklärt.
»Ist Ihr Geschlecht von Adel?«
»In der Familie ist nichts darüber bekannt, daß meine Vorfahren im Jahre 1789 Landbesitz im Stich lassen mußten«, erwiderte Dr. Renault. »Der Emigrant, von dem wir in gerader Linie abstammen, war Sprachlehrer. Im übrigen ist der Fall nicht vereinzelt, es gibt mehrere Emigrantenfamilien mit französischen Namen nordischen Ursprungs. Der Name Tutein zum Beispiel ist ursprünglich normannisch, Thorstein. Oder Thierry, der stammt von Dietrich ab …«
»Dem Gotenkönig …!«
»Man hat Beispiele dafür, daß Geschlechter auf Umwegen zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind, wenn die Überlieferungen unterwegs auch verloren gingen. In England gibt es nordische Namen vergessenen skandinavischen Ursprungs. Der Name Osborn zum Beispiel ist die anglisierte Form von Asbjörn oder Esbern …«
»Von den Normannen sollen ja alle europäischen Fürsten- und Adelsgeschlechter abstammen«, bemerkte Herr Asbest so nebenbei.
Herr Asbest plötzlich lebhaft:
»Sind Sie auch mit dem Auto, dem Renault, verwandt?«
»Sie meinen mit dem Fabrikanten?« erwiderte Dr. Renault und maß Herrn Asbest mit den Augen. »Vielleicht ist er ein Neffe von mir. Fahren Sie die Marke?«
Herr Asbest brach in ein schallendes Gelächter aus, das gar keinen Zusammenhang mit der Frage zu haben schien. Dr. Renault musterte ihn von oben bis unten:
»Und darf man von Ihren Antezedenzien vielleicht auch etwas erfahren, Herr Asbest? Auch Sie tragen einen seltenen Namen.«
Herr Asbest hörte auf zu lachen, und langsam trat ein anderer harter Ausdruck in seine Züge.
»Über meine Herkunft wünsche ich keine Auskunft zu geben«, sagte er ausweichend. »Von einem Ragnvald, Wiking, Seeräuber oder Berserker stamme ich jedenfalls nicht ab. Meine Vorfahren beschäftigten sich schon mit dem Alphabet, als die Ihren noch würmerfressende Wilde waren.«
Merkwürdig, daß er unter diesen Umständen die Persönlichkeit mit mir tauschen will, dachte Dr. Renault.
»Im übrigen steht es Ihnen frei, Erkundigungen über meine Firma einzuziehen«, sagte Herr Asbest trocken. »Sind wir fertig?«
Seine Augen überflogen noch einmal den Vertrag und die Unterschrift.
»Haben Sie Ihre Unterschrift mal psychoanalytisch untersuchen lassen, Herr Doktor?« fragte er, während er Dr. Renault prüfend betrachtete, um einen schwachen Punkt an ihm zu entdecken.
Dr. Renault sah ihn nur böse an.
Der Gesprächsstoff schien nun erschöpft. Herr Asbest zog eine alte Schnupftabakdose aus der Tasche, öffnete sie und reichte sie Dr. Renault mit formvollendeter Gebärde. Sie enthielt Zigaretten statt Schnupftabak. Die Dose war aus purem Gold, und auf dem Deckel war eine fleur de lys aus kleinen Smaragden und Diamanten, die wie Reif blitzten. Es war eine ungewöhnlich schöne Tabatiere, ein wenig abgenutzt, wahrscheinlich aus Fragonards Zeit, nach der interessanten, fleischfarbenen Miniature auf der Innenseite des Deckels zu schließen.
»Nachdem Sie eine dieser Zigaretten geraucht haben,« sagte Herr Asbest, »werden Sie vom Tod erwachen und können das Leben von vorn beginnen. Ich gebe meiner Verjüngungsmedizin diese angenehme Form, im Gegensatz zu vielen Ärzten, die asa foetida in die ihre mischen, um sie kräftiger zu machen.«
»Na, na«, meinte Dr. Renault nachsichtig, indem er sich bediente. »Darf man fragen, was ist es für ein wundertätiger Tabak?«
»Eine ganz gewöhnliche Innis.«
Dr. Renault brummte etwas. Die Marke war ihm bekannt, es war die verbreitetste von allen, sogar von Wilden wurde sie geraucht. Seine Lieblingsmarke aber war sie nicht.
»Darf ich mir das Vergnügen machen, Ihnen die Dose als Geschenk anzubieten?« fügte Herr Asbest hinzu, indem er ein Lächeln seines großen beweglichen Mundes zu unterdrücken versuchte.
Dr. Renault nahm die Dose und betrachtete das Bild. Es war gewagt, aber witzig und graziös, ein Kunstwerk. Ausgeschlossen war es nicht, daß es von Fragonards Hand stammte. Er weigerte sich indessen, solch kostbares Geschenk anzunehmen. Herr Asbest bestand darauf, Dr. Renault weigerte sich. Nein, danke, die Tabatiere sei von unschätzbarem Wert. Herr Asbest ließ nicht locker. Sie befanden sich in der Lage von zwei alten Herren, die sich gegenseitig den Vortritt lassen wollen und nicht von der Stelle kommen. Schließlich schob Dr. Renault die Dose von sich und sagte, er lege keinen Wert darauf.
»Ich liebe kein Gold,« sagte er, »ich halte lieber Holz in der Hand.«
Herr Asbest machte ein ungläubiges Gesicht. Einem so exzentrischen Geschmack vermochte er nicht zu folgen.
»Aber das Bild?« sagte er überredend.
»Das Bild kenne ich nun zur Genüge«, sagte Dr. Renault trocken. »Kunstwerke, die einem im Gedächtnis haften bleiben, braucht man nicht zu besitzen. Galerien und Kunsthändler besitzen Kunstgegenstände, Kenner verwahren sie in ihrer Erinnerung. Sind Sie übrigens sicher, daß Ihre Dose echt ist?«
»Aber erlauben Sie mal!« rief Herr Asbest betreten. »Was meinen Sie damit?«
»Beachten Sie das Oval. Ich weiß nicht recht …« Dr. Renault zog eine Grimasse.
»Das Oval?«
Dr. Renault nickte vielsagend und kniff die Lippen zusammen.
»Ich an Ihrer Stelle würde die Dose von einem Kenner untersuchen lassen …«
Herr Asbest warf ihm einen bitterbösen Blick zu, drehte die Dose hin und her und betrachtete sie schweigend. Dr. Renault räusperte sich geräuschvoll und blickte naiv zur Decke. Schließlich aber schienen sie auf andere Gedanken zu kommen. Dr. Renault hielt noch immer die kalte Zigarette zwischen den Fingern.
»Darf ich Ihnen Feuer geben?« sagte Herr Asbest zuvorkommend.
Nebenan war ein Feuer von mehreren tausend Grad Wärme, der seltsame Mann aber entnahm seinem Ranzen einen kleinen Beutel aus rauhem Hirschleder, der aus Wallensteins Zeit zu stammen schien, fischte Stahl und Flintstein heraus und schlug Feuer. Ein ganz schwacher, brenzliger Geruch ging von seinen Händen aus, er steckte ein Stückchen Feuerschwamm, nicht größer als ein Nagel, in Brand und reichte ihn Dr. Renault mit jener vollendeten Hochachtung, die ein Kavalier dem andern schuldet. Von dem qualmenden Zunder ging ein feiner Rauchstreifen aus, der wie tausend Waldbrände duftete.
Dr. Renault zündete seine Zigarette an, inhalierte …
Es war ein ganz gewöhnlicher Tabak, dennoch schmeckte er wie die erste Zigarette des Genesenden, die allererste Zigarette, die man heimlich als Junge geraucht hat. Sie weitete die Brust und breitete sich von der Lunge durch alle Adern. So schmeckt das Leben. Mit einem tiefen, tiefen Atemzug kehrte Dr. Renault ins Leben zurück.
Im Zigarettenrauch sah er Herrn Asbests Rücken durch die glühende Tür verschwinden, die sich vor ihm öffnete und wieder schloß, wuchtig und lautlos wie die Tür eines Geldschranks.
Dr. Renault war es, als erwachte er jetzt erst, nachdem er lange das Gedächtnis verloren hatte, als sei er endlich wieder er selbst geworden.