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Zu der Zeit, als die Arethusa auf dem sonnigen Meer zwischen Afrika und Indien, dem Wendekreis des Krebses und dem Äquator, dahinfuhr, eine Insel der Seligen, beweglich wie St. Brandans, nahm Dr. Renault eines Tages zwei Handlungen vor, die miteinander in Verbindung standen, die eine extravagant und scheinbar sinnlos, die andere ganz alltäglich: er versenkte seine kleine antike Aphrodite-Statuette ins Meer, und begann zu arbeiten.
Eines Tages fragte er Steuermann Bruce bei Tisch: »Wie tief ist das Meer hier?« Eine Passagierfrage, die Bruce großzügig beantwortete: »Oh, etliche tausend Meter.« Das genügte Dr. Renault. Was hier versenkt wurde, würde nicht wieder ans Tageslicht kommen. Am selben Abend begab er sich zum Steven des Dampfers und warf unbemerkt die Bronzefigur über Bord. Die kleine Aphrodite mit den hocherhobenen Armen schwebte lange aus der großen Höhe herab, bis sie mit einem kaum sichtbaren Aufklatschen – hören konnte man es nicht – im Meer verschwand. Sie würde sich tief, tief, durch eine Viertelmeile Wasser hinunterbohren und unter Tiefseefischen mit Laternen auf der Nase, die sie anstießen und mit dummen Mäulern betrachteten, enden. Kein menschliches Auge würde sie je wieder erblicken.
Es war eine Opferung, die Dr. Renault vollzog, eine wohlüberlegte Handlung, die eine Wandlung in seinem Gemüt ankündigte. Er trennte sich von einem Kunstwerk, denn er wünschte nicht, daß es sich noch länger zwischen ihn und das Leben drängen sollte.
Kunst bewahrt Erinnerung an vergangenes Leben, ist Unvergänglichkeit im Bilde. Solange man sich aber dem Leben im Augenblick zu nähern vermag, ist sie nur ein bescheidenes Surrogat. Kunst ist Ausdruck für intensive Lebenslust, der Wunsch, das kurze Leben durch Unsterblichkeit zu überwinden. Ägypter und Griechen haben ihre Seelen in Kunstwerken hinterlassen, Unsterblichkeit, die ihnen selbst versagt war, und nie soll ihnen vergessen werden, daß ihre Gedanken über das Dasein hinausreichten. Wo aber sind sie selbst? Wo ist der Künstler, der vor ein paar Jahrtausenden die kleine Aphrodite goß und seine Sehnsucht weit über die Zeit, die ihm selbst zugemessen war, hinausschweifen ließ? Nicht einmal sein Name ist geblieben.
In Rom hatte Dr. Renault einen unvergeßlichen Eindruck von der kyrenäischen Venus empfangen, der vollendetsten Bildhauerarbeit und schönsten Frauengestalt, die es gibt. Arme und Kopf fehlten ihr. Was der Statue aber fehlte, das hatte er täglich durch Anne Kielstra vor Augen. Sie war wie eine lebendige Restaurierung der klassischen Gestalt, durch Anne Kielstra wurde ihm klar, wie nah die Skulptur der Wirklichkeit kam und wie meilenweit sie noch davon entfernt war!
Die junge Schwimmerin hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der kyrenäischen Aphrodite, als habe sie Modell zu ihr gestanden. Dieselben schlanken Beine von abnormaler Länge, aber bis an die Fußgelenke rundlich und weiblich; dieselbe schlanke Taille mit den gestreckten Lenden und der von Muskulatur umschlossenen Bauchhöhle, den natürlichen Schnürleib; dieselbe von kräftigen Lungen ausgefüllte Brust, hochgebaut mit der Doppelwölbung der hochsitzenden, zarten Brüste, fast ein Überschuß an Fülle in den weiblichen Formen der schlanken kräftigen Gestalt und dennoch edel im Maßhalten. Dann die langen, starken, schlanken Arme mit unsichtbarer Muskulatur, deren runde, fließende Form verborgene Kräfte verriet. Der nußförmige Kopf mit dem kurzgeschnittenen Haar und den langen Gesichtszügen verstärkte durch seine knappe Form noch den Eindruck des Hochgewachsenen der ganzen Gestalt.
Da Frauen meistens kleiner sind als Männer, wirkt eine große Frau wie ein Riese. Anne Kielstra aber war nicht übernatürlich groß, stand sie neben einem normal gewachsenen Mann, dann sah man, daß sie kleiner und zierlicher war. Falls dem Künstler zu der kyrenäischen Venus eine Frau Modell gestanden hatte, so war sie in Anne Kielstras Person zurückgekehrt und wieder lebendig geworden.
Wahrscheinlich hatte der Künstler nach einem Modell gearbeitet, als er die Marmorfigur formte, die viele Zeitalter später in Kyrene gefunden wurde. Wo aber war sie nun, wo war der Künstler? In Athen hatte Dr. Renault sich die Meister der antiken Kunst, ihre Werkstätten, ihre Modelle vorzustellen versucht, die Akropolis mit ihrer Atmosphäre schien ihm ihre Welt nahezubringen. Wie fern aber war sie trotzdem! Siebzig Jahre waren dem Künstler vielleicht beschieden gewesen, das übliche Menschenschicksal. Wenn er Glück gehabt hatte, waren vierzig davon Arbeitsjahre gewesen. Seit zweitausend Jahren aber war er nun schon tot!
Ein paar Jahre hatte das blühende junge Leben, das er modellierte, auf dem Gipfel seiner mädchenhaften Blüte gestanden, die der Bildhauer für ewige Zeiten in seinem Bildwerk aus Marmor festgehalten hatte. Da aber auch auf Marmor kein Verlaß ist, so mußte sie arm- und kopflos in die Unsterblichkeit eingehen.
Der Rest war Vergänglichkeit. An einem kalten Tag hatte Dr. Renault in Athen eine zusammengesunkene, frierende Alte, in einen Sack gehüllt, neben einem Gefäß mit Kohlen sitzen sehen. So hatte auch Aphrodite im Winter ihres Lebens dagesessen, bis die letzte Glut zu Asche verbrannt war. Seit zwei Jahrtausenden, während das Leben von Generation zu Generation weitergegeben wurde, war sie tot!
So brennend verlangt das Leben danach, durch Kunst den Tod zu überwinden, so wenig versteht das Leben des Fleisches, den Augenblick festzuhalten. Sich an Bilder klammern, wenn das Leben in vollem Flor vor deiner Tür steht, ist nichts als Illusion, Armut. Falls man es noch nicht gewußt hat, dann begreift man es, wenn man sich der Grenze des Lebens nähert. Es gibt kein anderes Leben als das Leben selbst, es gibt nur ein Dasein im Fleische. Erinnerungen – es gibt keine Erinnerungen! Auch das letzte Stück des Erdenlebens ist Leben!
Unter solchen Betrachtungen opferte Dr. Renault seinen kleinen bronzenen Abgott dem Meer.
Am selben Abend, nach dem Essen, näherte er sich Anne Kielstra zum erstenmal und stellte sich in Ermanglung gemeinsamer Bekannter selbst vor. Sie grüßte mit ihrem liebreizenden Lächeln, knickste allerliebst wie ein Schulmädchen, die lange Gestalt in einem einfachen Kleid, verlegen, beehrt – warum? Sie errötete, als sie ihm die Hand gab, eine warme, feuchte Mädchenhand, und stand artig da, als würde sie examiniert. Dr. Renault unterhielt sie von den fliegenden Fischen, den Wärmegraden und der Salzhaltigkeit des Wassers auf diesen Breitengraden, und konnte ihr auch ziemlich genau sagen, wie tief das Meer hier sei. Er hätte hinzufügen können, so tief wie das Meer hier war, so tief habe er den Gedanken an jede andere Frau als sie begraben. Er sagte es nicht. Sich Vorteile verschaffen, indem er jungen Mädchen Artigkeiten sagte, war nicht Dr. Renaults Art. Während sie miteinander sprachen, ruhte sein Blick mit einer Macht auf dem jungen Mädchen, daß es sich kaum zu rühren wagte. Als sie sich nach glücklich überstandener Zwiesprache trennten, war der alte gewandte Arzt, der gewohnt war, mit Menschen umzugehen, nicht weniger verwirrt als das unerfahrene junge Mädchen.
Er hatte ihre Hand einen Augenblick in der seinen behalten und den Strom zwischen seiner und ihrer Lebenswärme geschlossen. Während sie sich entfernte, spürte er ihre Süße noch bis ins Herz hinein. Wie das Blut in ihr pulsierte, wie es in ihrem Gesicht, ihren Händen, ihrer Haut glühte, sogar in ihrem Augapfel hatte er die Glut gesehen, als sie errötete! Wie empfänglich war sie für Eindrücke, weil sie jung war, wie waren ihre Nerven und Gefäße empfindsam! Blutwellen durchschossen sie, und Mädchenschweiß brach ihr aus den Poren, nur weil sie sich beobachtet fühlte. So jung war sie, so lebensvoll! Zarte Wärme strahlte aus ihrer Haut, Botschaft von einer Frau, wie die Ausstrahlung eines Himmelskörpers. Man konnte Dr. Renault ansehen, daß er in ihren Bann geraten war. Er entfernte sich, aber wie in einer Hyperbel, die ihn sicher wieder zu dem Punkt, der ihn angezogen hatte, zurückführen würde.
Falls es wirklich etwas gab, was man die Empfangstunde der Frau nennt, so war ihre Zeit gekommen. Das Leben glühte nicht heimlich in ihr, es strahlte förmlich aus ihren Poren.
Als Dr. Renault allein in seiner Kabine war, setzte er sich an die Arbeit. Er wollte eine Analyse der Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern, den physiologischen und psychologischen Zusammenhängen schreiben.
Schon früher hatte es ihn gereizt, dieses Problem zu durchdringen, doch hatte er sich aus Ekel vor dem gemeinen, erhitzten und exaltierten Gemütszustand, der den Vorgang der Fortpflanzung zu begleiten pflegt, davon abhalten lassen. Nun aber hatte er sich entschlossen, im eigenen Interesse das Problem aufzunehmen, um sich über Kräfte klarzuwerden, die so entscheidend in das Leben des Individuums eingreifen, weil sie gleichzeitig das Leben von Generationen bestimmen. Ob das Geschlechtsleben sich in Form von Liebe, Leidenschaft, Hurerei oder durch Schlimmeres, wie Prostitution und Ausschweifung, äußert, der Wirkung selbst kann sich kein Mensch entziehen, auch wenn man darüber schweigt. Einer Naturkraft, von der das Leben selbst abhängt, kann keiner aus dem Weg gehen.
Zuerst schrieb Dr. Renault die Exposition. Er wollte den Stoff von zwei Seiten beleuchten und dann von einem gemeinsamen Gesichtspunkt aus behandeln. Die animalische Seite, das biologische Problem, sollte bis an die Wurzel zurückgeführt, das seelische bis an die Grenze des Bewußtseins verfolgt werden. Die physiologischen Untersuchungen würden ihn auf eine Spur führen, die ihn bereits vor Jahren interessiert hatte.
In das seelische Problem meinte er nur eindringen zu können, falls er aus eigenen Erfahrungen schöpfte, vorausgesetzt, die Erfahrungen waren allgemeingültiger Natur und gingen nicht darüber hinaus. Er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, auf welche Weise sich das Geschlechtsleben durch sämtliche Entwicklungsstufen, von der Jugend bis zum Alter, äußerte. Der Unterschied, man konnte fast sagen, die Verwandlung, war so einschneidend, daß es fast unmöglich schien, die erste und letzte Stufe könnten innerhalb der Lebensalter ein und desselben Individuums Raum finden.
Die Entwicklungslinie des Individuums spiegelt gleichzeitig auch verschiedene Stadien der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Mit dem Studienfeld aber, das vorlag, mußte man die Untersuchungen ontogenetisch angreifen, die Entwicklung innerhalb des Individuums verfolgen. Falls er aus seinem persönlichen Erfahrungskreis schöpfen wollte, mußte er seine Memoiren schreiben, von einem bestimmten psychologischen Gesichtspunkt aus. Das Thema lockte ihn nur rein wissenschaftlich, sich ihm nähern, hieß in Nesseln greifen. Doch hing vieles von der Behandlung des Themas ab; Häßliches ließ sich in der Sprache vermeiden. Er entschloß sich, seine Memoiren zu schreiben.