Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Unter dem Diskurse konnt' ich tiefere Blicke in die elysäischen Felder der Stube werfen. Sie war eine gleißende, gebohnte, gewaschene, bevölkerte Villa voll weiblicher Kunstwerke, eine völlige Hofhaltung einer regierenden Hausfrau, Metzger schien nur die Krone, sie den Zepter zu tragen. Der Großvater oder das Herrlein schnarchte im Großvaterstuhl unter den olympischen Spielen der Kinder. – Der Geselle hobelte eine hölzerne Bäuerin zur galanten Frau hinauf, indem er das überflüssige Rockblätter-Holz abraspelte. – Auf dem Schiefertische multiplizierte der älteste Sohn die Einwohner Nürnbergs mit sich selber mit Kreide und erlustigte sich am breiten Multiplizierexempel voll Nullen. – Hinten am Ofen stand der funkelnde Nordschein der kupfernen »Prangkuchen«, d. i. Prunkküche, und der Backtrog erhielt eine gelinde Wärme auf morgen. Der Patrizier kroch um die rüstige redselige Meisterin wie ein Ohrwurm um die Nelke und machte immer, daß sie sich lobte: »Ich knete alles selber«, sagte sie, »und lasse keine Magd über den Backtrog.« Man sieht, er wollte mit ihr als mit einer Zuckerzange Georgetten fassen. Aber die Kinder, die ein buntes Brett voll hölzerner Könige und vornehmer Leute vor sich hatten, kamen immer störend und baten sie, den Vater zu bewegen, daß er die Vögel hineinließe. »So tu es nur«, sagte sie zum Alten, der sogleich willfährig und ohne zu wissen, was er tat, die Vogelbauer herabnahm. Die Kinder hüpften und schrien: »Die Vögel! die Vögel!« Aber die Mutter ließ nichts machen, bis die Kinder vorher mit dem »Fatscheinlein« (dem Schnupftuch), das sie reichte, gearbeitet hatten. Nun hätten die Leser Augenzeugen des Jubels sein sollen, welchen die Kleinen erhoben, als der Drechsler ein Pförtchen am Steiße eines jeden Mitgliedes der hölzernen Korporation aufzog und in eine Figur nach der andern einen Vogel statt der Seele springen ließ und sie dann mit dem Sphinkter zusperrte; – aber den höchsten Grad erstieg die Lust, da vollends der König – worein er einen Zaunkönig gelassen, damit der Zwerg-Insasse in der Figur heftiger arbeitete – und der Dompropst – weil er der dickste war, mußte ein Dompfaff oder Gimpel hinein – und der Minister mit einem Stern – von einer hackenden Kohlmeise bewegt – und viele Kammerherren – mit ihren inwohnenden Spatzen – und eine Königin mit ihren zwei Hofdamen – welches Kleeblatt man zusammengeleimt und durch innere Kommunikationsgräben so weit ausgehöhlet hatte, daß sie alle drei von einem Vogel, einem Starmatz, zu regieren waren, und daß die Hofdamen allzeit, wenn der Bauchredner etwas sagte, wie die Königin zu reden schienen – – ich sage, die höchste Lust entstand, da diese große (obwohl kleine) Welt, von ihrem Gevögel beseelt, mit den Köpfen schüttelte, damit nickte, dann krächzete und plapperte, die Arme und Beine regte, Schnäbel statt der Zungen gegeneinander ausstreckte und kurz alle Lebensbewegungen vermittelst der Konklavisten so niedlich nachmachte, daß die Kinder glaubten, alles sei lebendig und wahr. – Ein unschuldiger Spaß, sobald man nur das inhaftierte Geflügel bald wieder herausfängt! – – Bei der Göttin des Glücks! sollte man denken, daß die Maschine, womit die höhern Stände ihre Glückseligkeit weben, aus so vielen Stücken wie ein Strumpfwirkerstuhl zusammengesetzt wäre, nämlich aus drittehalbtausend, wenn man sieht, daß man in den niedern nichts dazu braucht als eine Stricknadel und ein Knäul? –

Ich horchte eben nach der Alten hin, die unter dem Puppenspiel zweimal zum Patrizier gesagt hatte. »Sie schläft wahrlich: sahen Sie denn Licht?« – als plötzlich mein Stuß mit hereingekehrtem Gesicht um das Fenster und in die Stube rannte und rief: »Ich suche Sie in der ganzen Stadt, Herr Graf vorn Bataillon: hier sitzt sie bei meinem Meister.« – Die ganze Stube staunte. – »Die Gräfin Georgette?« (sagt' ich) »es ist meine leibliche Tochter« – und sah den Patrizier an. Stuß war schon vorher dagewesen und hatte alles erfahren. Der Drechsler zog wie ein Merkur die Seelen oder Vögel aus ihren Leibern. Kökeritz sah mich – denn ich blühe – skeptisch an. Dem Mütterchen gab ich den Paß, es sollte ihn hinauftragen, damit ich vor sie könnte. Das alte Herrlein wurde unter uns Tumultuanten wach und konnte sich in nichts finden. Die Alte trippelte fort und verhieß, zu wecken. Der Tierkreisträger ritt mit den Augen um mich und den Boten rekognoszieren.

Endlich tat die Mutter wieder die Türe ein wenig auf und rief mich hinaus. Draußen sagte sie mit eiliger Beredsamkeit, »Georgette lese den Paß und schlafe nicht – sie brenne nur aus Armetei kein Licht – sie sperre sich vor Sr. Gnaden (Kökeritz) ein, der ihr für seine Weste statt der Bezahlung ein großes Geschenk geben wolle – sie nehme aber nichts – sie sei bettelstolz und esse lieber Wassersuppen, als daß sie bettle.« – In einem Atem lobte und tadelte sie, und zwar beide Personen zugleich. Ich flog vor ihrem Lichtchen voraus ins dunkle Stübchen, um dem Mädchen durch drei Worte den Aufschrei des Schreckes zu ersparen, daß ich ein Fremder sei. Sie lief im Finstern auf mich zu und rief umarmend: »Oh, mon pere, mon pere cheri!« – Mich erweichte und erschreckte der schöne Irrtum der Liebe, und ich ernährte ihn durch den Doppelsinn der Anrede. Aber während ich in der höchsten Not in allen Gemächern meines Gehirns herumgriff nach einem Doktor Fausts-Mantel, nach einem Gyges-Ring, der mich unsichtbar machte: während diesen Nöten wurden sie noch tausendfach erhöht und ich noch näher besehen und beleuchtet erstlich durch das Licht und zweitens durch den gestirnten Narren, die beide die Treppe heraufkamen.

Mitten in unserer Eile müssen wir uns doch alle einige Minuten bei den Ursachen aufhalten, die den Verderben drohenden Schwanzstern, den Patrizier, über den Horizont heraufzogen. Drunten in der Drechslersstube hatte dieser Unglücksstern aus Argwohn, während die Mutter draußen mehr Worte als Schritte mit mir machte, den nicht sonderlich gewandten Stuß, der weniger vom Argus als von dessen Weidetiere an sich hatte, listig abgehört. Stuß ging verlegen herum und an eine abgelaufene Wanduhr: »Nur aufgezogen!« sagte Kökeritz, denn es war eine Vexieruhr. Als der Hornrichter das Uhrgewicht, so gut er konnte, aufzog und sein Gesicht (worauf er mehr Gedankenstriche hatte als hinter demselben Gedanken) wartend gegen das Zifferblatt zukehrte: so zersprang es in zwei Flügeltürchen, und ein herausprellender Fuchsschwanz legte sich über sein ganzes Gesicht. Im Zurückfahren und Zurückschaudern rief er mich bei meinem wahren Namen zu Hülfe; und als man ihn darüber befragte, gab er das responsum prudentis, er habe nur den Grafen von dem Bataillon gemeint. Der Frühlingszeichen-Träger und Zeichendeuter mutmaßte sofort, hinter der Sache stecke etwas, und ich sei ein Spitzbube wie er und weniger der Vater als der Galan der Gräfin – worin ihn mein jugendliches belebtes Ansehen nur noch mehr bestärkte. –

Der Leser gehe nun mit mir wieder in den feurigen Ofen zurück, worin ich brenne. Das Licht und Kökeritz als ein neuer Einheizer standen auf der Schwelle. – Aber in der Angst kann man nicht nur mehr als sonst schleppen, sondern auch erfinden. Ich zog mit der Rechten den von ihrem Vater abgeschickten Fächer mit dem Bilde ihres Liebhabers aus der Tasche – indes ich mit der Linken ihren Kopf immer so an mein Herz andrückte, daß sie ihn daran nicht aufheben und mich beschauen konnte – dann faltete ich mit den Fingern den Fächer auf und deckte ihn aufgespreizt vor mein Gesicht, hielt ihr aber die Innenseite mit dem des Liebhabers vor und lispelte ihr während meiner Unsichtbarkeit und ihrer Anschauung in die Ohren: »sie entgehe den größten Gefahren von seiten des Patriziers, wenn sie sich für meine Tochter nur so lange ausgebe, bis er fort sei; denn ich hätte bloß Bestellungen von ihrem Herrn Vater an sie.« – Die Arme, die in dieser Minute ihren Vater verlor, prallte mit einem: »O mon Dieu« zurück – kam, als sie mich ansah, einer Ohnmacht nahe, die ich mehr ihrer dürftigen entnervenden Diät als meiner Physiognomie beimesse, und setzte sich schwankend und gebrochen nieder. Ich sehe die liebe kurze dünne blasse, etwas spitznäsige Figur noch, wie sie dort sitzt und mit dem Fächer sich anfangs der Ohnmacht wegen und nachher des Zornes wegen frische Luft zutreibt. »Heftige Bewegungen sowohl der Freude als des Schmerzens«, sagt' ich zu den Zuschauern, »griffen sie schon in der Kindheit bei ihren feinen Nerven heftig an.« – »Beide?« fragte Kökeritz.

Nun war ich hauptsächlich verbunden, so viel Lausewenzel zu rauchen, bis diese Blattlaus tot vom blühenden Gewächse vor mir herabfiel. Ich stellte die Patentpomade auf den Tisch – schlug meinen Grafen-Paß auseinander, damit der Patrizier einen neugierigen zufälligen Blick hineinwürfe – und sagte kalt: »Ist Ihnen etwas von mir oder von meiner Tochter beliebig?« –»Ah,« sagte der zweideutige Filou, »c'est donc votre fille, ou à peu-pràs?« – »Comment, ou à peu-près?« sagt' ich mit einem Mischling von Neugier und Zorn auf dem Gesicht. »Parceque je l'ai cru votre soeur ou à peu-près«, versetzt' er. Georgette fing an zu weinen und sagte – ich weiß nicht ob zu ihm oder zu uns beiden –: »Vous dechirez mon coeur et mon honneur.«

Jetzt mußt' ich entsetzlich toll über den Patrizier werden – erstlich um einen ordentlichen aufprasselnden Franzosen zu machen – zweitens weil ichs wirklich war, da er mich und sie, eine doppelte Unschuld, zugleich anfiel – und drittens aus folgendem Grund. Am Tage der Verlobung – der Vermählung gar – macht man bei dem ersten fremden Mädchen, auf das man trifft, mit einem besondern Gefühle die Entdeckung, daß es einen Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft gebe, und daß das ganze weibliche Geschlecht, das man sonst in seine Augen, wenn nicht in seine Arme zu fassen suchte, eingelaufen sei auf eine –; wird nun einem Manne das seltene Glück zuteil, das ich am Sonntag hatte, eine ungemein zärtliche Empfindung, aber von einer Gattung, welche nicht mit der ehelichen Liebe kollidieret – wohin elterliche zuerst einschlägt –, für ein liebes Herz, das unter einem Shawle schlägt, aufzubringen und festzuhalten: so setzt er sich, ungeachtet der ehelichen Lebenswärme, in die laue Abendsonne eines so milden Gefühls so lang und breit, als er nur kann, hinein und rückt immer aus dem Schatten. Die kindliche Liebe, womit sich das erschrockne Lamm an meinen Hals gehangen, machte väterliche in mir natürlich und rege; und mit größerer Erbitterung als sonst exerziert' ich die hohe Gerichtsbarkeit über Hals und Hand an jenen Spitzbuben, welche die niedere an den schönen weiblichen Hälsen und Händen üben, jene Perlenfischer, die den lieben Wesen, wie Perlenmuscheln, nur die Perle, nämlich ihr Herz oder gar ihre Ehre, ausbrechen, um sie nachher leer und wund auf die Perlenbank zurückzuwerfen.

Kurz ich tobte folgendermaßen:

Gleich einer losgezündeten Pulverschlange fuhr ich in der Stube herum und sagte. »Peste! – Herr, Sie kennen meine Tochter nicht – Glauben Sie, weil eine Emigrantin Ringe macht, daß sie alle annimmt? – Oder daß ich wie der Drechsler drunten die heilige Geistes-Taube schwarz anfärbe für eine Muhammeds-Taube wie Sie? – O hätten wir uns nur auf anderem Boden! – Ah qu'est-ce-que de nous! – pillés en France, deshonorés en Allemagne – nous sommes tour-à-tour en proie aux Vendeurs de la chaire humaine er aux Anthropophages, qui la dechirent.«Vendeur de la chaire humaine heißet ein Seelenverkäufer. Die arme Georgette konnte, ob sie gleich nicht wußte, wer ich war, doch ihren Erinnerungen an die Wahrheit dieser Klagen und ihrem weinenden Herzen nicht widerstehen und machte mich dadurch wilder und weicher zugleich.

»Monsieur,« (fing ich mit einem ganzen Vorrat von Atem an) »Sie sind hier in diesem Zimmer – Sie sehen meine Tochter – Sie sehen ihren Vater und dessen Glatze, den Beweis seiner Jahre – Sie lieben, hoff' ich, die Tugend«... »O qu'oui,« sagte der Spitzbube, »mais j'aime encore plus les femmes qui la logent.« – Da Georgette aufstand, konnt' ich nur eilig zu ihm sagen: »Diable!« und kehrte mich gegen sie und nahm ihre kleine bebende Hand und sagte: »Recht, traute Tochter, begib dich zur Ruhe – du bist ein Engel, aber ohne Himmel – träume von einem – morgen komm' ich wieder, Beste! – Was gibt es noch?« schrie ich, als der Patrizier ans Fenster ging und Geld aufzählte. »Ich will bloß Mademoiselle für die Zwillinge bezahlen«, sagt' er mit persiflierendem Tone und zeigte auf seine. Entsetzlich aufgebracht sagt' ich voll Milde: »Das ist etwas anders. Den kleinen Kastor und Pollux auf Ihrer Weste wollen wir selber gegeneinander im Großen machen und friedlich heimziehen,« und fassete dabei stark genug seine Wachshand in meine Götzens-Hand – ich bin nicht schwach – wie in eine Kompressionsmaschine und führte ihn unter zu warmem Pressen derselben zur Türe hinaus. »Sind Sie«, fragt' er zornig auf der Treppe, »ein Richter?« – »In Sachen meiner Tochter« – antwortet' ich absichtlich in die Quere und verdoppelte mit der Quetschform den Druck der Hand – »kann ichs sein; und die Grafen waren und hießen ja bei Ihren alten Deutschen allzeit Richter.« Mein Bote kam aus der Stube, und so zogen wir drei aus dem Hause – und vorbei war der letzte April.

Aber noch erglüh' ich, wenn ich daran denke. Es wird für uns alle ein Kühltrank sein, wenn ich hier das syrische Schreiben über den Wanderungstrieb der Edelleute und Patrizier gebe.

Siebenkäs erzählt nämlich S. 484, er sei in Haleb sehr verdrüßlich mit einer Windbüchse auf dem Dache umhergekreuzt und habe bloß aus Verdruß, als die Mittwochspost (eine Bruttaube) gerade über seinen Kopf wegflog, die Briefträgerin herabgeschossen – er habe darauf die Post beraubt und ihr das an die Schwanzfedern gebundne Felleisen abgeschnitten – und die Briefschaften hätten in einem Briefe bestanden, den ein Mönch aus einem Kloster der Stadt an eine Nonne in einer fernen Gasse geschrieben, um ihr Naturgeschichte beizubringen. Die Nonne machte der Inspektor dadurch zu einem Studenten, der Kollegien aussetzt, um auf seine nachgeschriebnen Hefte durch hiatus sogar die Gestalt des Altertums zu prägen.

Aus Mangel an syrischen Lettern kann ich den Lesern das syrische Schreiben nur in meiner schlechten Übersetzung geben: denn Syrisch ist meine Stärke nicht.


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