Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Einundfunfzigster oder 3ter Freuden-Sektor

Sonntagmorgen – offne Tafel – Gewitter – Liebe

Welch ein Sonntag! – Heut ist Montag. Ich weiß kein Mittel, mich, der ich (wie wir alle durch unser Isolieren) ein Freuden-Elektrophor geworden, auszuladen als durch Schreiben, ich müßte denn tanzen. Gustav hör' ich herüber: der hat zum Auslader einen Flügel und spielt ihn. Der Flügel wird mir diesen Sektor sehr erleichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich hab' mir oft gewünscht, nur so reich zu werden, daß ich mir (wie die Griechen taten) einen eignen Kerl halten könnte, der so lange musizierte, als ich schriebe. – Himmel! welche opera omnia sprössen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnügen, daß, da bisher so viele poetische Flickwerke (z. B. die Medea) der Anlaß zu musikalischen Meisterwerken waren, sich der Fall umkehrte und daß musikalische Nieten poetische Treffer gäben. –

Vor Tags machten wir uns gestern aus dem Bette, ich und mein musikalischer Souffleur. »Wir müssen«, sagt' ich zu ihm, »vier volle Stunden draußen herumjagen, eh' wir in die Kirche gehen« – nämlich nach Ruhestatt, wo der vortreffliche Herr Bürger aus GroßenhaynSeine vor einem Jahre gedruckten Predigten werden nach dem Geschmack eines jeden sein, der meinen hat. als Gastprediger auftreten sollte. Alles geschah. Bis diese Stunde weiß ich nicht, zieh' ich eine laue Sommernacht oder einen kalten Sommermorgen vor: in jener rinnt das zerschmolzene Herz in Sehnen auseinander; dieser härtet das glühende zur Freude zusammen und stählet sein Schlagen. Unsere vier Stunden zu palingenesieren – müßte man aus hundert Lust- und Jagdschlössern die Minuten dazu zusammentragen, und es hinkte doch. Die Morgendämmerung ist für den Tag, was der Frühling für den Sommer ist, wie die Abenddämmerung für die Nacht, was der Herbst für den Winter. Wir sahen und hörten und rochen und fühlten, wie allmählich ein Stückchen vom Tag nach dem andern aufwachte – wie der Morgen über Fluren und Gärten zog und sie wie vornehme Morgenzimmer mit Blüten und Blumen räucherte – wie er sozusagen alle Fenster öffnete, damit ein kühlender Luftzug den ganzen Schauplatz durchstriche – wie jede Kehle die andre weckte und sie in die Lüfte und Höhen zog, um mit trunkner Brust der steigenden vertieften Sonne entgegenzufliegen und entgegenzusingen – wie der bewegliche Himmel tausend Farben rieb und verschmolz und den Faltenwurf seiner Wolken versuchte und färbte.... So weit war der Morgen, da wir noch im tauenden Tale gingen. Aber als wir aus seiner östlichen Pforte hinaustraten in eine unabsehliche, mit wachsenden Girlanden und regem Laubwerk musivisch ausgelegte Aue, deren sanfte Wellenlinie in Tiefen fiel und auf Höhen floß, um ihre Reize und Blumen auf und nieder zu bewegen; als wir davor standen: so erhob sich der Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Ostwind ging neben ihm und die große Sonne stand und schlug wie ein Herz am Himmel und trieb alle Ströme und Tropfen des Lebens um sich herum. – –

Gustav spielt eben sanfter, und seine Töne halten meinen noch immer leicht in hypochondrische Heftigkeit übergehenden Atem auf. –

Als jetzt die Mühle der Schöpfung mit allen Rädern und Strömen rauschte und stürmte: wollten wir in süßer Betäubung kaum gehen, es war uns überall wohl; wir waren Lichtstrahlen, die jedes Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen mit der Biene und Ameise und verfolgten jeden Wohlgeruch bis zu seiner Quelle und gingen um jeden Baum; jedes Geschöpf war ein Pol, der unsere Nadel zu Abbeugungen und Einbeugungen lenkte. Wir standen in einem Kreis von Dörfern, deren Wege alle mit fröhlichen Kirchgängern zurückkamen und deren Glocken die geistige Messe einläuteten. Endlich zogen wir auch der wallfahrtenden Andacht nach und zur Kirchtür der kühlen Ruhestätter Kirche hinein.

Wenn ein Maitre de plaisirs einem Fürsten eine Operndekoration vorschlage, die aus einer aufziehenden Sonne, tausend Leipziger Lerchen, zwanzig läutenden Glocken, ganzen Fluren und Floren von seidnen Blumen bestände: so würde der Fürst sagen, es kostete zu viel – aber der Freudenmeister sollte versetzen: einen Spaziergang kostets – oder eine Krone, sag' ich, weil zu einem solchen Genuß nicht der Fürst, sondern der Mensch zulangt.

In der Kirche ließ ich mich auf dem Orgelstuhl nieder, um die plumpe Orgel zu kartätschen zum Erstaunen der meisten Seelen. Als Gustav in eine adelige Loge trat, saß in der gegenüberstehenden – Beata; denn eine Predigt war ihr so lieb als einer andern ein Tanz. Gustav bückte sich mit niederfallenden Augen und aufströmender Röte vor ihr und war tief gerührt über die blasse gekränkte Gestalt, die sonst vor ihm geglühet hatte – sie wars gleichfalls von der seinigen, auf der sie alle traurige Erinnerungen las, die in ihre oder seine Seele geschrieben waren. Ihre vier Augen zogen sich vom Gegenstand der Liebe zu dem der Aufmerksamkeit zurück, auf Herrn Bürger aus Großenhayn. Er fing an; ich hatte als zeitiger Organist vor, gar nicht auf ihn acht zu geben – ein Kantor macht sich aus einer Predigt so wenig wie ein Mann von Ton –; allein Herr Bürger predigte mir mit den ersten Worten das Choralbuch aus der Hand, worin ich lesen wollte. Er trug die Vergebung der menschlichen Fehler vor – wie hart die Menschen auf der einen, und wie zerbrechlich sie auf der andern Seite wären; wie sehr jeder Fehler sich ohnehin am Menschen blutig räche und gleich einem Nervenwurme den durchfresse, den er bewohne, und wie wenig also ein anderer das Richteramt der Unversöhnlichkeit zu verwalten habe; wie wenig es Verdienst habe, Unvorsichtigkeiten, kleine oder zu entschuldigende Fehler zu vergeben, und wie sehr alles Verdienst auf Übersehung solcher Fehler, die uns mit Recht erbitterten, ankomme etc. Da er endlich auf das Glück der Menschenliebe zeigte: so ruhte das brennende und strömende Auge Gustavs unbewußt auf Beatens Antlitz aus; und als endlich ihre Augen sich, dem Pfarrer zugekehrt, mit der wahren Kummer- und Freuden-Auflösung anfüllten und als sie unter dem Abtrocknen sie auf Gustav wandte: so öffneten sie sich einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein, und ein vorüberfliegender Augenblick des zärtlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den Augen zusammen.... Aber plötzlich suchten sie wieder den alten Ort, und Beata blieb mit ihren an der Kanzel.

Ich kanns nicht behaupten, ob er, Herr Bürger, diese nützliche Predigt schon unter seine gedruckten getan oder nicht; gleichwohl soll mich dieses Lob nicht hindern zu gestehen, daß seinen an sich guten Predigten eigentliche Kraft einzuschläfern vielleicht fehle, ein Fehler, den man sowohl beim Lesen als beim Hören wahrnimmt. Hier will ich zum Besten andrer Geistlichen einige Extraseiten über die falsche Bauart der Kirchen einschichten.

Extraseiten über die falsche Bauart der Kirchen

Ich hab' es schon dem Konsistorium und der Bauinspektion vorgetragen; aber es verfängt nichts. Wir und sie wissen es alle, daß jede Kirche, eine Kathedral-Kirche so gut als ein Filial, für den Kopf oder das Gehirn der Diözes zu sorgen habe, d. h. für den Schlaf derselben, weil nach Brinkmann jenes nichts so stärkt als dieser. Es wäre lächerlich, wenn ich mich hersetzen und erst lange ausführen wollte, daß dieser desorganisierende Schlaf auf eine wohlfeilere Art und für weniger Pfennige und Opium als bei den Türken zu erregen steht; denn unser Opium wird wie Quecksilber äußerlich eingerieben und hauptsächlich an den Ohren angelegt. Nun ist niemand so gut wie mir bekannt, was man in der ganzen Sache schon getan. Wie man in Konstantinopel (nach de Tott) besondere Buden und Sitze für die Opiumesser, aber nur neben den Moscheen hat: so sind sie bei uns darin und heißen Kirchenstühle. – Ferner brennen ordentliche Nachtlichter auf dem Altar. Die Fensterscheiben haben in katholischen Tempeln Glasgemälde, die so gut wie Fenstervorhänge Schatten geben. Zuweilen sind die Pfeiler so geordnet oder vervielfältigt, daß sie zur kirchlichen Dunkelheit mithelfen, die der Zweck des Schlafens so sehr begehrt. Da die Schlafzimmer in Frankreich lauter matte glanzlose Farben haben: so ist in dem großen kanonischen Schlafzimmer wenigstens insofern für den Schlaf gesorgt worden, daß doch die Teile der Kirche, auf die das Auge sich am meisten richtet, Altar, Pfarrer, Kantor und Kanzel, schwarz angestrichen sind. Man sieht, ich unterdrücke keinen Vorzug, und es ist nicht Tadelsucht, wenn ich tadele. –

Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einem wahren Dormitorium. Ich stand (ich könnt' auch sagen: ich lag) in Italien und auch in Paris in mehren Theaterlogen, die vernünftig eingerichtet und möbliert waren: man konnte darin (weil alles dazu da war) schlafen, spielen, pissen, essen und mehr...... Man hatte seine Freundinnen mit. Das haben nun die Großen gewohnt; wie will man ihnen ansinnen, sie sollen in die Kirche fahren und darin schlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freuden als den Schlaf verschafft? – Beim tiers état, beim Bauer und Bürger, selber beim Bürgermeister-Kollegium, das sich die ganze Woche matt votiert, ists kein Wunder, sondern freilich leicht dahin zu bringen, daß sie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor entschlafen; ich leugn' es nicht; aber der Libertin, der Schläfer auf Eiderdunen, wird euch (und predigte ein Konsistorialrat) auf keinem bloßen Sessel schlafen; er geht daher lieber in keine Kirche. Für solche Leute von Ton müssen daher ordentliche Kirchenbetten in den Logen aufgeschlagen werden, damit es geht; so wie auch Spieltische, Eßtische, Ottomanen, Freundinnen u. dergl. in einer Hofkirche so unentbehrliche Dinge sind, daß sie besser an jedem andern Orte mangeln könnten als da.

Man kann es also, ohne mich und die Wahrheit zu beleidigen, kein Schmeicheln nennen, wenn ich verfechte, daß bloß die dumme Kirchen-Architektur und der Mangel alles Haus- und Kirchengeräts, aller Betten etc. daran schuld sind, nicht aber die gut und philosophisch oder mystisch ausgearbeiteten Predigten geschickter Hof-, Universität-, Kasernen- und Vesper-Prediger, wenn die Leute von Stand weit weniger darin schlafen können, als man sich verspricht.

Ende der Extraseiten


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