Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Lilien – Waldhörner – und eine Aussicht sind die Todes-Anzeigen
Auf allen meinen Gedächtnisfibern (diesen Denkfäden und Blättergerippen von so manchem schlechten Zeug) schläft keine schönere Sage als die aus dem Kloster Corbey: – wenn der Todesengel daraus einen Geistlichen abzuholen hatte: so legte er ihm als Zeichen seiner Ankunft eine weiße Lilie in seinem Chorstuhl hin. Ich wollt', ich hätte diesen Aberglauben. Unser sanfter Genius ahmte dem Todesengel nach und sagte dem Kleinen: »Wenn wir eine Lilie finden. so sterben wir bald.«Wie alsdann der Himmellustige, der noch keine gesehen, überall darnach suchte! Einmal, da sein Genius ihm den Genius des Universums nicht als ein metaphysisches Robinets-Vexierbild, sondern als den größten und besten Menschen der Erde geschildert hatte: zog sich ein nie dagewesenen Wohlgeruch um sie herum. Der Kleine fühlt, aber sieht nicht; er tritt zur Klause hinaus und – drei Lilien liegen da. Er kennt sie nicht, diese weißen Juniuskinder; aber der Genius nimmt sie entzückt von ihm und sagt:»Das sind Lilien, die kommen vom Himmel, nun sterben wir bald.« Ewig zitterte die Rührung nach spätern Jahren noch vor jeder Lilie in Gustavs Herzen fort, und gewiß gaukelt einmal in seiner wahren Todesstunde eine Lilie als das letzte glänzende Viertel der verlöschenden Monderde vor ihm.
Der Genius hatte vor, ihn am ersten Junius, seinem Geburttage, aus der Erde zu lassen. Aber um seine Seele noch höher zu spannen (vielleicht zu hoch), ließ er ihn in der letzten Woche noch zwei heilige Vorfeste des Sterbens erleben. – Als er ihm nämlich die Seligkeiten des Himmels, d. h. der Erde mit seiner Zunge und mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlichkeiten der Himmel- und Sphärenmusik: so endigte er mit der Nachricht, daß oft schon zu Sterbenden, die noch nicht oben wären, dieses Echo des menschlichen Herzens hinuntertönte und daß sie denn eher stürben, weil davon das weiche Herz zerflösse. In das Ohr des Kleinen war Musik, diese Poesie der Luft, noch nie gekommen. Sein Lehrer hatte längst ein sogenanntes Sterbelied gemacht; in diesem bezog natürlicherweise Gustav alles, was es vom zweiten Leben sagte, auf das erste, und sie lasen es oft, ohne es zu singen. Aber in der letzten Woche erst fing der Genius auf einmal an, seine milde Lehrstimme zu der noch weichern Singstimme des herrnhutischen Kirchengesanges zu verklären und das sehnsüchtige Sterbelied vorzutragen, indes er durch Veranstaltungen sich oben von einem Waldhorne – dieser Flöte der Sehnsucht – begleiten ließ; und die ziehenden Adagio-Klagen sanken durch die dämpfende Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein warmer Regen nieder....
Gustavs Auge stand in der ersten Freudenträne – sein Herz drehte sich um – er glaubte, nun stürb' es an den Tönen schon.
O Musik! Nachklang aus einer entlegnen harmonischen Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort sprachlos ist, und die Umarmung, und das Auge, und das weinende, und wenn unsre stummen Herzen hinter dem Brust-Gitter einsam liegen: o so bist nur du es, durch welche sie sich einander zurufen in ihren Kerkern und ihre entfernten Seufzer vereinigen in ihrer Wüste! –
Wie bei einem wahren Sterben näherte der Genius seinen Zögling in diesem nachgeahmten auf der Stufenleiter der fünf Sinne dem Himmel. Er schmückte den scheinbaren Tod zum Vorteile des wahren mit allen Reizen aus, und Gustav stirbt einmal entzückter als einer von uns. Anstatt daß andere uns die Hölle offen sehen lassen: verhieß er ihm, er werde wie Stephanus an seinem Sterbetage den Himmel schon offen sehen, eh' er in ihn aufsteige. – Dies geschah auch. Ihr unterirdisches Josaphats-Tal hatte außer der erwähnten Kellertreppe noch einen langen waagrechten Kreuzgang, der am Fuße des Bergs ins Tal und ins Dörfchen darin offen stand, und den zwei Türen in verschiedenen Zwischenräumen versperrten. Diese Türen ließ er in der Nacht vor dem ersten Junius, als bloß die weiße Mondsichel am Horizonte stand und wie ein altergraues Angesicht sich in der blauen Nacht nach der versteckten Sonne wandte, mitten in einem Gebete unvermerkt aufziehen – – und nun siehst du, Gustav, zum ersten Male in deinem Leben und auf den Knien in das weite, 9 Millionen Quadratmeilen große Theater des menschlichen Leidens und Tuns hinein; aber nur so wie wir in den nächtlichen Kindheitjahren und unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen Mücken überhüllte, blickest du in das Nachtmeer, das vor dir unermeßlich hinaussteht mit schwankenden Blüten und schießenden Feuerkäfern, die sich neben den Sternen zu bewegen scheinen, und mit dem ganzen Gedränge der Schöpfung! – – O! du glücklicher Gustav; dieses Nachtstück bleibt noch nach langen Jahren in deiner Seele wie eine im Meere untergesunkne grüne Insel hinter tiefen Schatten gelagert und sieht dich sehnend an wie eine längstvergangne frohe Ewigkeit.... Allein nach wenigen Minuten schloß der Genius ihn an sich und verhüllte die suchenden Augen mit seinem Busen; unvermerkt liefen die Himmeltüren wieder zu und nahmen ihm den Frühling.
In zwölf Stunden steht er darin; aber ich werde ordentlich beklemmt, je näher ich mich zu dieser sanften Auferstehung bringe. Es rührt nicht bloß daher, daß ich nur ein einziges Mal in meinem Leben einen solchen des Himmels werten Geburttag wie Gustavs seinen in meinem Kopfe auf- und untergehen lassen kann, einen Tag, dessen Feuer ich an meinem Pulse fühle und wovon nur Widerschein aufs Papier herfällt – auch nicht bloß daher kommt es, daß nachher der schöne Genius ungekannt von Autor und Leser wegziehet – sondern daher am meisten, daß ich meinen Gustav aus der stillen Demantgrube, wo sich der Demant seines Herzens so durchsichtig und so strahlend und so ohne Flecken und Federn zusammensetzte, hinauswerfe in die heiße Welt, welche bald ihre Brennspiegel auf ihn halten wird zum Zerbröckeln, aus seiner Meerstille der Leidenschaften heraus in den sogenannten Himmel hinein, wo neben den Seligen ebenso viele Verdammte gehen. – Aber da er alsdann auch der großen Natur ins Angesicht schauen darf: so ists doch nicht sein Schicksal allein, was mich beklommen macht, sondern meines und fremdes, weil ich bedenke, durch wieviel Kot unsere Lehrer unsern innern Menschen wie einen Missetäter schleifen, eh' er sich aufrichten darf! – Ach hätte ein Pythagoras, statt des Lateinischen und statt der syrischen Geschichte, unser Herz zu einer sanft erhebenden Äolsharfe, auf welcher die Natur spielet und ihre Empfindung ausdrückt, und nicht zu einer lärmenden Feuertrommel aller Leidenschaften werden lassen – wie weit – da das Genie, aber nie die Tugend Grenzen hat und jeder Reine und Gute noch reiner werden kann – könnten wir nicht sein! –
So wie Gustav eine Nacht wartet, will ich auch meine Schilderung um eine verschieben, um sie morgen mit aller Wollust meiner Seele zu geben.