Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Zehnter Sektor

Ober-, Unterscheerau – Hoppedizel – Kräuterbuch – Besuchbräune – Fürstenfeder

Es ist noch keinem Geographen und Oberkonsistorialrat das Unglück begegnet, das Herr Büsching hatte, daß er in seinem topographischen Atlas ein ganzes gutes Fürstentum ausließ, das auf der wetterauischen Grafenbank mit sitzt und Scheerau heißet – das nach dem Reichsmatrikularanschlag 8/9 zu Roß und 92/3 zu Fuße und zum Kammerzieler 21 Fl. 1/19 Xr. gibt – das unter Karl IV. gefürstet wurde – das seine fünf hübschen Landesstände hat, die allerhand zu sagen, aber nichts zu tun haben, nämlich den Kommentur des deutschen Ordens, die Universität, die Ritterschaft, die Städte und die Dörfer – und das unter andern Einwohnern auch mich hat. Ich möchte nicht an der Stelle eines solchen Schreib-Mannes sein, der sonst in jede Sackgasse mit seinem geographischen Spiegel kriecht, um sie zurückzuspiegeln, der aber hier ein ganzes Fürstentum samt seinen fünf paralytischen Landständen rein übersprungen hat; ich weiß, wie es ihn kränkt, aber nun, da ich mit der Welt darüber gesprochen, ist ihm nicht mehr zu helfen.

Die Hauptstadt Scheerau besteht eigentlich aus zwei Städten, aus Neu- oder Oberscheerau, wo der Fürst residiert, und aus Alt- oder Unterscheerau, wo der Rittmeister logiert. Ich meines Orts bin längst überzeugt, daß die Sachsenhäuser nicht halb so weit von den Frankfurtern abstehen als die Altscheerauer von den Neuscheerauern, in Ton, Gesicht, Kost und allem. Der Neuscheerauer hat Hofton genug, um Anstand und Schulden und Wut zu außerhäuslichen Freuden zu haben, und doch wieder zu viel Kanzleiton (weil alle höchste Landeskollegien da sind), um nicht überall steife Subordination entweder anzuerkennen oder abzufodern und um nicht aus dem Kammerherrn in den Kanzelisten und Rechnungrevisor zurückzufallen. Das sieht nun der Altscheerauer ein. Der Neuscheerauer hingegen sieht ein, daß jener folgende Züge hat: wenn in China die Mäuler einer Tischgenossenschaft sich wie ein Doppelklavier zu gleicher Zeit bewegen müssen; wenn in Monomotapa das Land dem Kaiser nachzuniesen pflegt: so gehe man nach Altscheerau, wo es noch viel besser ist; in derselben Minute müssen alle Gassen weinen, husten, beten, laxieren, hassen und pissen – ihre Konduitenliste sieht wie eine Partitur aus, aus der alle das nämliche Stück, nur mit verschiednen Instrumenten und Stimmen spielen – (bloß in der Musik regiert sie einiger wahre Freiheitgeist, und keiner bindet seinen Ellen- oder Fiedelbogen oder Tangenten sklavisch an seines Nachbars seinen) – sie hassen schöne Wissenschaften so sehr wie sich untereinander – unfähig, gesellschaftliches Vergnügen zu entbehren, zu veranstalten, zu genießen, unfähig zu wagen, einander offen zu hassen und zu lieben und zu ertragen, bohren sie sich in ihre Geldhügel und achten öffentlich den Reichsten und geheim den Verwandten oder gar niemand – ohne Geschmack und ohne Patriotismus und ohne Lektüre...

Ich mach' es aber gar zu toll; kein Leser wird hinter dem Rittmeister einen Fuß nach Unterscheerau setzen wollen. Ihr größter Fehler ist, daß sie nichts taugen; aber sonst sind sie fleißig, voll lauter Kaufleute, enthaltsam und fegen die Gassen und Gesichter hübsch. Residenzstädte haben wie Höfe Familienähnlichkeit; aber Landstädte haben – je nachdem nicht kaufmännische, militärische, juristische, bergmännische, seemännische Säfte in ihnen rinnen – ein verschiednes Vollgesicht und Halbgesicht.

Vor der überblechten Haustür des Professors der Moral Hoppedizel stieg die Falkenbergische Schiffgesellschaft aus ihrer fahrenden Arche; sie hielt in des Professors zweitem Stockwerk gewöhnlich ihr Winterquartier. Gleich hinter der Haustüre stieß der Rittmeister auf ein tolles Melodrama. Nämlich der Flößinspektor Peuschel lehnte sich an die Wand und vomierte und schimpfte; und wechselte mit beidem regelmäßig, wie mit Pentameter und Hexameter – Der Professor der Moral schrieb mit einem uneingetunkten Finger ruhig die Züge folgender Worte an die Wand, die er unaufhörlich ablas: »Ekelhaft wars wohl, verteufelt ekelhaft!« – Jeden andern hätte ein eintretender alter Freund wie Falkenberg sogleich in der ganzen Szene gestört; aber der Professor war nicht aus seinem Spaß zu ziehen, sondern hob seine Umhalsung in unverändertem Tone mit dem Rapport des gegenwärtigen Vorfalls an: »gegenwärtiger Herr Flößinspektor Peuschel«, begann Hoppedizel, »zeche gern, Wein nämlich – es habe nichts verfangen, daß die Frau Inspektorin« denn schonende Diskretion war nie auf Hoppedizels Lippen »ihn habe umbessern wollen durch einen lebendigen Frosch, den sie in seinem Weine krepieren lassen. Er selber habe daher heute Hand angelegt, ihm das Nippen zu verleiden. Denn er habe zum Glück einen Blasenstein – so dick wie eine Muskatellerbirn – aus einem Universitätkadaver geschnitten; den hab' er zu einer Trinkurne ausgebohret und Herr Peuscheln weisgemacht, aus Lava sei sie; und heute habe er seinen vomierenden Freund echten ungarischen Ausbruch daraus saugen lassen; damit es ihn nun geekelt und zu einem andern Ausbruch genötigt hätte, hab' ers vor einem Paar Minuten dem Patienten klar dargetan, daß das vulkanische Spitzglas wahrer Harn- oder Nierenstein gewesen. Und er hoffe, sein Freund schlage sich das urinöse Steingut eine Zeitlang nicht aus dem Kopf.« Der Professor ging den Inspektor an, ihm den Gefallen zu tun und, sobald der Ekel nachließe, heute abends in der Gesellschaft des Herrn Rittmeisters zu einem Löffel voll Suppe dazubleiben.

Man komme noch so oft in gewisse Häuser, so erblickt man alles revidiert und umgesetzt und umgestürzt; aber im Hoppedizelschen am meisten; und des Rittmeisters Winterlager sah immer aus wie ein Gartenhaus im Winter. Menschen von feinem Gefühl bezaubern durch eine gewisse zärtliche Aufmerksamkeit auf kleine Bedürfnisse des andern, durch ein Erraten seiner leisesten Wünsche, durch eine stete Aufopferung ihrer eignen, durch Gefälligkeiten, deren seidenes Geflecht sich fester und sanfter um unser Herz herumlegt als das schneidende Liebeseil einer großen Wohltat. – Hoppedizel bediente sich weder des Flechtens noch Seiles und fragte nach nichts. Es war nicht Abwesenheit des feinen Gefühls, sondern Ungehorsam gegen dasselbe, daß er – wenn der Rittmeister die erste Woche Quartier und Verleiher verfluchte – dazu lachte.

Der zarte Amandus bewohnte den ganzen Abend das Siechbett, und Gustav kroch an seine Seite, um mit ihm zu spielen. Wie heitern uns im steinichten Arabien der hassenden Welt Kinder wieder auf, die einander lieben und deren gute kleine Augen und kleine Lippen und kleine Hände noch keine Masken sind!

Am andern Tage nahm beide Kinder ein Zufall wieder auseinander. Der Rittmeister führte sie durch alle Gassen der Stadt wie durch eine Bildergalerie und hielt endlich mit den zwei Herzensmilchbrüdern vor seines Freundes, des Doktor Fenks Hause still und sah sehnend das Gemälde desselben an – es bildete eine Doktors-Kutsche vor mit einem Arzt innen, mit dem Tode vorn, der in die Gabel eingespannt war, und mit dem Teufel oben, der auf dem Bock saß. –»Der gute Narr«, dacht' er, »könnt' auch einmal aus seinem Italien abziehen und seinen Freunden eine Freude machen!« Denn er wußte von seiner Ankunft nichts. »Mandus! Mandus! lauf rauf!«schrie plötzlich ein zappelndes Mädchen oben und kam selber gesprungen und zerrte und guckte am Kleinen. Der gutmütige Rittmeister wanderte gern aus dem großen Parterre den Kindern nach ins vertraute Haus, und seine Verwunderung über alle Zeichen der Rückkehr Fenks endigte nichts als der hereinbrechende Doktor selbst. Dieser prallte vom halben Wege zu seiner Umarmung auf den kleinen Blinden zurück und riß unter Tränen und Küssen die Bandage auf – besah die Augen lange am Fenster – und sagte nach einem tiefen Atemzug: »Gott Lob und Dank! er wird nicht blind!« Erst jetzt schlug der Doktor seine Arme mit doppelter Wärme um den Freund: »Verzeihs, es ist mein Kind!« Gleichwohl nahm er Amandus wieder ans Licht und beschauete ihn noch länger und sagte mit hinaufgezogenen Augenbrauen: »Bloß die Sclerotica scheint lädiert; die Okulistin zapfte die wässerige Feuchtigkeit heraus. In Pavia sah ichs alle Wochen an Hunden, denen die Zahnärzte (unsre medizinischen Lehnsvettern) die Augen aufschnitten und eine dumme Salbe daraufstrichen. Wenn nachher die Feuchtigkeit und das Gesicht von selber wiederkamen: so hatt' es die Salbe getan.«

Ich übergehe den Strom von gesprächiger und freudiger Ergießung beider Freunde, vor dem sie kaum mehr hörten und sahen, am wenigsten die Uhr – »Ach sie kommen!«sagte Fenk, nämlich die Gäste. – Da meine Leser Verstand genug haben: so können sie mich, hoff' ich, auserzählen lassen, eh' sie ihre Zornrute gegen den bildlichen Steiß des Doktors hinter dem Spiegel vorholen. –

Niemand als er haßte so brennend das Enge, das Unduldsame und Kleinstädtsche der Unterscheerauer, womit sie sich ein so kurzes Leben verkürzten und ein so saueres versäuerten. – »Mich ekelts, von ihnen gelobt zu werden«, sagt' er nicht bloß, sondern er erboste auch gern mit dem schlimmsten Anstrich seiner reinsten Sitten alles von einem Tore zum andern; indes vermocht' er aus Herzens-Weichheit mehr nicht zu ärgern als die ganze Stadt in grosso, einen allein nie. Deswegen grassierte er am zweiten Morgen seiner Ankunft wie eine Influenza von einem Hause zum andern und bat alle Muhmen, Basen, Blut feinde, Leute, die ihn nichts angingen als die liebe Christenheit, z. B. den Flößinspektor Peuschel, den Lottodirektor Eckert mit seinen vier Spätbirnen von Töchtern, und was nur unterscheerauschen Atem hatte, das bat er sämtlich zusammen auf den Nachmittag, auf eine Reiseseltenheit, nämlich auf ein Herbarium vivum, das er zeigen werde: »es sei kein lebendiges Kräuterbuch, sondern etwas ganz Besondres, und von den Gletschern wäre das Beste her.«

Diese kamen eben jetzo alle – nicht weil sie das geringste nach einem Kräuterbuch fragten, sondern weil sie es doch sehen wollten und die Haushaltung des unbeweibten Doktors nebenbei. Ich muß den europäischen Höfen so viel gestehen, daß sich die Landsmannschaft und Basenschaft mit Grazie hineinhustete, hineinfegte und -räusperte; und den vier Spätbirnen fehlt' es nicht an Welt, sondern sie machten statt der Verbeugung eine Vertiefung und bewegten sich sehr gut steilrecht. Der Hauswirt trug alsdann zwei lange Kräuterfolianten herein und sagte freundlich, er wolle gern alles herweisen – nun zündete er die Hölle an, in die er die Gesellschaft warf – er kroch mit Raupenfüßen und Schneckenschleim von Blatt zu Blatt des Buches sowohl als des Krautes – er zeigte nichts oberflächlich – er ging die Pistillen, die Stigmen, die Antheren eines jeden Gewächses genau durch – er sagte, er würde sie ermüden, wenn er weitläufiger wäre, und beschrieb also Namen, Land, Naturgeschichte eines jeden Grases ganz kurz – – alle Gesichter brannten, alle Rücken brühten sich, alle Fußzehen zuckten. – Vergeblich versuchte eine Base, dem blinden Amandus mit den Augen nachzulaufen, um nur etwas Animalisches zu ersehen; der Kräuterkenner befestigte sie an einen neuen Staubbeutel, den er gerade anpries. Schon bis an die Pentandria hatte er seinen Klub geschleift, als er sagte: »Der heutige Abend soll uns nahe um die Dodecandria finden; aber Schweiß und Fleiß kostets.« – Er wurde beim allgemeinen Jammer über einen solchen Fegfeuer-Nachmittag, dergleichen noch kein Scheerauer erlebt hatte, immer vergnügter und sagte, ihre Aufmerksamkeit feuere am meisten ihn an. – Gleichwohl ließen sich die botanischen Magistranden aus einem Blatte ins andere martern und wollten verbindlich bleiben – bis der Rittmeister, ob er gleich den Scherz erriet, teufelstoll wurde und fort wollte. Der Doktor sagte: »den zweiten Folianten müßt' er ohnehin für eine andre Stunde versparen; aber er wünschte, sie kämen bald wieder, das soll' ihm erst ein Beweis sein, daß es ihnen heute gefallen.« Der bloße Gedanke an den zweiten Torturfolianten – wogegen der Theresianische Kodex mit seinen Folterabrissen nur ein Taschenkalender mit Monatkupfern ist – führte etwas von einem Fieberschauer bei sich. So hatten sie also einen ganzen halben Tag schändlich ohne eine Verleumdung, ohne eine Erzählung verloren, die hätte nach Haus können mitgebracht und von da weitergegeben werden. Die ältern Damen besuchten Konzerte und Bälle gewöhnlich, aber gar nicht, um gesehen zu werden, sondern um zu sehen und darin physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis, obwohl nicht der Menschenliebe, auszuarbeiten; – ja sie besuchten auch ihre erklärten Feindinnen gern, wenn über eine abwesende Feindin loszufallen war, wie Wölfe, die einander fliehen, sich doch verbunden zum Tode eines andern Wolfs. Ich habe immer mit Vergnügen bemerkt, wie ein Paar Scheerauerinnen sich einander so herzlich und mit reiner Freundschaft dann mitteilen, wenn sie gerade das geheimste Schlimme von einer dritten auszupacken haben. Nur, wenn zwei auf dem Kanapee nicht mehr nebeneinander sitzen, sondern sich die Gesichter statt der Hüften zuwenden, so mag ich der nicht sein, den sie gerade handhaben.


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