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An einem widerwärtig launischen und nassen Märztag saß Hermann Pirath in der deutschen Stadt in seiner Villa und dachte an etwas, was in seinem Leben nicht eingetreten war. Ein kleiner Schein dieser unlustigen Gedanken fiel auch rückwärts in eine Zeit, die verflossen, und auf einen geliebten Menschen, der verblichen war, und der Gedanke, der also abirrte, wurde rasch ausgelöscht. Wozu soll er durch sein Blut leuchten? Die Toten kommen nicht zurück. Hermann Pirath hörte, daß die Türglocke ging. Dann brachte ein Dienstbote eine Visitenkarte. Pirath kannte den Namen, aber er erinnerte sich nicht. »Professor Anastasius von Wiltingen.« Wer? Wer? Woher? … Ein vornehmer älterer Herr trat ein. Hermann ging ihm entgegen. Jetzt wußte er, daß er diesen Mann niemals gesehen hatte. »Ich steh zu Ihrer Verfügung, Herr Professor. Womit kann ich dienen?« sagte Hermann entgegenkommend. Man wandte sich manchmal bei Stiftungen an ihn, und er suchte schon mit den Augen nach einer Feder. Denn bald sollte wohl die Liste aus der fremden Manteltasche erscheinen, auf der schon der Oberbürgermeister fünfhundert Mark, die Frau Annie Dübelstein, wenn es sich um Wissenschaften, oder die Frau Natalie von Brank, wenn es sich um ein soziale oder religiöse Geschichte handelte, ebenfalls fünfhundert Mark eingetragen hatten. Während Hermann im Geiste sah, wie aus seiner Feder die Fünf und die beiden Nullen flossen, erinnerte er sich auf einmal, daß er vor wenigen Tagen den Namen des Professors von Wiltingen im Zusammenhang mit einem wissenschaftlichen Unternehmen gelesen hatte. »Na, also, fünfhundert. Meinetwegen!« sagte er bei sich. »Herr Professor, Sie waren der Leiter der deutschen Südsee-Tiefenmessungsfahrt!« wandte sich Hermann noch einmal an den Besucher, um gutmütig die Rede gleich auf ihr Ziel zu lenken.
Aber da sah er, daß der alte Herr um Worte verlegen war. Hermann schaute aufmerksam in das vornehme, vergeistigte und großzügige Gesicht, dessen Ausdruck im Widerspruch zu der Ratlosigkeit stand, in der sich der gelehrte Mensch befand. Da trat etwas in Hermanns Inneres, eine seltsame, bedeutende, unbekannte Erwartung. Der fremde Mund sagte schließlich: »Mein Besuch hat keinen Zusammenhang, weder mit jenem Unternehmen noch mit meinem Beruf. Herr Pirath, ich bin mit einer ganz sonderbaren, ganz großen und freudigen Mission für Sie betraut worden. Sie könnten erschrecken, wenn ich auf einmal damit herauskäme, mit dem einen Wort … wenn ich … wenn ich … sogleich einen Namen nennte …«
Da war es Hermann, als ob sich sein Brustkorb, sein Leib, sein ganzes Ich zu einem Luftballon ausweitete und emporhob. Er sprang auf und warf die Arme hoch. Er wußte alles, und er rief das Wort, den Namen: »Peter!« und fiel dann dem alten Herrn von Wiltingen an die Brust, um irgendwo zu spüren, wo ein warmes Leben schlug, das einen Anteil nehmen könnte an der schmetternden Süße, die sein aufwallendes Bruderherz durchraste. Der Professor sagte lachend im Schluchzen: »Ja, Peter. Ihr Bruder! Nun seien Sie ruhig und verständig! Wir haben ihn mit herübergebracht.« Hermann raffte sich zusammen und flog hinaus und rief in alle Zimmer, in den Flur, ins Treppenhaus: »Der Peter! Der Peter!« Seine Frau kam auf die Rufe aus ihrem Zimmer. Hermann sah sie nicht und rief: »Tilla, der Peter! Tilla! Tilla! Der Peter!« Das Dienstpersonal lief zusammen. Der Johann machte der Zofe Annaliese ein Zeichen: »Er hat einen Sparren!« Die Zofe machte mit dem Finger Zeichen auf der Stirn und flüsterte: » Tet.« Die dicke Köchin keuchte aus dem Erdgeschoß herauf und schmetterte erschreckt von sich: »Wat is nu los?« Der Chauffeur hörte die Rufe im Hof und trat neugierig in den hinteren Flur. Hermann stürzte zum Professor zurück und rief ihm überschwellend zu: »Dank! Dank! Herr Professor! …«
Da sah er, daß seine Frau im Zimmer war. Sie hatte verstanden, daß der fremde Herr eine Nachricht von dem verschollenen Schwager brachte. Hermann fiel zu ihr hin und rief: »Tilla, der Peter!« und konnte kein anderes Wort finden als immer: der Peter! Die Frau lächelte ihn an und sagte mit einer freundlichen Kühle und Gewandtheit: »Aber Hermann! Willst du so lieb sein, mich mit dem Überbringer einer so unerwarteten und glücklichen Nachricht bekannt zu machen?« »Ja, ja!« stotterte Hermann. »Verzeih! Verzeihung, Herr Professor, Herr Professor von Wiltingen – meine Frau. Herr Professor hat uns den Peter mitgebracht. Wo ist er, Herr Professor? Steht er hinter Ihnen? Draußen? Wartet er in Ihrem Wagen? Wo? Ach, ich werde ihn nicht mehr erkennen. Er wird mich nicht mehr erkennen. So lange … alt geworden … fünfzehn Jahre! Sechzehn Jahre! Wie sieht er aus? Ist er gesund oder krank? …«
Der Professor besänftigte Hermann. Er erzählte das Notwendigste in großen Zügen und fügte hinzu: »Ihr Bruder ist in meinem Hotel, und er wartet darauf, zu Ihnen gerufen zu werden.«
»Das Auto! Chauffeur! Hans! Hans!« rief Hermann. »Wir fahren gleich! Gleich!«
Seine Frau aber sagte ruhig: »Bleib doch besser hier! Meinen Sie nicht auch, Herr Professor? Es wird meinem Schwager lieber sein, daß das Wiedersehen in einem bekannten Haus und nicht in einem Auto auf der Straße ist.«
Sie stand da, groß, braun und glanzhäutig, wie sie war, sieghaft und sicher mit ihren schönen dunkeln Augen überlegen und gewandt den Auftritt beherrschend, und Hermanns Inneres sagte schmerzlich betroffen: »So kalt wie immer!« Aber er mußte ihr recht geben und der Professor auch. Das Auto fuhr mit Herrn von Wiltingen davon.
Hermann strampelte vor Erregung und Ungeduld. Er warf sich in einen Sessel und hielt sich mit Gewalt an den Lehnen fest und schloß die Augen. Er versuchte, für eine Zeitlang sein Bewußtsein auszulöschen. Aber er mußte bald wieder aufspringen. Seine Frau zog sich nach einer Weile in ihr Zimmer zurück.
Peter kam. Er ging, von der Dienerschaft hinter den Vorhängen heraus angestaunt, schwerfällig und mit klopfendem Herzen durch den breiten Flur, und auf einmal flog etwas auf ihn zu, stürzte an ihm hinan, und die beiden Brüder hielten sich stumm umarmt und weinten. Dann gingen sie in Hermanns Zimmer, und sie tätschelten sich nur eine Weile und schauten sich an, unfähig zu sprechen.
Die Tür ging auf, und Frau Tilla kam herein. Sie ging groß und stolz rasch auf Peter zu, nahm schnell und lange seine Hand und sagte mit leuchtendem Auge: »Peter, ich freu' mich!« Zu Hermann gewandt, mit einer koketten, beleidigt tuenden Miene, fügte sie hinzu: »Du hättest mich wohl bis morgen auf meinen so unerwarteten Schwager warten lassen, damit du ihn allein hast. Egoist!«
Hermann war aber noch ganz umfangen von dem Ansturm des ersten Wiedersehens. Er sagte nur zu Peter: »Das ist Tilla, meine Frau!« Tilla dehnte ihren schönen Leib auf vor Peter. Die Brust straffte sich unter den Spitzen zum Gewölbe, und ihre Hüften flossen schmal, gespannt und geschmeidig ab. Ihre Haut auf den nackten Armen und im Blusenausschnitt war von einem marmornen Braun. Sie hatte eine schmale, leicht gebogene Nase, aber ihr Mund war gewöhnlich und hatte verschwommene Linien um die rote Massigkeit der Lippen.
In einem messenden kalten und großen Blick sah Peter diese fremde Frau an. Er war auf einmal betroffen und beleidigt. Er hatte nichts von Hermanns Ehe gewußt. Er war nicht eifersüchtig. Er war mißtrauisch. Sie stand da, in Kleidern, die vor Vornehmheit kühl und befremdend waren, gepflegt, unter einem entfernenden Reif und rückte doch alles an sich vor und ins Licht. Dem dunkeln Glanz, den die großen braunen Augen über ihn ausstrahlten, begegnete Peter mit trotzigem Staunen. Es sagte eine Stimme in ihm: »Ich glaub dir nicht, Glanz. Du bist ja falsch …« Und dennoch bezwang der Glanz etwas in ihm. Peter zog sein Herz scheu zurück. Er fürchtete sich ein wenig, vor etwas Verstecktem, was in dieser steinkalten Person sich hinter Freundlichkeit verborgen hielt. Da fühlte er eine eisige Fremdheit sein Herz unglücklich machen, und er sprach kaum mehr. In seinem Innern fragte es immer: »Weshalb ist sie dreißig Jahre alt und Hermann noch einmal soviel?« Er hatte die ganze Reise Hermann vor sich aufgestellt wie eine Vase. Hermann war das Gefäß gewesen, das seine europäischen Erwartungen gefaßt hielt. Er hatte falsch an ihn gedacht. Und während ihre Gespräche stockend und vorsichtig zwischen den Abenteuern und der Rückkehr Peters und dem hin und her flatterten, was in der Heimat zurückgeblieben war, fragte Peter unablässig heimlich in sich: »Sag, bist du denn der alte liebe Hermann aus der ersten Zeit meines Lebens?«
Aber weshalb wollte er den ersten Teil seines Lebens wieder treffen? Welcher verhängnisvolle Irrtum!
Sie gingen früh zu Bett, ein jeder mit seinen Sorgen. Niemand schlief im Haus in dieser Nacht.
Peter lag tief im Bett. Er fröstelte an seinen unerlösten Gefühlen und packte sich in die Tücher ein, als könnte er in ihrem weichen Schwall die süße Wärme finden, die ihm das Wiedersehen mit Europa versprochen hatte. Er lag mit den Augen gerade noch heraus, und seine Augen spannten sich groß und offen in den Fensterrahmen, der von außen erleuchtet in der Dunkelheit stand und in dem sich die Formen eines andern Gebäudes in der hellen Nacht zackten. »Ich bin unglücklich!« sagte er. »Was ging mir nicht in Erfüllung, da ich hierhin kam?« Er wußte sich nicht anders zu antworten als immer wieder mit dem Vergleich zwischen jener schönen jungen Frau und Hermann. »Das ist Tilla, meine Frau!« hatte Hermann gesagt. Das waren die Worte. Peter fühlte sie weiter aus, und er begann in Gedanken durch die Nacht ein Zwiegespräch mit Hermann. Er fragte: »Was ist sie mehr als deine Frau?« Hermann seufzte: »Der Berg von Unglück und Unzufriedenheit, den ich vor mir aufgehäuft hab.«
Peter: »Aber sie ist ein schöner Berg.«
Hermann: »Ich kann ihn nicht übersteigen.«
Peter: »Schau ihn von unten herauf an.«
Hermann: »Stets waren alle Sinne in mir ein Ganzes. Sehen, Fühlen, Nehmen, Besitzen.«
Peter: »Es ist Schicksal, sich untreu werden zu müssen.«
Hermann: »Aber sie ist so schön.«
Peter: »Was ist es: schön sein? Und sein Schönsein nicht an das Herz der lebenden Dinge anschließen können! Ein unnützes, vampirhaftes Schönsein.«
Hermann: »Ich werde nicht daran sterben. Ich hab mein Temperament umgeleitet. Es fließt um den Berg, den ich nicht besteigen kann, und überströmt um so größere Ebenen.«
Peter (kalt): »Darum bist du nicht mehr der alte liebe Hermann.«
Hermann (getroffen): »Liebst du mich nicht mehr?«
Aber Peter warf sich rundum. Er stöhnte: »Ich bin so eindeutig scharf auf die Menschen hier eingestellt. Das kommt, daß Kililiki die Willkür und Ungehemmtheit der Natur war, und ihr hier habt euch alle umgeleitet. Meine Sinne tun mir weh unter euch!«
So schnitt er das Zwiegespräch ab, und er erinnerte sich, daß einmal auf dem »Seepferd« der Doktor Stein ihn allein in eine Ecke drückte und Peter, noch bevor der andere den einleitenden gleichgültig tuenden Satz gesprochen, schon erfaßt hatte, daß Stein ihn ausnutzen, sein außergewöhnliches Schicksal in irgendeiner Weise für sich ausbeuten wollte. Eine halszuschnürende Angst überrannte Peter, und er stand dem Ausbeuter willenlos Rede und Antwort. Er fühlte sich wie vergewaltigt von dem fremden, ungeraden Willen.
Während Pirath diese sonderbaren, Erlebnisse ausdachte, entdeckte er plötzlich durch die Finsternis hindurch, daß er ja in seinem alten Haus war, in dem Haus, wo er und … und er fand den Namen nicht gleich … Nur wie ein Anprall von Leid und Schmerzen überfiel der Name ihn. Da peitschte Peter sein Hirn auf, daß es den Namen jener Frau in seine tiefste, schallose Vergessenheit vertreiben sollte. Aber es war zu spät, und die Dunkelheit sagte rauh und hart, wie eine Stahlschneide: Ree! Pirath floß in sich zusammen, und das neue Land, an das er getrieben war, errichtete sich grausam vor ihm und wehrte ihm brutal den Eintritt. Er lag im Bett in sich eingekrümmt, furchtsam, verzagend, und der kleine rohe Name schwang sich durch die Finsternis um ihn wie Peitschenhiebe.
Während das in der Seele des Mannes und im dunkeln Zimmer vor sich ging, lag in einem andern Zimmer nach vorn Frau Tilla, schön und halb von den Bettdecken befreit, und hob ihr langes und üppiges Bein in das heimliche rote Licht des Bettkandelabers. All ihre Gedanken strömten zu dem riesenhaften, sonnenbraunen Mann, in dessen eiserner Muskulatur ferne große Abenteuer schlummerten, die ihn mit etwas Bedeutendem und Außergewöhnlichem umhängt hatten. Sie schloß die Augen, und sie sah diesen Riesen auf sich zukommen. Sie lächelte, halb gepeinigt, halb lustvoll, und sagte frivol und wegwerfend: »Weshalb heiratet man meine Schönheit mit sechzig Jahren? Das ist gefährlich! Was kann ich dafür! Der schöne Leib will baden, erleben, erleben …«
Aber sie hatte empfunden, daß dieser schöne große wilde Mann etwas aufrichtete zwischen sich und sie, einen Nebel von Mißtrauen, Argwohn … oder nur vielleicht Angst? Dann … Aber eher Argwohn! Sie wollte jetzt nicht weiter daran denken, und sie erinnerte sich, daß vorgestern, nach dem Essen beim Hauptmann, der Sänger ihre Hand eigentümlich geküßt habe, als ob seine dünnen heftigen Lippen etwas auf ihre braunen Handrücken geschrieben hätten. Ja! Ein Verlangen! Servus! Dös glaabst! Er brüllte beim Singen etwas, der Sänger. Er vermochte nicht, sich vom Theaterraum auf den Haussaal zurückzubeschränken. Das fand sie geschmacklos und unmusikalisch. Aber er war schön, und seine Brust war so breit und gewölbt, wie in reizvollem Gegensatz seine Gesichtszüge unter den wellig fallenden Haaren weich und bleich waren. Doch der andere! Der aus der Südsee! »Ich bin Eis und Vulkan zugleich,« sagte Frau Tilla und war unglücklich daran, daß sie sich ganz weder zu Eis noch zu Vulkan entschließen konnte. Ach, der aus der Südsee! So schlief sie ein, das schöne Bein nackt dem roten heimlichen Licht des Bettkandelabers überlassen. Ihr Zimmer war weich geheizt.
Als sie am nächsten Morgen Hermann und Peter am Frühstückstisch traf, hatten sich alle drei erholt von dem Unerwarteten und Gewaltsamen, was das Wiedersehen gestern zwischen sie gebracht hatte. Tilla drückte Peter mit Wärme die Hand und schlug einen kameradschaftlichen Ton an. Sie sagte: »Also jetzt wird bald das Große kommen – die Erzählung unseres Robinson!«
Peter aber fragte sich erschrocken: »Was ist das für ein Geschöpf? Das soll die Frau des lieben Hermann sein?«
Er schloß sich hart zu vor ihr, und wie ihn auch das Herz drückte, dem geliebten Mann, der ihn fortwährend mit leuchtenden und glücklichen Augen anschaute, zu erzählen, was er erlebt hatte, so sagte er sich jetzt doch: »Ich kann es nicht, wenn die dabei ist! Weshalb?« fragte es weiter in ihm. Eine Antwort kam zögernd und tief aus dem Dunkeln: »Weil sie so schön und falsch ist. Weil sie mich stößt!«
Es hatte sich etwas in Peter unversehens verwandelt. Seine Begier nach Europa hatte sich das Wiedersehen des Bruders als den Scheitelpunkt des Glücksgefühls, die alte Heimat wieder in Besitz zu nehmen, aufgebaut. Aber er wußte nun, nachdem seine Nerven sich an dem Persönlichen gestillt hatten, daß Hermann nur eigentlich wie eine Verkleidung der Statue gewesen war, in der er sich die Wiedersehensfreude zu einem körperlichen Bild errichtet hatte. Unter der Verkleidung stand aber heimlich das Gerüst, und dies Gerüst war er selber, einst, in jenem ersten Abschnitt seines Lebens, der ihn in die Vereinsamung von Kililiki entlassen hatte. Ja, womit hing er an dieser neu zurückerworbenen Welt? Womit hing er seit alters her an ihr? Hatte er nicht einst eine Saat in sie gesät? Und jeder Mensch ist sein eigener Acker. Er selber sollte als Ernte der vorsorglichen Saat aus dem Frühling des Lebens nun aufsprießen. So gab er sich Europa wieder, dachte er. Hatte er nicht eine große Maschine erfunden, ein bedeutendes Unternehmen gegründet? Und war er nicht durch diese Taten seines Willens auch von der Einsamkeit Kililikis herüber mit seinem alten Europa fruchtbar verknüpft geblieben? Ohne ihn hatte Deutschland seine Ellbogen wuchtig ausgestoßen und seine Geographie vergrößert, seinen Geist in die Völker geworfen. Aber waren seine Werke nicht eine der Kräfte gewesen, die an diesem wunderbaren und doch natürlichen Ereignis mitgewirkt hatten? Wie hatte das, was er geleistet, am Rad mitgeschoben, das Deutschland höher getrieben hatte? Weshalb ist dies ärgerliche Weib da? Er konnte nicht vor ihr fragen. Deshalb störte sie ihn besonders. Er haßte sie. Es brannte in ihm, zu fragen. Aber diese Dinge waren so keusch eingebettet in sein Innerstes! Wenn die Gegenwart der Frau ihn auch nicht gestört hätte, die eigene Scheu hätte ihm gewehrt, das Heiligste laut werden zu lassen, mit dem er an der Heimat verwurzelt geblieben war. Er sprach im großen Kreis rundum, von der neuen Zeit, die den Kriegen entsprossen war, dem neuen Deutschland, von Ingenieur und Kaufmann … und hoffte, daß wie von selbst die Sprache …
Da mischte sich Tilla ein. Sie lehnte die nackten Ellbogen auf den weißen Damast, und über ihren gekreuzten marmorbraunen langen Fingern fragte ihr formloser roter Mund: »Ja, nicht wahr, mein Schwager, das stelle ich mir unerhört interessant vor, ohne die geringste Ahnung, ohne die geringste Teilnahme an der Entwicklung so auf einmal aus der einsamen Insel in unsere Zeit gehoben zu sein.« Der kalte Glanz der Augen prangte ihn an. Peter hielt seine Augen scheu aus dem Bereich dieser Blicke. Tilla fühlte das, und ein Gefühl von übermütiger Rechenlust und kühler Spielsucht war auf einmal in ihrem Herzen. »Ich werde ihn verführen!« sagte sie sich. »Meine Schönheit wird seine spröde, verwilderte Männlichkeit besiegen …«
Peter antwortete nicht auf ihre Frage, sondern fuhr, ohne ihr Achtung zu geben, in dem Satz fort, den er begonnen hatte. Da schaute sie ihn erstaunt und herrschsüchtig an. Er fühlte, wie dieser Blick, ihr Inneres verriet »Was will sie?« fragte es stockend in Peter, und er sprach lauter, um die Last dieser Erkenntnis los zu werden. Tilla saß nun stumm da, spielte mit ihren Händen und ihrer Frisur und beobachtete ihn. Sie wollte seine Augen in ihre Augen zwingen. Sie dachte, was in ihm vorging, sei dem ganz fremd, was ihr eigenes Inneres erdachte; seine unhöfliche Nichtbeachtung habe nichts mit ihr zu tun, sondern sei das ungebändigt Männliche, das er vom Paschaleben der einsamen Insel mitgebracht hatte.
Peter sprach und sprach, mit wenig Worten, aber so vielerlei von weither. Hermann merkte schon lange, was sein Bruder wollte. Zugleich, wo Peter seine Kreise enger zog und auf die Frage nach seinem Schatz und Anker zusteuerte, dachte Hermann mit schmerzendem Herzen an die Form, wie er ihm mitteilen könne, was Peter wissen wollte, ohne daß es Peter zu sehr traf. Und auf einmal war Peter wirklich bei der Fabrik.
»Sie geht!« sagte Hermann. »Sie geht ganz ausgezeichnet. Die verstärkte Zeit hat sie von selbst mit hochgehoben. Du kannst dich rasch wieder einarbeiten und vergleichen, was uns das letzte Jahrzehnt gab. Wir haben uns selbst überflügelt …« Und mit einem schweren Lachen, das die Sache leichter machen sollte, fügte er hinzu: »Denn die deutschen Ingenieure sind während deines Aufenthaltes in der Südsee nicht untätig gewesen. Ein junger Bremer hat ein Verfahren erfunden, das wir einführen mußten. Du mußt dich also dahinter machen und ihn übertrumpfen.«
Etwas verlöschte in Peter. Ein befruchtendes seliges Licht ging aus in ihm. Das Erschrecken atmete ihn heftig an. Europa entsetzte ihn. Er versuchte sich zu fassen, indem er sagte: »Das erscheint selbstverständlich, daß meine Zentrifugen überholt wurden.« Hermann freute sich schon, daß dem Bruder die Sache doch nicht schwerer würde. Aber auf einmal fragte Peter, fast drohend und mit einem spöttischen Grimm: »Und hat sich Matantuduk ebenso überlebt wie die Zentrifuge? Wahrscheinlich doch auch!«
Seine Augen krallten sich an die blauen Blicke Hermanns. Aber Hermann sah ihn an und fragte erstaunt zurück: »Wie nennst du das? Matu … Was ist das? Mantuduk?«
Peter war's, als müßte er sein Herz fest in die Faust einpressen. Er bewältigte noch mit Mühe sein zerspellendes Blut und fragte: »Hast du denn meine … die Aufzeichnungen über die Gründung und Einrichtung einer Pflanzung in der Südsee nicht bekommen?«
Hermann winkte: »Nein!«
»Nein!« wiederholte Peter und stand auf. Aber das kleine Wort schleuderte ihn unversehens wieder in den Sessel zurück. Er warf die Arme auf den Tisch, den Kopf hinein, die Tassen und Teller spritzten weg, und er weinte tränenlos und stotterte laut: »Ich hab ja umsonst gelitten und gelebt … umsonst gelitten und gelebt …« Jeder Halt zerrann in ihm. Er war wie ein Kind, das unglücklich und ungerecht gezüchtigt wurde; er war ohnmächtig, wie der Willen eines Kindes gegen die mächtige Energie des Vaters, er war wund wie das Herz eines Kindes, das die Ungerechtigkeit der Welt nicht faßt. Er hatte seine Erfindung und seine Pflanzung verloren, Ewe verloren, Europa und Kililiki verloren. Herrmann tröstete ihn und beugte sich über ihn. Peter aber weinte und schluchzte, und seinem Mund entfuhr immer nur das machtlose Stammeln: »Umsonst gelebt und gelitten!«
Tilla stand auf. Wie lächerlich war dieser Mann! Das war spröde Männlichkeit, Südseewildnis, ungedämpfte Natur, diese weinende Armseligkeit. Weil einer eine andre Maschine erfunden hatte! Weil im Krieg ein Brief nicht angekommen war! Sie war verlegen über das, was sie gegen ihn unternommen hatte. Sie streifte ihn mit einem kühlen Blick und ging davon. Sie setzte sich ans Klavier und wollte Chopin spielen. Dann sagte sie aber wegwerfend und hochmütig: »Das paßt wohl nicht, wenn ich dazu Musik mache!« Das Klavier wurde wieder geschlossen, und sie ging zu ihrem Schreibtisch und schrieb an drei Freundinnen, ob sie sich ihren Robinson nicht einmal anschauen kommen möchten. Sie wußte doch, daß der armselige Riese vorläufig als Kuriosum gesellschaftlich außerordentlich auszunützen sei, und daß nun Leute kämen, um die sie sich bisher vergebens bemüht hatte. Zum Schluß schrieb sie auch an den Sänger.
Nachmittags fragte jemand nach Peter Pirath. Es kam eine Visitenkarte mit einem unbekannten Namen. »Erwin Arnold Kirsch.« Sonst stand nichts darauf. Peter empfing ihn. Er war ein Reporter. Er sei nicht nur am hiesigen Tageblatt, sondern auch Vertreter der großen Berliner Zeitung am Platz, sagte er und meinte, es sei ja wunderbar, was Herrn Pirath widerfahren. Das sei ja wie ein Robinson, nach allem, was man höre, und das deutsche Volk habe ein Recht darauf, mehr davon zu wissen. Herrn Piraths Schicksal und Erlebnisse seien eine Sache, die der Menschheit gehört.
Peter schaute den kleinen lebhaften Herrn feindselig an. Der andre fragte. Peter wehrte sich. Er wollte über ihn herstürzen, ihn erwürgen. Aber er saß da; durch die eindringlichen Fragen schienen seine langen Glieder an den Stuhl gefesselt, und sein Willen folgte den Fragen im Schlepptau. Am Morgen kam das Tageblatt. »Ein neuer Robinson,« hieß die dicke Überschrift. Peter las es nicht. Tilla schob es spöttisch hin: »Lies doch nur, Schwager! Du bist ein berühmter Mann.« Tags darauf kam es auch in der großen Berliner Zeitung; dort war es aufgewürzt durch eine typographische Anordnung mit kleinen krassen heftigen Überschriften. Aus dem Berliner Blatt ging es in die Provinz, nach Österreich, Dänemark, der Schweiz. Es kamen täglich Telegramme: »Redaktion erlaubt sich höflichst anzufragen, ob sie auf ausführliche persönliche Darstellung Ihrer ganz außerordentlichen Geschichte zählen darf, wodurch Sie Redaktion und Leser außergewöhnlich verpflichten.« Da ein Antworttelegramm bezahlt war, wurde zurücktelegraphiert: »Leider nicht in der Lage.« Es kamen neue Telegramme: »Ergebene Bitte, da Sie persönlichen Bericht nicht zusagen könnten, unserm Vertreter Unterredung zu gewähren. Vertreter, Herr Armin Fritzcohn, wird sich mit Legitimation versehen zur Verfügung halten. Schließen Sie aus der Wahl dieses Mitarbeiters, dessen Reiseschilderungen und massenpsychologische Veröffentlichungen bei unsern Lesern solche Erfolge fanden, wie sehr uns an einer ernsten Darstellung Ihrer Erlebnisse liegt.«
Peter beantwortete dieses Telegramm nun nicht mehr. Auch das Antwortformular gab er dem Boten mit zurück. Von Doktor Stein aber wurde ein Buch angekündigt: »Fünfzehn Jahre Südsee-Einsamkeit!«
Wenn Peter durch die Stadt ging, so blieben die Menschen stehen. Horden folgten ihm. »Bin ich denn ein ausgesprungenes Menagerietier?« fragte er sich erbost. Dunkle Erinnerungen stiegen in ihm auf. Wie schon einst die Stadt ihn verfolgt hatte und er in Haß aus ihr entflohen war. Er verließ das Haus nur mehr in der Dämmerung und schritt dann, groß und gerade, mit eiligen Schritten, fast im Lauf, durch die Wege des großen Stadtwaldes, die nur spärlich beleuchtet waren, und sah nicht rechts noch links.
Einmal hielt jemand ihn unter einer Laterne an: »Verzeihen Sie!« sagte der Unbekannte. »Dürfte ich um Feuer an Ihrer Zigarre bitten!« Peter reichte ihm erschrocken die Zigarre und sah ihn an. Der Unbekannte war ein großer, schwammiger Mensch, etwas geckenhaft gekleidet. Er hatte ein verschwommenes Gesicht mit weichen Zügen, und lange Haare waren künstlich beiderseits über die Schläfen gestrählt und an ihren Enden einwärts aufgelockt.
»Ist's nicht ein Weib?« fragte Peter sich. Der Unbekannte reichte ihm zögernd die Zigarre zurück, ohne sie ganz loslassen zu wollen, und Peter sah, wie die fremden Augen ihn im Laternenlicht scharf musterten. Da wußte er: Jetzt sagt er: »O, Sie sind ja der neue Robinson!«
Der Unbekannte sagte mit leiser, weich ausbetonender Stimme: »Wissen Sie, daß Sie das Gespräch und die Gedanken von Terpsichore und mir während dreier Wochen bilden. Sonderbar! Ich geh durch diese große, fremde Stadt. Ich geh durch sie mit dem Mut und der Sucht, den sonderbaren Zwangseinsiedler, den die Südseeeinsamkeit in Fesseln schlug und der nun unversehens in ein neu bereitetes Volk zurückgesät wurde, zu finden. Der Zufall muß es sein, sagte ich mir. Denn der Zufall gab diesem Mann das einzige Schicksal, der Zufall gab ihn der Erde wieder. Sie waren mir in den drei Tagen, die ich hier herumgeh: der Verhüllte. Ich schrieb Terpsichore noch erst heut: Die Monomanie des Entdeckens hat mich gepackt. Es ergeht mir so, schrieb ich an Terpsichore, wie es mir in Südafrika geschah, als ich die Seele eines Erdteils suchte und das Ghetto der Stadt auf dem Spitzschädel des Erdteils entdeckte.«
Da drehte Peter sich heftig um und stürmte in einen dunkeln Seitenweg hinein. Er lief davon, so rasch ihn seine langen Beine tragen konnten. Er hörte noch in der Nacht hinter sich einen Ruf ihm heftig nachprallen, wie ein ohnmächtiges Lasso: »Ich bin doch …« schrie die Stimme schrill und endigte leiser und verwischend … »Cohn! Armin Fritzcohn! Von der großen Zeitung!« Peter lief. Der andre war anfangs wütend. »Jetzt dachte ich, ich hab ihn schon!« sagte er sich enttäuscht. Aber nach und nach wandten sich seine mißmutigen Gedanken. Im Davongehen ging es ihm allmählich auf, was für einen köstlichen kleinen Aufsatz er aus dieser Nachtbegegnung und komischen Flucht machen könnte. Das war ja mehr und reizvoller als ein Jahrhundert einsamer Südseeinsel. » Goddam! It's a beauty!« flüsterte er, und sein Gehirn bildete schon verzwickte Wortwickel, die nach Feder und Papier ungeduldig verlangten, wie die Stirnhärchen einer den Ball Erwartenden nach der Brennschere.
Mit dem Nachtzug reiste er nach Berlin. Im nächsten Abendblatt stand der köstliche kleine Aufsatz unter dem Titel: »Der neue Robinson im nächtlichen Park.« Tilla wurde die Zeitung von einer Freundin gebracht. Sie legte sie Peter hin, ein wenig hochmütig und verächtlich. Peter las den Titel und wußte. Tilla sagte lachend: »Sie machen dich zu einem entsprungenen Wunderaffen!« Peter war kleinmütig und unglücklich. Tilla war es nicht gelungen, tritt der Sensation »ihres Robinson« ihre gesellschaftlichen Erfolge zu steigern. Anfangs waren sie gekommen und hatten ihn ausgefragt, dumm, plump und ohne Absicht. Dann entzog er sich jeder gesellschaftlichen Veranstaltung.
Auch Gelehrte kamen mit Empfehlungen von Professor von Wiltingen. Er mußte sie aufnehmen und stand ihnen Rede und Antwort. Sie fragten Dinge, über die Peter staunte und die er nicht beantworten konnte, weil sie ihm selbstverständlich erschienen. Er fühlte sich nicht wohl in Europa. Die Luft des Weltteils lag um ihn wie ein verbrauchter Atem. Es widerte ihn ein wenig an.
»Sie stoßen mich aus dir hinaus!« sagte er. »Sie machen mich zu einem Kuriosum. Und ich will doch nur mich achtlos und unauffällig wieder in dich einmischen.«
»Komm, wir arbeiten uns zusammen wieder ein!« versuchte Hermann ihn mitzuziehen. Peter ging mit in die Fabrik und die Geschäftsräume. Er bemühte sich, dort eine Stellung zu gewinnen, Aber er sah, daß alles voll besetzt war. Wo er hingriff, war er doch nur eine parallele Kraft zu einer andern, die für sich ausreichte, und all seine Anstrengung war innerlich überflüssig, seine Arbeit unnötig.
Er bekam von Weile zu Weile leichte Fieberanfälle, die ihn dann immer wieder auf zwei oder drei Tage fern und im Bett hielten. Wenn er dann seine Arbeit nachholen wollte, fand er, daß sie stets schon eine der namenlosen Kräfte gemacht hatte. Nach und nach gab er es darum auf. Er nahm die alten Zeichnungen und Notizen über seine Erfindung hervor und wollte sich von neuem versuchen. Aber sein Geist hatte jene alte Fähigkeit, Bewegungen, Richtungen, Kräfte in eins zusammenzuleiten und über den Umweg der Abstraktion Körperliches zu schaffen, ganz verloren. Es war ihm, wenn er über diesen Zeichnungen saß, als sei etwas aus ihm ausgeflossen. Er sank über sie hin, in brütender Ohnmacht an Vorstellungen verloren, die Tiere und Pflanzen, Licht- und Wasserbewegungen, Menschenregungen und unfaßbare Kräfte wehrlos mit zuckenden Maschinenteilchen und quetschenden Sieben, mit Berechnungen und Zeichnungen austauschten und vermischten.
An einem Maientag spürte er, daß wieder Fieber kam. Er nahm kein Chinin. Er trotzte. Er rauchte und trank und lehnte sich scheu auf. Das Fieber warf ihn ins Bett, stürzte sich gewaltsamer als jemals zuvor über ihn her. Die Temperatur stieg tagelang über vierzig Grad. Ein Tropenspezialist kam. Auch er konnte nichts anderes sagen: »Chinin. Und dann Luftveränderung!« Erriet von der Radikalkur der Salvarsaneinspritzungen ab. Das Herz habe sehr gelitten.
Hermann besprach sich mit Tilla. Er fragte sie, ob sie schon Lust habe, in den Wiener Wald zu reisen und die Sommervilla zu beziehen. Tilla war gern einverstanden. Wien war ihre Heimat. Sie hatte mehr Beziehungen mit ihr behalten, als neue durch ihre Heirat in der Heimat ihres Mannes gewonnen, übrigens war der Freund Arnulf Dvorak, der Sänger, auch jetzt in Wien.
Als Peter nach dem starken Malariaanfall das Bett verließ, spürte er, daß er älter geworden war. Er ging gleich zu einem Spiegel. Er war um zehn Jahre gealtert. Er sagte es Hermann. Her tröstete ihn, burschikos tuend: »Zunächst kannst du nicht verlangen, daß eine solche Krankheit dich gleich jünger macht. Und dann hast du ja Spielraum vor dir. Mit deinen zweiundfünfzig siehst du aus wie fünfunddreißig,« lachte er. »Was tut's auch?« entgegnete Peter müd. »Ich meinte es nicht als Klage.« Er erholte sich auch nicht mehr ganz. Kleine fortwährende Wechselfieber griffen ihm ans Herz. Auch seine innere Spannung fühlte er immer noch lockerer[*] werden. Er kämpfte kaum mehr. Die Welt um ihn entglitt sacht. Er fand keinen Anschluß mehr an sie zurück. Sie kreiste so heftig und willkürlich um ihn. Sie war so grausam eilig und unberechenbar, launisch und roh. Und über ihm lag, wie ein schwerer Dampf, immer drückender werdend, eine ferne Sattheit, eine faule Welt von Sinnlichkeit und schwülem Instinkt. Aber auch diese Welt hatte er verloren. Er lag zwischen dem All und war verflucht. Zwei kleine Fäden verbanden ihn mit der Erde. Bruderliebe und Tilla. Aber Tilla war furchtbar, war Leid und Haß und Unerlöstheit.
Eines Tages reisten sie dann nach Wien.
Die große Villa lag in einem Tal, das jäh von Bergen, Wäldern und Felsgruppen umzogen war. Sie lag in der Mitte eines Hangs, und der Tannenwald, der hinter ihr am Berg weiterstieg und eine große künstliche Ruine umzog, senkte sich bis in den Garten hinein. Durch einen Felsenengpaß, der den Zugang zum Tal wie ein verwittertes Tor gestaltete, sah Peter die ungarische Tiefebene grenzenlos verströmen. Die Ortschaften lagen drin wie Schiffe im Meer.
Tilla war oft in Wien. Hermann mußte wegen seiner Geschäfte manchmal nach Deutschland. Er blieb dann stets ein oder zwei Wochen fort. Für Peter, dessen Fieberanfälle nicht nachließen, stellte man schließlich einen Krankenwärter an. Als dies Peter eröffnet wurde, zog sich sein Inneres noch scheuer, kranker und unfähiger von Europa zurück. Eine Mattigkeit überkam ihn, ein wehes, weites Sehnen nach ungreifbaren Dingen.
Peter ging über die Straße. Ein Pferd stand dort an einem Wagen. Es war Sommer und Sonne. Peter schaute dem Pferd in das große Auge, das Fliegen umschwärmten. Das Auge war schön und kannte keine Grenze von dumm und klug, von Leid und Luft. Alles in diesem Glanz war ein Reif, in dem sich das Leben in allen Äußerungen bedeckte, in dem sich Menschheit, Tierreich, Pflanzen, männlich und weiblich verschlangen. Wo war es einst so? Und aus der Tiefe seines Blutes brodelte es heiß auf, und eine kräftige Stimme sang geradeaus: »Ki … li … li … ki …!« Die Insel hob sich in ihm wie eine Erlösung, wie eine Erfüllung des physischen Lebens ohne Rest von Sehnsucht und Suchen, von Streben und Gehirnkraft, die in tausend Richtungen verlief, man sah nicht wohin. So riß er sich vom Pferdeauge los, das ihn zwei Minuten lang erlöst hatte. Kreise von Vorstellungen drehten in ihm auf. Und es geschah in ihm, daß er einen jeden dieser Kreise durch einen Laut festhalten wollte, durch einen kurzen melodischen Laut, wie der Urwald drüben sie in Menschenkehlen legte. Er sagte: »Ping!« kurz, scharf und laut, und das bedeutete etwa: Ich zeuge mit Seeschwalbe in süßer milder Nacht. In einer Hecke höhnten zwei Knabenstimmen ihm nach: »Pang!« Und Kindergelächter überfiel ihn und stieß ihn zurück von der weißen Welt und der schwarzen, zurück in Einsamkeit und Krankheit. Er ging als Sonderling umher. »O, der!« sagten die Leute, wenn Fremde nach ihm fragten. »Das ist der Lange mit dem Span aus der Villa Walküre.«
Wenn jemand seine Schwägerin fragte: »Was fehlt ihm eigentlich?« so sagte sie lächelnd: »Das Paradies kam ihm abhanden!« – »Das Paradies?« – »Ja, ja. Er sucht im Wiener Wald das Killekille, das er in der Südsee verloren hat. So ähnlich hieß seine Insel drüben.« Die Menschen lächelten.
Wenn Peter zu den Ruinen hinaufstieg, durch den struppigen Tannenwald, und dann weiter oberhalb des Kalkbruchs durch die harte Heide ging, das war sein liebster Spaziergang, denn es begegneten ihm nie Menschen dort, dann spürte er sein Herz, als ob es eine dünne Blase sei, die zerplatzen könnte. Der Arzt im nahen Sanatorium sagte, das Herz sei sehr in Unordnung. Er riet zu einer Wasserkur. Der Wärter begleitete Peter dann jeden zweiten Tag in die Wasserheilanstalt. Peter ließ lächelnd den Badediener die Kur vollziehen. Er lag dann in den Flanelldecken, und in der wohligen Ermattung, die ihn überfloß, erstaunte er, daß man sich so viel Mühe mit ihm gab. So viel vergebliche Mühe. »Denn sieh, Doktor, ich will doch sterben!«
Im Garten traf er immer ein Schwesternpaar, die Töchter des Arztes. Es waren zwei junge Mädchen, mit schmalen Köpfen, einer braunen Haut und großen dunkeln Augen, und es war ihm, als ob diese beiden näher jener Sonne gewachsen waren, deren heimlichen Fluch er nach Europa gebracht hatte. »Perserinnen,« sagte er, so oft er sie sah, für sich, »ich liebe euch!« Die Leute hörte er stets sich über die Ähnlichkeit der beiden Mädchen ergötzen. Sie waren Zwillinge, und niemand konnte sie recht auseinanderhalten. Aber er konnte das sofort. Er sah auch, wie die eine fließend weich und die andere glühend hart war, was sonst niemand sah.
Einmal standen sie am Tor, als er allein von der Kur kam und nach Hause gehen wollte. Er schaute sie an, wollte ihnen zulachen und sah, wie die beiden großen Augenpaare, wie zwei Scheinwerfer, Mitleid auf ihn strahlen ließen. Da blieb er stehen und sagte leise: »Aber Kinder, das Sterben ist doch meine Heimat!« Die Schwestern jedoch streichelten seine Wangen und mußten sich dazu auf die Zehen stellen. Ihre großen Augen waren zugleich voll Tränen und Lachen, und das weiche Herz und das glühend harte Herz fühlten das Große, was diesen kranken Mann durchrauscht und verlassen hatte.
Jenseits des Weges war Tilla vorübergegangen. Sie grüßte hochmütig lachend und sagte später zu Hause: »Robinson, du machst Eroberungen!«
Hermann war telegraphisch fortgerufen worden und schickte aus Hamburg ein Telegramm, er müsse nach Neuyork reisen und hoffe in einem Monat wieder zurück zu sein. Als Peter das Telegramm las, überkam ihn eine fröhliche Wehmut, die er selber nicht verstand. Er dachte und dachte und glaubte dann, diese sonderbare Stimmung käme daher, daß er nun Hermann den Anblick seines Sterbens ersparen könnte.
Dies Gefühl überrankte sein Herz so stark, daß er unbedachtsam Tilla davon sprechen wollte. Aber kaum hatte er den Mund geöffnet, so wurde etwas kalt in ihm. Er sagte: »Der Dvorak läutet!« Tilla hatte nicht läuten hören. Da rief die Klingel, kaum daß Peter das letzte Wort gesagt hatte. Tilla erschrak. Was wußte er? Sie stand groß in ihrer schlank gefaßten Üppigkeit vor ihm, schön wie eine Zeder, achtlos dieser Welt ergeben, siegreich und stolz in ihrer Gesundheit. Sie fürchtete ihn jetzt manchmal. Seine Verrücktheit schlug auf gefährliche Nebenwege. Mit dem Sänger hatte sie sich in eine Art eingelassen, die ihr selber nicht ganz recht war. Aber Peter sah sie vor sich, vom Zwiespalt seiner Gefühle heftig umdrängt. War sie das fremde Land nicht etwa, das er verloren hatte? Sie sagte gierig: »Woher weißt du, daß es Dvorak ist? Robinson, woher …?«
Da kam das Dienstmädchen und warf das Wort: »Herr Dvorak!« zur Tür herein.
Herr Dvorak trat ein, üppig und weich von der Wichtigkeit, die er sich anhaften glaubte, geschaukelt. Tilla rief: »Herr Dvorak! Servus! Denken Sie sich, unser Robinson hat Sie geahnt!« Aber heimlich stürzte ein Schauer über ihre braune Haut bei den letzten Worten.
Peter ging, schmerzlichen Gefühlen eine Beute, und er wußte und wußte nicht, was für Gefühle das seien, die ihn von Tilla und dem Sänger davongestoßen hatten. Er hatte von der Begegnung mit den süßen Zwillingen her eine Wärme im Blut behalten. Er glaubte, er müsse sie auf Tilla übertragen. Und er wußte doch, wie es um Tilla und den Fremden stand. In heimlichen Zwiegesprächen, die er nachts im Bett mit sich durch seine zähe Schlaflosigkeit hindurch hielt, hatte er sich mit dem Blut der Schwägerin auseinandergesetzt. Das Blut der Schwägerin war wie das Blut einer Zuchtstute gewesen, schwer, voll Drang und zuwartender Kraft. Kein Name war bei diesem Zwiegespräch gefallen. Keine andre Person war zwischen sie und ihn gekommen. Es war ein aus der Ewigkeit her reines Beieinandersein des tiefsten und wahrhaftigsten Bluts gewesen.
Peter ging den steinigen Weg wieder hinab, dann über den weichen gepolsterten Tannenwaldweg und zur Wasserheilanstalt, Er wollte die Zwillinge sehen und mit ihnen sprechen. Aber sie waren nicht da, als er kam. Der Arzt fragte im Vorübergehn: »Wie schaut's bei Ihnen aus?« »Gut!« sagte Peter nur und entfernte sich. Er ging jetzt schon wie zögernd, auf einen Stock gestützt und tief wie über sein krankes Herz vornüber gebeugt. Im Hotelgarten neben dem Sanatorium saßen viele Leute um eine Schrammelmusik. Ein Glas zersplitterte. Eine heftige Stimme schimpfte. Ein Maulbeerbaum warf Peter eine reife kleine Dolde seiner Früchtchen auf die Hand, die den Stock führte. Ein schleimiger Saft blieb von den Beeren auf der Haut. Vier junge Mädchen kamen von der Badeanstalt herauf. Das Wasser schien noch an ihnen zu glänzen. Ihre Jugend strotzte. Peter schaute sie im Vorübergehn scharf an. Er sah in ihnen hinter den jung drängenden Brüsten, die den geblümten Stoff heimlich aufpreßten, hinter den dummen funkelnden Kinderaugen, hinter dem mutwilligen Gang, Keim und Skelett. Entstehn und Endigen! Das war nicht schreckhaft, nur von der Ewigkeit her natürlich.
Die vier Mädchen tollten vor ihm daher wie junge Hunde. Sie gingen seinen Weg im Zickzack vor ihm hinauf, auf die Villa Walküre zu. Dort stand Tilla in der Tür. Vielleicht hatte sie den Sänger hinausbegleitet. Der stieg die lange Treppe ins Dorf und zur Elektrischen hinab.
Peter ging zu ihr und sagte ruhig: »Tilla, schau diese vier Mädchen an, die vom Baden kommen. Ich sehe in ihnen Keim und Skelett.«
»Pfui!« machte Tilla. Sie wollte gehen. Aber sie blieb. Seit einiger Zeit kam etwas immer stärker aus Peter, das sie gegen ihren Willen heimlich in Besitz nahm, eine dunkle, geschlossene Kraft, die sie nicht erkannte.
»Ihr seid alle,« fuhr Peter fort, »angeknüpft an ein Drahtseil zwischen eurer Geburt und eurem Tod. Aber sieh, ich bin das nicht. Ich bin ins Endlose abgeschnitten worden.«
Dann ging er an ihr vorbei und in seine Zimmer, und er war so etwas wie glücklich, daß der Sänger nicht mehr bei ihr war. Abends aßen er und Tilla zusammen, während eine ihm fremde Dame hereintrat. Sie begrüßte Tilla lärmend und schaute sie mißtrauisch an. »Ach, verzeih, du kennst ja unsern Robinson noch nicht!« sagte Tilla. Früher hatte Tilla diesen Namen stets nur in der Familie benutzt, jetzt wandte sie ihn bei jeder Gelegenheit an. Sie nannte diesen Namen, weil er ihr verächtlich erschien und weil sie sich für die Gewalt, die der Schwager mit dem Span über sie gewann, rächen mußte. Manchmal variierte sie auch: »Unser Peter aus der Südsee, oder der Killekillepeter.« Aber Peter verstand das wohl und verargte es ihr nicht. Es knüpfte sie ja, aus dem dunkeln Chaos heraus, in dem sich alles ungelöst Ursprüngliche der Menschen in Gut und Blut durcheinander mengte, an ihn an, aus der strudelnden Schlucht des Gefühls heraus. Und durch diese Schlucht hatte Kililiki ihm Wege gebahnt.
Ein gewittriger Augusttag ging schwer und gereizt dahin, an dem Peter sein Herz noch um ein Gewichtchen leichter werden fühlte. Er legte sich in einer späten Nachmittagsstunde, oben, wo der Rasen an den Wald stieß, mit dem Bauche auf den Boden, öffnete das Hemd und drückte die nackte linke Brust fest an die krümelige Erde. Es war ihm, als ob der Boden leise wellte unter seinen schweren Herzschlägen. Peter wußte nicht, weshalb er so sein Herz in den Erdboden hineinklopfen ließ. Er lag eine Viertelstunde da, dann hörte er Tilla heraufkommen, und er schloß rasch sein Hemd. Die Erde rann wie Tierchen an seiner Haut hinab. Er stand auf.
Tilla sagte im Vorbeigehen: »Ach, Robinson! Du!«
Peter schaute sie an, und sie blieb unter seinem Blick stehen. Es war ihr, als läge dieser Blick tief in der Erde und sei ein Wasser, das sie von dorther plötzlich anschaute. Sie erschrak.
Peter sagte gleichmütig: »Es erleichtert dich, wenn du mich mit diesem Namen nennen kannst.«
Tilla erschien es wie selbstverständlich, daß er dies an ihr durchschaut hatte. Sie antwortete einfach: »Ja!«
Da meinte Peter: »Das tut mir leid, denn morgen kannst du nicht mehr Robinson zu mir sagen.«
»Weshalb nicht?« fragte sie.
»Weil ich heute oder morgen sterbe!« sagte er ruhig und gleichgültig.
Es schauerte sie. Ein Grausen überlief sie, wie vor einer Weissagung; es war, als ob eine der geheimen Kräfte den Nebel vor dem kommenden Tag weggeblasen hätte, und sie sah den erschreckend nackten Leib des nahen Teils der Zukunft. Sie wurde kleinlaut. Sie sagte: »Peter, ich werde es nicht mehr tun, wenn es dir weh tut. Verzeih mir!«
»Ich hab nichts zu verzeihen!« antwortete er. »Du bist jung und gesund. Auch ich hab einst getan, was ich wollte.«
»Du warst König einer Insel!« meinte Tilla. Der Spott wich ganz von ihr. »Soviel ist keiner von uns gewesen.«
»Wenn du am Klavier spielst, so bist du das auch, und mir ist, als ob ich's wieder sei. Wenn ich in eines der großen Pferdeaugen schaue auf der Straße, oder vor der Wirtschaft unten, so bin ich's wieder! Heute ist Vollmond.«
»So! die Nachtinsekten fliegen wieder so stark.«
»Woher weißt du das?«
»Ich sehe sie jeden Abend.«
»Nein, ich meine, woher weißt du, daß sie fliegen, weil der Mond kommt.«
»Das weiß ich nicht!«
»Aber ich weiß es; ich spreche mit ihnen.«
»Was sagst du ihnen denn?«
»Ihr könnt sterben, ich muß leben!«
»Peter!« schrie Tilla auf. Es ward ihr unheimlich. Die Dämmerung floß aus dem nahen finstern Wald. Sie waren beide allein im Garten. Sie wäre gern ins Haus gegangen. Aber der grausige unverständliche Zauber seiner sonderbaren Worte hielt sie draußen bei ihm.
»Ja, das sag ich doch!«
»Und sie … sie antworten dir?«
»Natürlich!«
»Was sagen sie denn?«
»Sie werfen sich in Lüsten übereinander und zeugen, und sie sagen: ›Unser Tod ist doch unser höchster Augenblick. Unser Tod wirft uns von Zukunft zu Zukunft.‹ Und ich sag: ›Das weiß ich. Euer Tod ist Glück!‹«
»Hassest du sie wegen dieses Glücks?« fragte Tilla.
»Ich hasse sie. Aber das ist Liebe. Ich hasse dich ja auch.«
»Also liebst du mich auch?« lachte Tilla, aber unsicher.
Da sagte Peter: »Der Sänger kommt den Weg herauf. Geh!«
Tilla erschrak. Wieder der Sänger? Sagte er das in einer Absicht? Denn er konnte von hier aus weder hören noch sehen, ob jemand drunten den Weg heraufkäme, besonders in der Dunkelheit.
Peter meinte: »Du siehst ihn nicht. Aber ich sehe ihn! Das ist, weil ich mit den Nachtinsekten sprechen kann, weil ich sechzehn Jahre auf Kililiki gelebt habe, und weil heute oder morgen, wenn der Mond über den Anninger steigt, ich sterbe. Gott sei Dank. Ihr habt die Natur verlassen, deshalb konnte ich nicht mehr zu euch zurück.«
»Aber du bist doch bei uns. Mußt du dich über uns beklagen? Pflegen wir dich denn nicht gut, sag, Peter?«
»Ja, als Kranken pflegt ihr mich. Ich aber war König von Kililiki und sah der Welt durch den Nabel. Da ist der Sänger.«
Peter wandte sich schroff um und ging davon.
Hinter den Hecken trat der Sänger hervor. »Servus, Gnädigste! Die Zofe sagt mir, Sie sind …« Er sah den langen Robinson davongehen … »Stör' ich?« fragte er beleidigt.
Tillas Herz machte einen Schlag. Woher wußte Peter, daß Arnulf kam. Er hatte es gefühlt. Sie ging rasch den Weg zum Haus hinab. Der Sänger trottelte hinter ihr drein mit ängstlichen Fragen. Sie wehrte ihm unwirsch ab. Das Grauen lief wieder über sie hin und her. In ihrem zwiespältigen Herzen dämmerte etwas auf von der fremd gewordenen Seele Peters, die sich in die geheimnisvollen Zustände der unentdeckten Insel in der Südsee zurücksehnte. Erst als sie eine Weile mit dem Sänger im hellen Zimmer war und über allerlei alltägliche Dinge gesprochen hatte, wich der Spuk von ihr.
Peter ging in den Wald hinauf. Er lief oben durchs Gestrüpp an der Ruine vorbei. Dann kam er über die Kalkgruben an die nackte Kante der Hügel. Der Mond hob sich hinter der künstlichen Ruine in die freie Nacht und warf sein Licht auf den steilen Buckel des Anninger. Peter ging bis zu den Felsen, die den Hang einbordeten und die gerade der erste Mondstrahl streifte. Peter schlich am unebenen Rand entlang, jäh an der Kante, streckte den müden Kopf steil rückwärts und sagte: »Bitte, erhöre mich, du Drunten!«
Aber der Mond füllte die Kluft des Kalkbruchs unter seinen Füßen schnell mit einem dicken Teich von grüner zäher Dämmerung. Er warf Peters Schatten lang, vielfach gebrochen und dünn vor ihm her über die Steine und in die Bäume hinein. Im grünen Himmel zogen sich dünne Wolkenschwaden zusammen und spreizten sich jäh auf über das ganze Firmament, wie eine weitausgestreckte Hand mit fünf Fingern. Allmählich erkannte Peter das Bild der Wolken. »Nimmst du mich, Hand?« fragte er da.
Er sprang von einem Felsen hinüber zum andern. Es schwindelte ihn ein wenig beim Sprung. Er fiel jenseits nieder und krallte sich in ein Eichengebüsch hinein. Ein Fuß trat hinterrücks ins Leere. Das Herz zuckte veratmend in den tiefen Trichter zurück. Aber Peter ließ die Hände nicht los und zerrte sich hoch.
Da ging er von den Felsen davon in den dunkeln Wald. Er spürte sein Blut im Fieber dünn und heiß werden. Wie schmerzende und schneidende Töne durchfloß es seine Schläfen. »Jetzt singt er Amfortas!« sagte Peter, »und sie spielt dazu.« Er schritt rasch durch den Wald zurück. Das Fieber stieg hastig. Seine Beine zitterten. Seine Augen fingen das Nachtbild nur mehr schwankend auf. Er ging zur Villa. Von hinten aus dem Wald heraus fiel er den Hang hinab in den Garten. Er hörte die Stimme des Sängers. Sie schwebte durch die Nacht wie eine andre Welt, und wie ein süßes mächtig wühlendes, steigendes und stampfendes Segelschiff zog die Musik des Klaviers mit der Stimme daher.
Peter stürzte durch den Garten hinab näher zur Musik hin, die sein Herz umarmte. Seine Schläfen bebten. Seine Adern durchzogen die mordenden Schwärme der Malariatierchen, und wie eine unerschöpfliche Kaserne warf seine Milz immer neue Bruten aus, die erobernd ihn durchstürmten. Der Schmerz betäubte ihn ein wenig. Sein Gemüt floß in die Töne hinein, die ihm entgegendrangen.
Da sah er in ein offenes helles Fenster. Er ließ sich in den Rasen nieder und schaute. Am Klavier saß Tilla. Ihre Bluse war aus weißer leichter Seide, tief ausgeschnitten, und das Licht drang unter dem Schirm am Klavier hell auf die starke Brust ein. Ihre Finger rissen Töne aus den Tasten. Ihre scharfe Nase sprang ins Licht der Klavierlampe, und der Mund verzerrte sich in der Leidenschaft des Spiels wie eine Pflanzenranke. Der Sänger stand hinter ihr. Es brannte im Zimmer kein Licht außer der Klavierlampe. Der schwarze, große und weiche Kopf des Sängers stand im Dunkeln, nur blaß beleuchtet von dem grünen Licht, das durch den Schirm aufwärts drang. Man konnte nichts erkennen in diesem Gesicht, nur daß es abwärts gerichtet war, und daß sich der große Mund öffnete und ihm das Wunder des Verfluchtseins entströmte, wie ein Atem Gottes, der willkürlich Lust und Leid auswirft.
Peter sog die Musik auf. Er ließ keinen Blick vom hellen Fenster, und während der Sturm des unheilbaren Gemüts herübertoste, voll triefender Schwärze und ewig strömend, sagte sich Peter: »Ich sehe durch das helle Fenster wie in einen offenen Menschen. Jetzt wird der Sänger sich herüberlehnen und sie anfassen, denn sein Blut begehrt ihrer.«
Er war nicht eifersüchtig. Gewiß liebte er Tilla. Aber er starb ja. Die Musik des Amfortas quoll wie ein Schoß aus, wie ein trächtiger Schoß voll Ewigkeit, voll Formen und Geruch, peinigend und erlösend und wieder verstoßend. Und da legte sich langsam der schwere dunkle Körper des Mannes von hinten an die weiße zarte Bluse an. Eine Hand griff aus dem dunkeln Teich des Raumes heraus, blätterte rasch um und ging nicht wieder zurück in den Teich, sondern blieb an dem gehobenen Gewölbe der wogenden Frauenbrust liegen, die tief im Licht entblößt war, und die zerrenden Töne der Menschenstimme und die rasenden Schreie des Klaviers riefen nur heftiger und schmerzhafter auf.
Da wälzte sich Peter wieder davon und eilte in den Wald zurück. Die Erde sauste kreiselnd vor seinen fieberbedrängten Augen. Der Boden schaukelte unter seinen fiebergefüllten Beinen davon. Peter keuchte und stöhnte, sprang und fiel durch die Finsternis des Waldes den Berg hinan. Oben lief er, über Stock und Stein hinstürzend und sich wieder hochraffend. Sein Herz schlug wie ein Glockenschwengel, aber es schlug nicht genug zum Sterben, und er lief und lief. Er hörte seine Herzschläge wie eine Sturmglocke die nächtliche Heide überbollern.
Dann stürzte er hin. An einer hellen Stelle stürzte er hin, mit dem Rücken über einen flachen Felsblock, und um den Block krauste sich das Gebüsch wie verborgen schwarzes Haar. Der Mond schien groß und dumm, wie die Erde, mitten in seine Augen. Das Herz stieß wie ein Maschinenkolben in seiner Brust, seinem Willen fremd. Er riß die Augen auf, denn aus der Tiefe der Gräser und des Buschwerks, der Steine und aus dem Spalt des Tals und aus den Eichen und Tannen stiegen Heere von Insekten auf. Der Mond stand wie ein Molochmaul feurig geöffnet in der Nacht. Die Nacht, allmählich und dunkel erglühend, war wie ein ungeheurer Ofenbauch aufgewölbt. Die Sterne blitzten wie Löchlein in den eisernen Flanken, durch die das innere Feuer schlug.
Aus einem Wacholderbusch säuselte das Volk »Grüne Braut« auf. Es waren zephirgrüne, zarte Insekten und durchsichtig wie ein Tautropfen, und die Männer trugen zwei buschige hellbraune Hörner am Kopf. Die Prismen ihrer Augen funkelten herausgeschoben nach allen Seiten in Gier, und das Quentchen Blut, das in dem Körperchen war, fühlte sich unversehens, so im Wirbel des Schwarms, zu ewiger Seligkeit erhitzt. Und eins das andre in tändelnder Gewalt überhuzelnd, nahmen sie ihren Flug, zu dem großen feurigen Maul der Nacht, das sich weit und rund über dem schwarzen Anninger aufriß. Das Volk der zarten Dreischwänze folgte ihnen gleich aus dem trocknen Gras heraus. Die schwanken drei Fäden am Steiß steuerten das braune Pünktchen des Leibes sicher durch die grüne entzündete Luft. Die Fädchen griffen im Steuern nacheinander, fühlten sich zärtlich ab und hingen auf einmal aneinander. In kleinen erregten Klümpchen und in ganzen Grüppchen liebegesegnet, stiegen die Tiere auf, die Luft zischelte leis von ihrer ungeheuren Schar, und der Mond riß sich ihnen glühend entgegen. Und noch geringere Tiere rasten in Ballen verführt aufwärts und kreiselten zugleich in wütenden Kringeln um den Geruch, die Verführung und die Lust des Geschlechts herum, als ob sie alle an kurzen unsichtbaren Schnürchen an die eine Vorstellung festgebunden wären.
Die Tannen warfen einen Schwarm von kleinen braunen Motten in die Nacht aus. Die Flügelschläge schlugen weich und samtig, und der leise Lufthauch ließ die Flügel süß flattern, wenn sich Mann und Weib trafen. Ein weißes Heer von Schwänen strömte hinterdrein. Das grüne Zauberlicht tränkte ihren weißen Staub. Die großen braunen Augen waren mit grünem Reif des Mondlichts überzogen. Die beiden männlichen Fühler wedelten am Kopf wie Palmwedel in einem heißen Seewind. Und Eintagsfliegen kamen aus Tümpeln hoch und kreiselten durcheinander und liebten sich, während der große runde Mond sie an sich ansog und sie selber wie ein Ball aus Millionen von Verliebtheiten geradeaus in die Nacht aufwärts zogen, dem Volk »Grüne Braut« und den Motten nach. Fliegende Ameisen mit Leibern wie Tannennadeln, dünn und lang, und geäderten Seidenflügeln schossen spröd, blind und raschelnd zusammen zur großen Scheibe empor. Dann entstiegen den jungen Eichen wilde ungebärdige Schwärme von fett behaarten, dicht bestaubten Schmetterlingen. Wie ein Pusten warfen sie sich auf, einer über den andern, steil dem Mond zu, und der Staub fegte von ihren dicken Leibern, wenn die vielen Männchen den geheimen Duft eines Weibchens trinken wollten und sich über sie herwarfen, dreißig, fünfzig über eines. In stoßenden verwilderten Schwärmen kugelten sie dann unglücklich und gewaltsam aufsteigend um die paarweis verbundenen Glücklichen, die, aneinander gefesselt, der geheimen Süßigkeit des Mondes zustrebten und in denen Sehnsucht, Begattungsseligkeit und Fortpflanzung eins waren. So kamen Schwarm um Schwarm von den Nachttierchen. Alles was Flügel hatte strebte aufwärts an Peters heißen Augen vorbei.
»He! he! ihr!« flüsterte er. »Nehmt mich mit! Ich bin ja euer! Von Kililiki. Wißt ihr denn nicht mehr?«
Sie aber liebten sich und flogen hoch.
Die Schnaken auch hatten sich drunten aus dem trägen Bach erhoben, der hinter den Häusern die Gärten durchfloß und dessen stinkige Faulheit von ihrer Blutgier hitzig belebt war. Aus der Dämmerung waren sie dorthin mit ihrem Raub von Menschenblut zurückgekehrt, und nun zog sie der Mond hinan, wie er alle Völker aus den Büschen, Gräsern, Steinen und Bäumen zog. Die Schnakenweiber schwärmten auf, die Ranzen gedunsen voll Menschenblut; mit den sechs langen Beinen im Flug durch die Luft rudernd, steuerten sie, den blutgefüllten Schlauch schwer, aber hitzig geradeaus, und als sie Peter überflogen, leuchtete das Blut ein wenig himbeerrot durch die Leiber durch. Die Männchen umfuhren sie tänzelnd im Aufwärtsdringen und wedelten erregt mit den großen Blättern ihrer Hörner. Eine jede Schnake hatte den Kopf klein und hart unterm Nacken niedergebeugt wie zum Stoß. Der Saugrüssel stieg steil geradeaus aus ihm, die Fühlhaare waren fest und geil angepreßt, und er stieß heftig vor in den Zauber des Mondlichtes wie eine Bohrmaschine.
Da fliegt das Blut Tillas und das Blut des Sängers! sahen die Augen Peters. Das gestohlene Blut! Und Tilla wird mit ihren marmornen braunen Fingern jetzt an den Knöchel oder seitwärts ans Knie greifen, wo sie angezapft wurde. Und der Sänger wird über sie hergehen. Und Hermann ist arm und fern und unglückselig. Peters Augen flossen über, verdehnten sich, waren auf einmal Teiche, die in ihm quollen und wie Seen über die Welt her sich verbreiteten.
Und es kamen noch hinter den Bluträubern die schönen Kotbienen, die wie Tiger so schön sind, schwarz und gelb beringt, und die wie Maschinen im Flug auf der Luft stehenbleiben können und die doch verrufen sind, weil sie von Gestank und Fäkalien leben.
Aber auch sie hörten Peter nicht an, als er rief: »He, ihr! Ihr wenigstens, nehmt mich mit! Kililiki, Kililiki!« Sie schnitten in der Luft übereinander hin wie Torpedos, blieben plötzlich im rasenden Geradeaus übereinander stehen und schossen dann in sich hinein wie Kugeln und schnitten hart wie Stahlschneiden von hinten schräg aufwärts in die andern Völker, die in dichten langen Schwärmen dem Molochmaul über dem Anninger zuflogen. Peter sah, wie der weite unübersehbare Schwarm, der trotz der Massen nur zart in die Nacht leuchtete wie ein verschwimmender Rauch sich hoch und höher zog und fast wie eine Brücke aus braunem Reif von der Erdenhöhe zum Mond ging. Die getigerten Torpedos überrannten von hinten alle Schwärme. Die Schnaken wollten heftig vor ihnen davonstoßen. Aber es war zu spät. Sie sanken getötet durch das lächelnde Licht des Mondes. Aus den Schwärmen der Motten flatterte der Staub verzweifelt auf. Der Mond lachte kalt, dumm und geil und ewig wie Kililiki. Er war Kililiki. Er riß sich weit auf und die Insekten strebten ihm bebend und totgeweiht zu. Ihre Brut schwebte schon auf die Erde nieder. Ihr Leben war daran, sich in ihrem Tode zu erfüllen. Die zarten Dreischwänze waren vom Wind, der sich über den Bergrücken aufwarf, erdrückt worden und gingen wie ein braungepunkteter Schnee wieder auf die Erde nieder, ein Schnee von Leichen, die befruchtet waren. Das Volk »Grüne Braut« wurde von den Motten überrannt, die Motten zwischen den Scharen der erregten Schmetterlinge erdrückt, und die Schmetterlinge, eingeschlossen in die zusammenpressenden Netze der Schnaken, schlugen nur mehr schwer mit den Flügeln und sanken scharenweise zu Tode ermattet aus den Höhen, und alle Tiere, die der grünen neuen Welt, die leuchtend über die Erde stieg, zustrebten, waren dem Tod verfallen. Sie gingen volkweise unter. Sie waren Völker und Zeiten, sie waren Gestirne, und die Atmosphäre der Ewigkeit, die zwischen Erde und Mond lag, zerstörte sie.
Diesen Krieg sah und erlebte Peter Pirath.
Der Vollmond stieg den sich mächtig hebenden Bergrücken steil entlang. Er stieg über den Anninger wie einst über die Insel im Stillen Ozean. Bestand sie noch? Sie bestand nicht mehr, seitdem Peter unterging. Unterging wie die Welten der prismenäugigen Nachttiere. Die Fieber schwangen sich durch Peters Adern und zielten nach der Quelle des Bluts. Er sah in sich die Malariatierchen wie Milliardenheere über seine roten Blutkörperchen einstürzen, sie zerstören und verschlingen und unwiderstehliche Artillerien weiter auf die Festung im Mittelpunkt seines Landes zurasen, auf die rote mürbe Herzfestung, die soviel Leben erlebt hatte. Und dann nahmen die Scharen plötzlich das Gesicht des Sängers an, das blasse, feiste Gesicht; er öffnete sein großes, schwarzes Maul und schlang und schlang von Peters Blut, daß seine Mundwinkel wie Stromfälle troffen, bis die schöne Schwägerin Tilla, die nebenan stand, sagte: »Unser Robinson spritzt sein Blut dahin!« Und dann schlug der Sänger rasch sein Nußknackerkinn zu, und stieg, die Hand um den hohen Frauenbusen pressend, Amfortas singend, mit dem Weib in die Wälder. Die Fieber zogen zuhauf in Peter, wie die Insekten nach dem Mond gezogen waren, wie die Wünsche und Erinnerungen an Kililiki zu seiner Seele strömten. Er harrte der Erlösung, so wie er einst, wenn die Fieber wichen, den Eingeborenen die schweren süßen Worte der Verbrüderung ins Blut senkte … Es rasten Erkenntnisse durch ihn statt der Erlösung. Erkenntnisse wie auf Kililiki so roh natürlich, so gewaltsam selbstverständlich. Blutzusammenhänge von Entwicklungen und Geschehnissen aus seinem Leben und seinem Untergang. Er rief:
»Erbarmen! Erbarmen!
Mir Armen! Mir Armen!«
Nachtvögel strichen über ihn, tief und heftig sich aus der grünen Dunkelheit auf ihn niederschleudernd. War es denn noch wahr, daß er die Völker der Insekten nach dem Mond streben und sterben gesehen hatte? Wo war der Mond? Er stand wohl schon hinterm Berg. Sahen seine Augen nicht, mehr? Erbarmen! Erbarmen! Sein Herz ging wohl noch. Dann auf einmal schlug es wie ein Tennisball ins auffangende Netz. Äh! äh! Ich komm' nicht mehr heraus. Das Strickgewirr der Maschen umsaugt mich. Äh! äh! erstickt mich … rief das Herz. Der ewige Reif stieg kalt aus Peters Blut auf die entsetzten Gewölbe seiner Augen. Und da der Mond versunken war, konnte die Venus über die Hochebene leuchten. Im bleiernen Glanz der zwei erstorben aufwärts gerichteten Augkugeln blieb sie mit einem kleinen blitzenden Widerschein stehen, kalt und hart. Robinson war tot.
Ende