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Zweites Kapitel

Am Ende dieser drei Wochen fuhr Hermann Pirath nach der »Teufelsheide«. Die Teufelsheide war eine weite Hochebene, die ringsum von Wald und von einsamen Waldgehöften eingefaßt war. Sie war sonst ganz verlassen. Der Geist des Volkes ließ allerlei überirdische Heimlichkeiten auf ihrer rauhen Fläche spielen, über die im Sommer niedrige Gewitter sich heftig entluden. Hin und her lagen Moore und Teiche, und auf sandigem Boden wuchsen niedrige Föhren, Eibensäulen und Wacholder, und Heidekraut kämpfte mit dem Moor.

Mitten in ihr lag ein sonderbarer kleiner Gasthof, der bei den Bauern in den Waldgehöften in einem zweifelhaften Ruf stand. Wovon mochte solch ein Gasthof wohl auch anders leben? Die Gegend war verwunschen, und außer Jagdgesellschaften schien niemand in der Welt die Heide zu kennen. Sie lag im Land wie ein Leberfleck. Ein Teufel hatte einst hier die Erde gesegnet, und die grüne Fruchtbarkeit war gewichen und das verdorrte Mal geblieben.

Hermann Pirath hatte auf ihr ein Stück Jagd gepachtet und ging zum erstenmal hin, weniger um zu schießen, als um zu schauen, was eigentlich droben los wäre. Er ließ sich von der Bahnstation die zwei Stunden Wegs bis zum ersten Bauerngehöft fahren. Der Wagen sollte dann auf ihn warten. Hermann besprach mit dem Bauern die Lage der Jagd, die das große Gebiet dieses und zweier Nachbarhöfe umfaßte, und ging allein weiter. Der Bauer rief ihm noch nach: »Passen Sie auf, es könnte Ihnen eine merkwürdige Schweinesache unter die Augen kommen.« »Wieso? Was denn?« rief Hermann zurück. – »No, es spukt wieder einmal. Das läßt der Gasthalter in der Heide nicht ausgehen.«

Hermann stieg in die pralle Sonne hinein und kümmerte sich nicht mehr um die Worte des Bauern. Das Heidekraut knisterte um seine Stiefel. Aus dem niederen spröden Wachstum um den Ausschreitenden stieg die Hitze hoch wie aus einer Kachel. Aber es war, als ob der Duft zerriebener und süß schwelender Wurzeln hinein geräuchert sei. Es war ein Weihrauch im Julitag. Hermann schritt schwitzend rasch aus. Manchmal raschelte ein Häschen davon. Vögel warfen sich in die Luft und in die Hitze und fielen nieder ins Bad der heißduftenden, knisternden Sträucher. Die dunkeln Wacholdersäulen standen wie eingeschlafene steile Mädchen einsam hin und her.

Hermann gefiel dies alles. Sein Kopf erholte sich. Sein Herz wurde weit und warm. Er wischte sich den Schweiß aus dem dicken Nacken, blieb bald stehen, um einem Vogel nachzuschauen, der schwarz aus der Luft herniederglitzerte, und kaum daß ihn die Nähe der Heideerde empfangen hatte, schon in dem Geflecht und dem braunen, olivenen und heideroten starren Schaum des Bodens verschwunden war. Dann hielt er die Schritte an vor einer kleinen heftigen Gruppe im Sand. Eine Ameise massakrierte eine Wespe. Sie hatte das große Tier auf dem Rücken liegen. Sie hackte ihre kleinen Krampen von Beinchen in den gelbschwarz geringelten Leib und versuchte zugleich mit ihren Zangen um den dünnen Wirbel zu kommen, mit dem der Wespenkopf am Rumpf saß. Die Wespe bog ihren Leib krampfhaft auf, und ihr Stachel flog unglücklich aus und ein und aus, aber immer in die Luft. Die Ameise wirbelte auf dem Wespenleib herum, den Kopf tief unter den Kopf des Feindes gebohrt, langsam die Wespe enthauptend. Und auf einmal waren beide still. Auch die Ameise rührte sich nicht mehr.

So erlebte Hermann, wie der kleine Jäger den geflügelten und gefürchteten Tiger erlegte. Weshalb verallgemeinerte er dann und übertrug das mikroskopische Begebnis auf die große Erde und auf Menschen? Nun dachte er, wie in einem Blitz, an die verrückte Hexe und an Peter.

Seine Sonnenfreude war gestört. Er wollte jetzt schießen. Er deckte sich in einer kleinen Gruppe von Föhren, stieß den Stock mit dem kleinen Sesselgriff in den Boden und schaute aus. Er hatte die Flinte aber noch nicht entsichert.

Da sah er in der Ferne etwas sich rasch über die Heide bewegen. Erst dachte er: ein Auto! Was konnte so schnell zwischen dem niederen Strauchwerk voran?« Aber es gingen keine Wege in der Heide. Es kam auf ihn zu. Es war etwas Schwarzes und etwas Weißes, und das Weiße flatterte wie eine Flamme. Es waren Reiter. Sie kamen nun hinter kleine Föhrengruppen, verschwanden immer auf drei, vier Augenblicke, kamen von Baum- zu Baumgruppe immer wieder auf kurze Sekunden zum Vorschein. Hermann verlor ihr Bild nicht aus den Blicken. Er sah auf einmal, da ein größerer Zwischenraum zwischen den Bäumen und die Kavalkade schon näher gekommen war, daß auf dem einen Pferd eine Gestalt saß, die im Galoppieren ein großes helles Tuch von sich löste und auf einmal nackt und weiß auf dem schwarzen Pferd dahinflog. Schwarze Haare flatterten lang und wagerecht hinter ihr.

Hermann lachte sonderlich berührt. Die Sonne warf ihr Licht auf die nackte Reiterin, und die Hitze der Heide stieg wellend zwischen seinen Augen und ihr auf. Es war ihm komisch und doch märchenhaft. Er suchte, betroffen, wie er war, nach dem Namen jener alten legendären Nacktreiterin und fand ihn nicht gleich. Aber als er auf einmal laut sagte: »Lady Godiva! Ach ja, Lady Godiva!« da waren die Reiter verschwunden. Hatten sie abgeschwenkt? Waren sie von den Pferden gestiegen? Hermann spähte aus seiner Föhrengruppe heraus rundum, sah nichts, trat hinaus, und im selben Augenblick hörte er die Pferdehufe dumpf trommeln, und noch wußte er nicht, in welcher Richtung, als die zwei Reiter durch ein Boskett von Föhren brachen, das keine zwanzig Schritte von ihm entfernt war. Voran stieg ein Reiter in einer hellen Hose und blauer Jacke heraus und dann die Lady Godiva, und sie rasten auf den erschrockenen Hermann zu. Der kam sich vor, als ob er heftig an einem Schlüsselloch ertappt worden wäre. Aber dann fuhr sein Herz wie ein Luftballon an die Decke, zu seinem Hals hinauf, denn die nackte Reiterin, die jetzt an ihm vorbeisauste, war Ree, und den andern kannte er auch.

Er rannte wie besessen, von rascher Wut gestoßen, hinter den Reitern her und rief: »Dirne! Dirne!« Und hob mit zitternden Armen seine Flinte. Die Reiter waren ihn erst im letzten Augenblick gewahr worden. Die Frau trieb den Hengst an. Ein kleiner Schrei stieß schrill auf. Der Mann in der hellen Hose fuhr in die Tasche, drehte sich zurück und schlug mit der Hand von oben herab einen Knall durch die Luft, der rasch und dumpf verscholl, wie von der Sonnenbrut der Heide erstickt.

Dann waren die Reiter verschwunden.

Hermann stand allein mitten in der Sonne. Es fror ihn. Er schaute die Läufe seines Gewehrs entlang, die auf den Boden gesunken waren. »Jetzt liegt wohl einer dort unter Wacholder und Heidekraut!« sagte er und fühlte, wie bleich er war. Es konnten nur Sekunden gewesen sein, daß er die Überlegung verloren hatte. Er zog den Kolben untern Arm und ließ die Läufe aufknacken. Da sah er, daß die beiden Patronenscheiben jungfräulich waren. Wie er das feststellte, war er zuerst verwundert. Hatte er denn nicht abgedrückt? Und mit einemmal stieg eine neue Wut in ihm hoch. Er ballte die Fäuste über die Heide und schrie: »So, du hast auf mich geschossen! Zuhälterart! Auf mich geschossen?! Du Flibustier! …«

Hermann ging geradeaus rasch zum Bauernhof zurück und trug nur einen Gedanken in sich, den Wut und Rachegefühl, Bruderliebe und Empörung in Flammen einhüllten und fest schmiedeten. Mit diesem Gedanken wollte er vor seinen Bruder hintreten und ihm sagen: »Das hat sie gemacht! Das hab ich gesehen! Jetzt ist dir das Handeln leicht. Und während er sich das sagte, dachte er an das Erbteil, das ihnen vom Namengeber der Familie überkommen war. Er fühlte sich des Bruders sicher, so wie von ihm der mit Staunen gemischte feindselige Bann, den jenes Frauenzimmer auf ihn ausübte, gewichen war. Er war schadenfroh, der kleine dicke Hermann. Auch für sich selber nahm er klare Erleichterung aus dem furchtbaren Begebnis. Während der Fahrt zur Stadt wuchs in ihm das repräsentative Bewußtsein des Familienältesten. Jetzt wollte er befehlen.

Dann trat er in Peters Haus, wo er den Bruder vorfand, mit Unmut, Sicherheit und diesem Bewußtsein gewappnet auf. Er machte Peter schonungsvoll darauf aufmerksam, daß er ihm etwas ganz Unerwartetes und Schreckliches zu berichten habe und daß er aber hoffe, es bringe ihm wenigstens die Leichtigkeit einer klaren Tat. Darauf erzählte er kurz, was er in der Heide erlebt hatte.

Als er geendigt hatte, merkte man Peter kaum einen Eindruck an. Er schwieg noch eine Weile und fragte dann kühl: »Ein Irrtum ist natürlich ausgeschlossen?«

»Natürlich,« antwortete Hermann hitzig, »sonst wär ich nicht hergekommen.«

»Tja,« machte Peter nach einer kleinen Weile, »dann muß ich als Erstes den Betreffenden fordern. Du sagst, du hast ihn erkannt?«

»Du wirst ihn nicht fordern!« entgegnete Hermann.

»So? Weshalb nicht?«

»Weil er ein Lumpenkerl, ein weltbekannter Landstreicher ist. Du findest kein Ehrengericht, das diese Forderung behandelt, und keinen Menschen, der dir Zeuge sein will.«

»Wer ist es denn?« fragte Peter hitzig lauernd.

»Der Friseur Larisch!«

Peter legte den Kopf in die Hände, um nachzudenken, wer der Friseur Larisch war. Auf einmal richtete er sich auf. Er war blaß und sagte, von Abscheu geschüttelt: »Pfui!«

Er erinnerte sich nun, daß dieser Larisch einmal Lakai am Hof der nahen Residenz war. Gerüchte brachten ihn in Zusammenhang mit einer Prinzessin, die aus der Residenz verschwand, zur gleichen Zeit, da Larisch den Dienst im Schloß verließ. Dann wurde Larisch Friseur in der Heimatstadt der Piraths und lockte sich Kunden an mit den Erzählungen seiner galanten Abenteuer am Hof. Plötzlich verschwand er. Es wurde verbreitet, der Fürst habe ihn erschießen wollen, es sei ihm dann vom Hof eine große Summe gegeben worden, damit er das Land ganz verlasse. Seitdem tauchte Larisch nur mehr von Weile zu Weile in der Stadt auf, und Reisende erzählten, daß sie ihn als Kavalier bald im Osten, bald im Westen, in Kopenhagen oder Kairo sahen, einem Dasein ergeben, das niemand recht erkannte. Besonders Pferderennen und Spielsäle solle er pflegen, und einmal war er auch in einen Falschspielerprozeß verwickelt.

Diese Gestalt war Peter nun auf einmal lebendig, mager, gepflegt und doch wie beschleimt. Er sagte erschüttert zu Hermann: »Das ist Ree?« und schüttelte den Kopf. Dann fügte er hinzu: »Jetzt ist der Entschluß natürlich nicht schwer!«

Hermann drängte ihn, die Angelegenheit gleich durchzubesprechen, und wollte so viel davon auf sich nehmen, als es die Lage erlaubte. Hermann begab sich dann gleich zum Rechtsanwalt.

 

Peter war allein und stand mitten im Zimmer, als der Bruder gegangen war. Es war ihm, als stünde er in einem zusammengebrochenen Haus und als ob alles in seinem Kopf und an seinem Körper dumpf von den Schlägen der über ihn gestürzten Balken sei. Er hatte nur die eine klare Erkenntnis, daß er gern niederfiele und sich auf dem Boden winden und schreien und weinen möchte. Aber er hielt sich mühsam aufrecht. »Komm ich? so aufrecht stehend über die nächsten Stunden hinweg,« sagte es in ihm, »dann bin ich gerettet. Aber sink' ich nun hinein, dann bin ich verloren.« Sein Leben öffnete einen dunkeln und moorigen Teich. Von Augenblick zu Augenblick erschrak er vor dem schwarzen Schillern, das sich in seinem Bewußtsein finster hob. Es klang ihn an: Ehebruch! Ehebruch! Hopf! Treulosigkeit! Schmutz und Schweinerei! Friseur Larisch, der Zuhälter! Ehebruch! Betrogenes Gattentum! Beschmutztes Nest! Sumpf und Hure! Straßenpflaster, Pferdeknecht und Freudenhaus! Hopf! Ehebruch! Ein Tanz und Gebrause von höhnischen aufstachelnden Scharen zielte nach ihm. Und er machte sich so kalt, daß sein Herz ihn schmerzte, wie ein Bad im Schmelzwasser im Mai den Körper. Er stand so da und hielt sich an seinem Schreibtisch an, und es war ganz närrisch sicher in ihm, daß er es überdauerte, wenn er so stehenbleiben könnte.

So fand ihn sein Bruder, der sich zurückbeeilt hatte. Er nahm ihn mit. Sie fuhren in einem Auto durch den Stadtwald und wollten im Parkgasthaus essen. Aber wie Peter die vielen Menschen dort sah, bat er: »Fahren wir doch lieber zu dir! Die Menschen tun mir nichts. Aber ich kann nicht freundlich grüßen, wenn Bekannte vorübergehen, und mich nicht mit fremden Leuten in höfliche Gespräche einlassen. Es ist mir, als wenn heut so etwas wie ein fataler Familientag sei und als ob einige Ahnen und einige zukünftige Piraths dabei seien. Die Familie Pirath setzt sich in großer Versammlung mit der Entsetzlichkeit: Leben auseinander.«

Die beiden Brüder saßen dann rauchend den Abend über beisammen. Sie tranken und sprachen, und wie eine graue steinerne Säule stand das Ereignis des Tages mitten zwischen ihnen, sah stumpf schweigend ihrem Tun zu und drohte auf sie niederzustürzen. Dieses Beisammensein bestand aus vielen Anläufen zu einer intimen und sicheren Gemütlichkeit, die bei beiden aber wie ein Fluß in einer Grotte stets erschrocken verliefen, sobald sie die graue Säule gewahr wurden. Sie sprachen fast nur über Familie, erzählten sich von den einzelnen toten und lebendigen Mitgliedern, und Hermann brachte den Stammbaum und die Aufzeichnungen, an denen er seit jungen Jahren arbeitete. Sie verfolgten die Zweige zurück zu den Ästlein, die Ästlein zu den Ästen, die Äste in den Stamm, in dem in einer Doppelscheibe der Name jenes Jens Pirath stand, der noch an der Küste gewohnt und von Schiffahrt gelebt hatte.

»Da hast du den Piraten!« sagte Hermann. »Ein Glück, daß die Familie ins Mittelland kam und dieser Ursprung sich verwischt hat. Mit dem Namen in einer Hafenstadt hätten wir ein feines Ansehen.«

In der späten Nacht gingen die Brüder auseinander. Das dumpfe unsichere Gefühl hatte sich bei Peter in diesem harmlosen und gesprächigen Beisammensein heimlich verlaufen. Er wunderte sich, daß es so leicht in ihm war, nur kalt. »Eis! Eis!« sagte er laut in sein einsames Zimmer hinein, aus dem er ohne Zorn das Bild Rees entfernte. Die Eiszeit naht wieder. Seinen Schicksalsschlag in dieser Form auszudenken schien ihm primitiv groß und grausam. Er dachte an alle vorgermanische Urwälder, über die die Gletscher brutal hernieder wanderten.

Aber in den Tagen, die kamen, schlichen sich die Erinnerungen an die schillernde, kostbare, vielgestaltige Ree an ihn heran … Das Eis konnte schmelzen, und in schwelgendem Schmerz dachte er sich allerlei Möglichkeiten aus, wie sein Leben mit Ree anders hätte laufen können. Ich war zu tölpelhaft für sie, zu einseitig auf die beiden Beine gestellt. Sie war ein erotisches Tier. Es konnte graziös und leicht wie eine Libelle zwischen den Porzellanfigürchen tänzeln, und auf einmal packte es eine Laune und warf das ganze Porzellan durcheinander … Denn das Tier war so schön und kostbar, daß die Sorge, die man um das schundige Porzellan hatte, bestraft werden mußte.

Niemals kam aber auch nur der Schatten eines Gedankens, das Leben mit ihr wieder aufzunehmen, zu verzeihen und noch einmal zu versuchen. Es kamen Briefe von ihr. Er gab sie ungeöffnet Hermann, und Hermann gab sie dem Rechtsanwalt weiter, ohne sie zu lesen. Der Anwalt sagte Hermann, die Briefe seien alle sehr persönlich und enthielten keine Tatsachen außer der Bitte um Geld. Sie seien im übrigen so gehalten, als ob die Dame nie einen Friseur Larisch gekannt hätte und nie mit ihm im Heidegasthof gewohnt und nackt über die Heide geritten sei. Der Anwalt besprach auch nur mit Hermann die Form, in der der Prozeß geführt werden sollte. Peter erfuhr nur das Wichtigste. Er überließ den beiden alles. Er bat nicht einmal um Schonung für den andern Teil. Er sagte darüber zu Hermann: »Jeder mag seine Suppe so heiß essen, wie er sich sie gekocht hat. Ich blase die meinige selber und kümmere mich nicht um die eines andern.«

Ree blieb in ihm. Sie blieb in ihm nicht wie ein Erlebnis. Seit jenem Tag, an dem ihm Hermann die Begegnung in der Heide erzählt hatte, war alles Körperliche seines Zusammenhangs mit Ree aus ihm gewichen. Sie durchschwebte ihn wie eine Stimmung. Es gibt Träume, aus denen man erwacht, ohne lange Zeit sich von ihnen befreien zu können. Sie wehen mit in die ersten Stunden unsres Tags hinein, vergiften die Wirklichkeit dieser Stunden mit einem süßen Nachduft des träumend Erlebten. Einen Hauch von einer unmöglichen, von Schwere und Hemmung befreiten Welt schicken sie über uns, einen Hauch nur, einen verwünschenden Odem. Den Fluch einer unwirklichen Stimmung werfen sie über den Beginn unsrer Tagesarbeit.

So wie etwas schwül und süß Erträumtes, dessen Atem vor dem lichten körperlichen Tag nicht weichen wollte, lebte Ree weiter neben und in Peter.

Hermann und der Rechtsanwalt betrieben den Prozeß. Ree widerstrebte. Der Anwalt versuchte, die Scheidung auf eine für Ree schonende Weise durchzuführen. Aber Ree biß um sich wie ein toller Köter, wenn man ihr davon sprach. Sie wollte auf alle Weise nichts von Scheidung wissen. Sie sagte bei einem Besuch in der Anwaltsstube:

»Weshalb stellen Sie sich zwischen diesen gutmütigen Tollpatsch und mich? Der Mann war doch froh an mir. Er wollte mich doch so, wie ich bin.«

Der Anwalt entgegnete: »Es liegt mir fern, mich auf irgendeine Art in Ihre und Ihres Manns Gefühle einzumischen. Was ich von Ihnen verlange, verlange ich nur im Auftrag von Herrn Peter Pirath.«

»Von Herrn Hermann Pirath!« rief Ree aufgeregt hinein.

»Bitte, Gnädigste, hier ist das von Herrn Peter Pirath gezeichnete Schriftstück, das mir Vollmacht gibt.«

»Das ist ein Wisch. Man bläst drüber.«

»Ihre Gegenpartei tut das jedoch nicht. Darf ich höflichst ersuchen, daß mir die Gnädigste ihren Rechtsvertreter bezeichnet. Es dürfte Ihnen doch angenehmer sein, und allerlei Peinliches bliebe Ihnen erspart, wenn Gnädigste nur mittelbar mit dem Gegner verkehrte.«

»Ich brauche keinen Rechtsvertreter. Wozu?«

»Den Grund nannte ich Ihnen schon.«

»Er ist nicht stichhaltig.«

»Er dürfte es aber bald werden.«

»Wann?«

»Wenn wir gezwungen werden, zum Äußersten zu greifen, um unsern Zweck zu erreichen.«

»Was ist das?«

»Die Wahrheit, gnädige Frau!«

»Welche Wahrheit? So was gibt's nicht. Wahrheit ist, daß ich mit meinem Mann zusammen leben will. Welche Wahrheit?«

»Die Gründe, weshalb Herr Peter Pirath diesen Willen der Gnädigsten nicht teilt – das ist diese Wahrheit.«

»Sie ist schäbig.«

»Aber ein Gesetzesparagraph.«

»Also mit dem Gesetz will man auf mich schießen.«

»Nur wenn die Gnädigste sich nicht anders ergibt. Herr Peter Pirath sieht sich dann in der Tat dazu gezwungen. Sonst möchten wir das Prinzip in die Angelegenheit bringen: Je menschlicher, desto lieber.«

»Wie heißt Ihr Gesetz?«

Der Anwalt ergriff einen dicken Band, schlug ihn an einer mit einem Kuwert bezeichneten Stelle auf und reichte ihn Ree hin.

»Die Gnädigste ziehen vielleicht vor, sich mit eignen Augen von der Stärke unsrer Position zu überzeugen.«

Ree nahm das Buch. Ein Duft strömte auf einmal in ihre Nase, der ihr vertraut erschien. Er peinigte sie. Sie untersuchte rasch ihre Umgebung, hob das Kuwert aus dem Buch und schnellte zurück. Das war der Brief, den sie gestern abend ihrem Mann geschrieben hatte. Er war ungeöffnet. Sie schlug ihre erzürnten grünen Augen gegen den Anwalt. Der alte gepflegte Herr saß ruhig in seinem Stuhl und empfing die zornigen Blicke mit einem Gesicht, das nur aufmerksam wartete.

»Was ist das? Wie kommt mein Brief hierhin? Ungeöffnet? Man unterschlägt meinem Mann meine Briefe.«

»Nicht im geringsten!« entgegnete der Rechtsanwalt kühl.

Das war ein Schlag für Ree. Sie fand den Zusammenhang nicht gleich und fragte: »Liest mein Mann denn meine Briefe nicht?«

»Er übergibt sie seinem Anwalt in dem Zustand, in dem Sie diesen Brief sehen. Der Anwalt liest sie und vergißt sie sofort. Den Anwalt, Gnädigste, müssen Sie sich vorstellen, als die vermittelnde Anstrengung zwischen Mensch und Gesellschaft sozusagen oder von Mensch zu Mensch. Er ordnet die Dinge, die sich die Menschen durch die Gesellschaft aufoktroyieren lassen, wenn die Menschen von selber nicht mehr damit fertig werden können. So liest Herr Peter Pirath die Briefe der Gnädigsten nur mittelbar …«

Aber Ree stieg empor. Sie schnellte wie ein Puma aus dem Sessel. Sie schrie mit einer spitzen Stimme: »Das nennen Sie je menschlicher, um so lieber? Sie unterschlagen meine Briefe. Sie zerschneiden die Möglichkeiten eines versöhnlichen Ausgangs. Sie mittelbarer Scherge! Sie unmittelbare Perücke! …«

Der Anwalt stand auf, verbeugte sich und ging elegant zur Tür. Er öffnete sie mit einer gemessenen Gebärde, die in seiner Art, sich zu benehmen, nur ein ganz klein wenig auffällig war, nur ganz diskret eine Andeutung gab, und schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, hindurch. Er ließ die Tür hinter sich offen und verschwand im Flur. Ree stand beschämt, enttäuscht und zornig mitten im Zimmer und schaute ihm nach. Dann lachte sie wild auf. Sie riß Handschuhe und Tasche an sich und verließ das Haus. Draußen kreuzte eine Bekannte ihren Weg, die Frau eines Bankdirektors, die viel bei Piraths verkehrt hatte. Die Frau Direktor verzog ihr Gesicht zu einem wie fünf Kilometer entfernten Lächeln, nickte mit dem Kopf an Ree vorbei und grüßte, wohin? wen? zu einem Fenster hinauf oder in die Elektrische hinein, die gerade vorbeisauste, oder den Milchmann oder den Pudel, der an einem Tor ein Bein hob? … Ree erkannte sofort, wes Sinnes dieser gegenstandslose Gruß war. Sie antwortete nicht und sagte halblaut: »Gans!« Die Frau Direktor aber, die glaubte, weiß Gott, wie unvoreingenommen gehandelt zu haben, war empört, daß ihr nicht geantwortet wurde, und murmelte unter dem wippenden Rand ihres Panamas: »Diese Person! Diese … Person …!« Denn Rees Lady Godiva-Ritt begann allmählich bekannt zu werden, ohne daß man etwas Bestätigendes darüber hörte.

Ree rief ein Auto. Sie fuhr davon und sagte sich: »Grünäugige Ree, du bist auch eine Gans! Dieser alte Herr an dem mit Eichenlaub umschnitzten Schreibtisch ist ein Genießer. Ein Eleganter. Ree, du Gänslein, du hättest erst schmeicheln sollen und dann die Krallen herauslassen … Das hast du ungeschickt gemacht. Eine schlechte Note. Elende Menschenkennerin. Ist man dazu eine Frau?«

Den peinlichen Schluß, daß sie sozusagen vor die Tür gesetzt wurde, vergaß sie aber bald. Ree lebte in die Luft hinein. Aber da bekam sie einen Einfall. Den pflegte sie nun wie ein Kind seine liebste Puppe. Sie flog den ganzen Tag darüber nieder und badete sich drin wie eine Biene im Blumenstaub, sog seinen Honig ein und konnte kaum die Dunkelheit erwarten.

 

Peter hatte den Abend bei seinem Bruder verbracht. Sie waren zuvor beim Anwalt gewesen und hatten dort von Rees Besuch gehört. Der Anwalt hatte um Verhaltungsmaßregeln gebeten. Peter antwortete: »Ich überlass' Ihnen vollkommen die Entscheidung. Ich sagte meinem Bruder schon: Ich blas' niemandes Suppe kalt.«

Der Anwalt meinte: »Dann müssen wir den Gasthalter und die Bauern aus der Heide kommen lassen.«

Peter zuckte nur mit den Schultern. Aber eine heimliche Raserei stieg in ihm auf. Als sie gingen, sagte er seinem Bruder: »Wenn das doch nicht wäre! Man sollte meinen, es ist genug, wenn man so etwas erlebt und überlebt.«

Hermann antwortete ihm: »Du kommst nicht dran vorbei, armer Peter. Das ist die Anwendung der Welt auf deine Privatangelegenheiten. Das nennt sich Gesellschaft und Staat.«

Peter fühlte sich von einem sonderbaren Zustand niedergedrückt. Sein Dasein wurde ihm wie unwirklich. Schein war Wirklichkeit, Wirklichkeit war Schein. Es war ihm, als ob nun sein Leben auf zwei weiße Scheiben geschrieben wäre. Auf der einen stand wie ein Träumen die Möglichkeit eingeschrieben, wie sich sein Leben weiter entwickelt hätte, wenn der Friseur Larisch nicht gekommen wäre, wenn Ree nicht Ree wäre. Die andre Scheibe umzirkelte die qualvolle Gewißheit des Raubes, den jener Tag in der Heide an ihm begangen, und das schmerzhaft reduzierte Gebiet der Zukunft, die vor ihm stand. Und bald fuhr eine Scheibe hoch und verdeckte die andre. Und bald rasselte sie wieder ab, und die andre stand steil und allein hoch. So tänzelten die beiden Scheiben auf und ab. Daß Peter Ree ganz aufgab, stand unverrückbar klar und kalt in seinem Blut, so kalt und scharf wie die Firsten von Eisbergen in blauem Himmel. Aber doch flog es hinten am Horizont fortwährend trübend und bewegt auf. Die sonst so abgemessenen Bewegungen seines schweren Körpers bekamen etwas Zackiges, und auch seine Launen folgten diesem unsteten Hin und Her. Der Boden unter ihm erdbebte stets ein wenig.

Er kam an diesem Abend zwiespältig gehetzt um neun Uhr nach Hause. Die Dunkelheit hatte schon eingesetzt. Er sah keinen der Hausangestellten im Flur und ging gleich zu seinem Zimmer. Der Gewohnheit nach griff er, kaum daß er die Tür geöffnet hatte, nach dem elektrischen Knopf. Aber da sah er, daß die Lampe überm Schreibtisch schon brannte. Er trat erstaunt ins Zimmer. In einer Ecke erhob sich etwas und kam auf ihn zu. Es kam heran, dunkel und mit immer wieder aufgehobenen Bewegungen, fast lautlos und nur von einem weichen Knistern begleitet. Ein Wohlgeruch, der ihn erschreckt an etwas erinnerte, umzog ihn rasch. Er griff sich ans Herz. Ree stand im Schein der Lampe ohne Hut. Die schwarzen Löckchen kringelten sich wie Moos über die Stirn hernieder, und die großen grünen Augen leuchteten.

Sie sagte: »Du bist ein Bär!« und lächelte und wartete.

Er trank einen süßen verfluchten Augenblick, als ob alles verwischt und versunken sei. Aber gleich durchfror ihn wieder die Wirklichkeit. Er drehte sich um und ging rasch davon. Er stürzte auf die Straße hinaus. Ein Auto kam. Er stieg hinein und fuhr davon, stöhnte und grollte. Er murmelte ein über das andere Mal: »Friseur Larisch! Friseur Larisch!«

Schließlich ließ er das Auto zu Hermann fahren. Hermann hatte das dicke schöne Mädchen bei sich, mit dem er gesundheits- und freudenhalber einen außerordentlich geregelten Umgang pflegte. Diese Frau war weich und schlicht, vertrauenerweckend unpersönlich, so daß die Brüder sich nicht scheuten, vor ihr die Angelegenheit zu besprechen. Peter saß da zwischen den beiden, sie tranken Champagner, und er war schweigsam und niedergedrückt. Das Frauenherz erglühte unter der üppigen Brust in zärtlichstem Mitleiden mit dem schönen, starken, unglücklichen Mann, und als Peter sich einmal entfernte, fragte sie Hermann, ob sie nicht ihre Freundin Alma für ihn holen sollte. Die Alma sei zu Hause und sei so lustig. Hermann sagte lachend: »Nein, Frauen braucht er wohl nicht!« Da schämte sich die dicke Olga und beschwor ihn, Peter nichts von ihrem Vorschlag zu sagen.

Am nächsten Morgen wurde ins Haus Peters telephoniert. Das Dienstmädchen antwortete, die Frau sei über Nacht geblieben und habe scheinbar angekleidet auf dem Sofa geschlafen. Sie sei jetzt im Zimmer des Herrn und warte auf ihn. Das Mädchen richtete den Auftrag aus. Ree befahl ihr: »Telephonieren Sie mir um ein Auto!« Sie schrieb auf einen Zettel: »Ich wartete hier nicht auf Deinen Bruder. Mit dem bin ich nicht verheiratet. Sondern auf Dich! Dein Rechtsanwalt ist mir ›mittelbar‹ genug. Es bedarf nicht noch Deines Bruders, und wenn Du Dich fürchtest, allein mit mir zusammenzukommen, so gibt das mir die sichersten Versprechen. Du bist ein Bär. Ich bin Dir nicht bös. Ich wohne im ›Schwanen‹ in H. Ree.«

Diesen Zettel fand Hermann, der kurzatmig vor Aufregung und Empörung angekommen war. Peter wurde herbeitelephoniert. Das Mädchen erhielt den Auftrag, alles, was von der Frau im Haus zu finden sei, in Koffer zu packen. Die Koffer wurden dann nach H. in den »Schwanen« geschickt.

Das Begebnis stachelte Peter aus seiner zwiespältigen Dumpfheit auf. Er schrieb dem Anwalt, er bitte ihn, mit aller Energie seine Sache durchzusetzen und das Unvermeidliche zu tun.

Nun hatte eine Frau Regierungsrat Ree am Morgen das Haus verlassen sehen. Die Frau Regierungsrat war erstaunt und bekam einen heftigen Stoß, als ob ein bewährtes Axiom wieder einmal hinfällig geworden wäre. Am ganz frühen Morgen, wohlverstanden! Sie grüßte infolgedessen Ree außerordentlich freundlich. Ree antwortete kaum und sagte nur für sich zu der andern hinüber: »Keine Aufregung, meine Liebe. Es ist nur ein Irrtum!« Aber die Regierungsrätin lief sofort zu ihrer Freundin, der Bankiersfrau von gestern, um zu erzählen. Die fand sich wie vor den Kopf gestoßen. Geht denn plötzlich die hochbürgerliche Ordnung kopfunten! fragte es dunkel in ihr. Sie wurde sich selber unsicher und unterdrückte die Worte, die ihr auf der Jungenspitze brannten und die also beginnen sollten: »Ja, denk dir, was mir gestern widerfuhr mit dieser Person, dieser … Person …« Aber die Bankiersfrau hatte ein gutes Herz, dessen weitsichtige Unvoreingenommenheit sie gern preisen hörte. Sie sagte: »Weißt du, liebe Karoline, wer weiß, was das böse Maul unserer Stadt da wieder an gerichtet hat?«

Die andre meinte erfahren: »Man kann nie vorsichtig genug sein.«

Und das war festgefügte Bürgermoral. O, edle Regierungsrätin! Stütze der Zeitläufte!


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