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Achtern wohnten sie zu drei: Pirath, der Kapitän Damm und ein älterer Steuermann, namens Kluge. Kluge war ein kleiner Mensch mit breiten Schultern und flacher Brust. Er ging stets mürrisch und nörglerisch umher, weil er sich nichts zu trinken verschaffen konnte, da sein Schnaps alle war. Gossen ihm Peter oder Damm ein, so stürzte er das Glas gierig unmittelbar in die Kehle, und er war für eine Viertelstunde aufgeräumt und gesprächig.
Einmal fragte ihn Peter in einer solchen Viertelstunde: »Nun, und Sie, Herr Kluge? Wann werden Sie denn Kapitän?«
Damm meckerte auf. Alle Fältchen seines Gesichtes knickten sich ein, und der dicke Kopf und die blitzigen Äuglein und der quellend geöffnete Mund warteten. Denn diese harmlose Frage Peters hatte Kluge ins Herz getroffen.
Kluge schaute Peter wild an, erhob sich und ging davon. Als er draußen auf Deck war, brüllte er zurück: »'m Oos!«
Da begann Damm mit den Händen auf dem Tisch zu trommeln.
»Was hat er? Was ist?« fragte Peter verwundert.
»Sie häwt em bannig schwer beleidigt!« antwortete Damm ernst, kicherte dann los und schlug wieder auf den Tisch.
»Was denn?« fragte Peter ungeduldig.
»Hier!« machte Damm und hob seinen Mittelfinger, der so dick war wie eine Schützenwurst, an die Stirn. »Dort het he 'n Ankerspill. Dort geiht alls jümmer rundum. Mit beide Wachens un baben in de Mitt', de mit dat Schipperklavier. Er ist nämlich schon mal Käpten gewest, und dann hat er mit seiner Bark so gut gezielt, daß er zehn Schifferboote über'n Haufen rannte und seinen Klüverbaum in einen Dampfer festrammte. Im Kanal war's. Und er war so duhn, daß er glaubte, die Ewer wollten ihn überfallen, und er hat geschrien und mit 'm Rivolver geschossen. Dar häwt se em sien Patent wegnahm'n.«
Peter war bestürzt und dachte nach, wie er das Geschehene wieder gutmachen könnte. Er wollte den geraden Weg gehen und sich vor Kluge entschuldigen. Er fand ihn draußen an den Brassen beschäftigt und ging auf ihn zu. Er begann: »Ich muß Sie vielmals um Entschuldigung bitten, Herr Kluge …«
Aber der Steuermann warf ihm einen wüsten Blick seiner grauen Augen an den Kopf, drehte sich um und ging davon. »Du Oos!« murmelte er. Dann sprach er nicht mehr mit Pirath. Er wollte auch nicht mehr mit den beiden essen und ließ sich seine Mahlzeiten in seine Kabine geben. Er ging viel zum Matrosenlogis nach vorn. Einige hatten von Rabaul her noch Schnaps. Für teueres Geld, das er schuldig blieb und von seiner Heuer in Hamburg versprach, kaufte er ihn Glas für Glas, betrank sich und hetzte die Matrosen gegen Pirath. Er deutete allerlei Verächtliches über ihn an. Aber wie er immer wieder in ungenauen Verdächtigungen über ihn sprach, stellte ihn einmal Henry Tedge, einer, der seine Nationalität verloren hatte, faßte ihn mit beiden Fäusten an der Joppe und schrie ihm ins Gesicht: »Stürmann, jetzt grade heraus mit der Rede. Du Aas! Was ist mit dem verfluchten langbeinigen Kamel von Passagier?«
Kluge reckte sich Henrys Ohr entgegen und flüsterte so laut, daß das ganze Logis es hörte:
»He is een Spionierer.«
»Wat,« brüllte Henry, »wat is he?«
»Een Spio … spio … nie … Wees de: een Detektiv is he!«
Henry Tedge war ein magerer großer Kerl mit einem ganz ausgemergelten Kopf, der hinten flach in den Hals lief und in dessen Gesicht über einer starken kleinen Nase zwei graue Augen gemein und scharf immer unruhig umherschauten. Wie er das Wort Detektiv hörte, da schoß das Blut in sein knochiges bleiches Gesicht, die Adern hämmerten an den Schläfen heraus, die Augen sprangen, er schlug die Fäuste an die Holzwand und brüllte: »Krepieren schall he, verrecken …!«
Da sagte der breite gemütliche Hinnerk von Spiekeroog lachend:
»Tedge, de is eegens for di an Bord kam'n!«
»Wat?« schrie Tedge ihn an, »du dammned bloody … Wat seggst du?« Und mit einem Raubtiersprung setzte er auf Hinnerk los. Aber Hinnerk hielt ihn in langsam steigendem Zorn bei den Schultern vor sich in die Höhe. Henry zappelte mit den mageren nackten Beinen: »Lat los!« brüllte er. »Ich renn di meen Messer in die Knaken! Los!«
»Man tau!« sagte Hinnerk mit drohender Ruhe und hielt ihn fest. Nach einer Weile ließ er ihn los und ging auf Deck hinaus. Henry brummte ihm drohend nach. Kluge hatte sich in die Koje eines Matrosen gelegt, der gerade auf Wache war, und begann seinen Rausch zu verschlafen. Auch Henry legte sich in seine Koje. Er zog den schmutzigen Vorhang vor und warf heftige, blutige Blicke heraus. Das Blut färbte sein Augenweiß wie ein rotes Gift.
Pirath kam oft zu den Matrosen. Die »Hinnerjette« fuhr prall am Wind durch die ruhige See, das Mitteldeck nahm nur wenig Wasser.
Pirath kam zu den Matrosen, weil er in ihnen den höchsten Ausdruck des Lebens an Bord sah, eines Lebens, das er nicht kannte und dessen fremde Seele ihn reizte. Die Matrosen nahmen ihn gleichmütig auf und ließen sich auf kurze Gespräche mit ihm ein, wenn er sich zu ihnen an die Luke beim Logis setzte.
Auf einmal aber fiel ihm auf, wie ihr Benehmen gegen ihn kürzer wurde. Einige grüßten, wenn er kam. Andre blieben und antworteten kaum, wenn er fragte. Nur Hinnerk von Spiekeroog und einige deutsche Matrosen sowie die drei Schiffsjungen waren gleich bereit, mit ihm zu plaudern.
Wenn er das Deck herankam, sagte Tedge: »Da kommt de aasige Spionierer! De … langbeenige Hammel. Ick riet em de Gorgel ut 'n Schlund!« Aber Hinnerk versicherte die andern: »He luggt. De Stürmann het 'n Pik up em, weil he 'n Fabrikant is ut Dütschland!« »Wat is he?« schrie Tedge, »Fabrikant? Fabrikant vonner Polizei, Galgen makt he, de Kreuzdonner …« Und wenn Pirath kam, schaute er ihn mit den gierig hassenden Blicken seiner gemeinen Augen herausfordernd an und ging weg.
Peter teilte die Gefühle Tedges: »So ekelhaft sieht dieser Mensch aus!« sagte er sich immer. »So ausgemergelt von dem gemeinsten Leben, von Verbrechen gemein ausgemeißelt!« Sein Widerwille wuchs an dem feindseligen Benehmen des Matrosen rasch zu Haß. Er schaute ihn nicht mehr an. Er brachte es nicht über sich, diesen Verbrecher zu grüßen.
Die »Hinnerjette Hahnbock« lief vor dem Wind eilig zwischen den Inselgruppen dahin. Damm ließ seine Zähne aufeinanderkrachen, wenn er das aufschäumende Wasser an der Back weichen sah, und sagte: »Die ›Hahnbock‹ hat brennende Zunder im Moars. Sie läuft wie'n Esel! Achtzehn Meilen!« Er schaute mit seinem immer gleichmäßigen Gesicht, in dem sich nur die Fältchen bewegen konnten und an dem Nase, Ohren, Lippen, Bocksbart wie knollige Auswüchse hingen, Peter an und meckerte:
»Soll 'n Dampfer man mit! Soll 'n Dampfer man mit! De Ölspritzer, de Ölkann-Jonglierer, de Dreckkasten, de Rußkotzer … So wat müssen wir begießen!« fügte er leise hinzu, daß es die Matrosen am Steuer nicht hören sollten. Laut sagte er dann: »Wollen wer man in die Karten schauen gehn, Herr Pirath?« Er trank dann immer ein Glas Kognak, eine Flasche Bier und einen Rum. »Mein Girlandchen!« sagte er befriedigt.
Aber als sie das Inselgebiet verließen und sich ostwärts wandten, den »braven Westwinden« zu, änderte sich die Sache plötzlich. Es kamen langtägige Flauten; Tage und Nächte schlapperten die kraftlosen Segel lärmend auf dem Gut herum. »Dat ritt mien beste Segel to Plünnen!« jammerte Damm. »So'n aasiges Wetter!«
Auf einmal unterbrach ein plötzlicher Oststurm die Flauten. Mit Mühe holten sie die Segel ein. Beide Wachen arbeiteten Tag und Nacht. Niemand kam aus den nassen Kleidern. Das Meer stürzte sich aufs Deck. Die Bark mußte südlich gehen, der Sturm trieb sie auf Neuseeland zurück. Damm schimpfte wie ein Vulkan. Die Matrosen waren widerspenstig. Der Kapitän verweigerte ihnen deshalb den bei schwerer Arbeit gewohnten Rum. Das machte auch die Partei Hinnerk von Spiekeroog, die mehr mit achtern zusammenhielt, gegen ihn gereizt. Aber die Matrosen ließen es aneinander aus. Sie beschimpften sich blutig mitten in der lebensgefährlichen tollen Arbeit auf den Rahen und in den Seen, die sich auf Deck über sie stürzten, und als der Sturm vorüber war, hatte die Feindschaft der beiden Parteien sich tiefer und heftiger in die Herzen gegraben.
Peter hatte den Sturm verwacht. Er hatte, stundenlang an die Reling und die Taue des Besanmastes angeschraubt, die Raserei der Winde Schiff und Meer bekämpfen sehen. Rissen denn die Segel nicht? Hebt sich denn das Schiff wieder auf? Verschluckt denn die Woge es nicht? Der ganze Sturm war als ein mächtiges, unheimliches Rätsel durch sein Herz gerast. Nun da das Unwetter vorbei war, blieb der Sturm in ihm, wie etwas Wunderbares, wie ein Symbol des Kampfes mit allen Gewalten des Schöpfers, und der Mensch hatte mit seinem Werkzeug gesiegt.
Der Wind räumte auf. Die Bark konnte flink vor ihm daherfahren. Er strich von unten seitwärts in die Segel. Sie wölbten sich wieder. Sie fuhren wie mächtige fremde Drachen mit dem Schiff durchs Meer.
Die Matrosen hatten wenig Arbeit. Die Segel blieben tagelang unverändert. Kaum, daß sie ein paarmal aufgebraßt wurden. Die Menschen waren wieder auf sich angewiesen, mit sich allein. Mit der kleinen Abwechslung in Rabaul hatten sie seit beinahe zweihundert Tagen nichts Menschliches gesehen als ihre eigenen Gesichter, keinen Willen gespürt als den des Stärkeren unter sich gegen den Schwächern, nichts besessen als die Gefühle gegeneinander. Sie ekelten sich an. Sie gingen aneinander vorbei und nahmen ihren Haß aus dem Herzen gierig in die Hand, und in heimlicher Raserei schrien sie einander zu: »Ich möcht dir mein Messer in den Bansen stoßen! Du Hundegeburt! Du Scheißdreck! Meine Augen kotzen, weil sie dich sehn müssen. Du stinkst! Alles was du tust und sagst, tust und sagst du nur, um mich wütend gegen dich zu machen. Ich zerschmatz dich mit meinen Zähnen, du blutiges Aas!«
Peter sah auf einmal diese Änderung. Es war, als ob diese Schar von Menschen, als ob die Menschheit überhaupt durch unverständliche Kräfte gebunden wäre. Auch er spürte diesen Druck des Hasses, er wollte würgen, schlagen, töten! Sich von der Gebundenheit befreien, grausames, von Brutalität quellendes Raubtier sein. Wie Blut unter einem wüsten Dolchstoß aus einem Leib aufschießt, so wollte er die Verdammtheit seines Gemüts befreien können! Oft gerieten Matrosen aneinander. Wenn er das sah, lief er am Leittau über das von Wassern überstürzte Deck und riß sie auseinander, nicht um des Friedens willen, sondern um diesem dämmernd wilden Zustand in seinem Innern an die Luft zu helfen.
Er lag jetzt oft, um nur nichts Menschenähnliches zu sehen, auf dem Logis und der Küche, die vorn an Deck niedrig aufgebaut waren, in einem der dort ausgestellten Rettungsboote und schaute in die schwellenden, stoßend geblähten Segel hinauf. Er hatte keine Gedanken. Sein Gemüt floß wie ein Strom in der Überschwemmung. Aber er wußte, daß dieser Zustand nur zeitlich war. Ein stürmisch er Wirrwarr strömte dann durch ihn, Bedeutungsvolles und Willkürliches mischend.
Er machte die letzte Probe. Das war diese Fahrt auf dem Segler durch die maßlose Unendlichkeit und Vereinsamung des Stillen Ozeans. Es war eine letzte Verdammnis, ein letzter Fluch. An einem unbekannten süßen Küstenfleck Amerikas wartete, wie eine Fee, die letzte Errettung auf ihn. Sie war so süß lockend, wie Ewe süß und lockend gewesen war. Dann konnte er auf einem Dampfer, wie in einer verzauberten Stadt, schön und genießend, heimwärts fahren und die Ernten raffen.
Er hörte, wenn er so im Boot lag, unter sich die Matrosen, die auf Freiwache waren, sprechen. Sie saßen auf der Luke, die an die Wand des Logis anstieß, und schwiegen und schimpften. Sie wußten meist nicht, daß er oben lag.
Einmal, an einem Sonntag gegen Abend, hörte er drunten Henry Tedge. Der rief: »Wo ist der Detektiv? Dat aasige Langbeen von einem Saukärl!« Einer antwortete: »Er säuft mit dem Alten Schnaps achtern.« »Das bist du!« sagte sich Peter erschrocken. » Well!« machte Tedge, »lat em supen! Möcht ich auch! Ick woll, he verreckte an den Spriet. Weert man Vitriol! He sparte mi denn de Arbeit, em de Gorgel dortosnien!« »Was?« begehrte Peter bei sich auf, als er diesen Haß drunten gegen sich ausfließen fühlte, »du Galgen! Du Ekelhaftigkeit! Ich werde dich mal gelb und blau prügeln!«
Nach einer kleinen Weile sagte der klobige Hinnerk von Spiekeroog drunten: »He töft upp di, du Hering. Eh du man: Au! seggst, fiert he dich up'n Besan rup! Da kannste runner pfurzen! Du Büchsenschieter!« Hinnerk wollte streiten, aber bevor Henry entgegnen konnte, sagte der alte Boern, der für eine Keilerei zu faul und zu schwach war, jeder möge was erzählen. Einige riefen: » Well! Ja!«
»Wat een sölm beleevt het?« fragte Hinnerk steif.
»Was man will!« sagte Boern. Der Meister rief: »Der Schmaus, der Koch, fang an. Erzähl die Geschichte von deiner Nase!«
Alle lachten, denn Schmaus hatte eine lange spitze Nase, die ganz, krumm im Gesicht stand.
Schmaus lachte nicht. Er erzählte, ohne sich zu zieren, daß er einmal ein Schwein schlachten sollte. Es war aber unruhige See, und das Schwein entkam ihm. Er stürzte die Treppe zur Vorderback hinauf. Das Blut spritzte dem Schwein weit aus dem Hals, weil es schon angestochen war. Wutsch! war es unter der Reling durchgeglitten und lag im Netz unterm Klüverbaum. Er nach, es spritzt ihn mit Blut an, aber wie er es aus dem Netz herausheben will, schlägt eine Welle von unten herauf und wirft ihn an den Klüverbaum. Als er wieder aus dem Netz herauskletterte, war seine Nase krumm.
Aber der Meister schimpfte erbost: »Du Schwindelmajor! Wo hast du deine krumme Nas' her? Vom Klüverbaum? Gott noch emohl? Von einem Prellstein aus der Davidstraße in Hamburg hast du es her, dein krummes Riechorgan!« Alle riefen: »In der Davidstraße in Hamburg! Wat hewt ji do makt, Swinegel!« Doch Schmaus ließ das Gebrüll gelassen über sich ergehen.
Als zweiter kam Henry Tedge dran, weil er neben Schmaus saß. Hinnerk brummte spöttisch: »De ward schön upsnie'n!« Tedge kündigte dann an, er wolle die Geschichte vom Mädchen auf der Reeperbahn und dem Tiger aus Bengalien erzählen. Das Mädchen hieß Johanna und war im Dienst bei einem Polizeioffizier, der auf der Reeperbahn wohnte, und das Mädchen war so stolz, daß keiner sie verführen konnte. Sie ging abends mit den Jungen aus, ließ sich Bier und Kaffee bezahlen, und Punkt eins stand sie schon wieder an der Haustür, Reeperbahn Nr. 113, genau so unberührt wie um neun Uhr, wenn man sie abgeholt hatte.
»Da bandelte mein Freund, ein Normann, mit ihr an. Es war damals gerade Dom, und der Normann war mit einer Menagerie nach St. Pauli gekommen. Er ging schon eine Woche mit der Johanna, und nichts hatte sich gemacht. Er kam sich dumm vor, denn das war ihm noch bei keiner Maid geschehen. Da sagte er ihr eines Abends: ›Wissen Sie, Fräulein, nachts springen in der Menagerie die Affen bei die Tigers herum, und die Kakadus schaukeln sich auf dem Rüssel vom Elefanten Peter, und die Ameisenbären hängen sich in die Zotteln von die Kamelen. Dann ist der ganze Urwald zusammen, friedlich und fröhlich wie in der American Bar.‹
Er dachte sich, das locke sie, daß sie mitgeht, und wenn sie beide dann allein in der dunkeln Menagerie sind, dann mag sie sich wehren, dann kriegt er sie heran.
Johanna hatte am Sonntag vorher sich in der Menagerie die wilden Tiere angeschaut, die so grimmig und wütend ein jedes zwischen seinen engen Gittern umhergingen, und wunderte sich, daß nachts diese Tiere Freundschaft miteinander halten sollten. Sie fragte: ›Ja, laufen sie alle so frei drinnen im Zelt herum?‹ ›Goddammich,‹ sagte mein Freund, ›bewahre! Aber haben Sie nicht gesehen, daß die Käfige alle aneinander stehen und daß zwischen jedem eine Tür ist, und nachts werden alle Türen aufgemacht, daß die Biester miteinander spielen können.‹ Das glaubte Johanna nicht. Da sagte der Normann geärgert: ›Ja haben Sie denn die Käfige mit aufgebaut und öffnen Sie denn jede Nacht die Türen zwischen jedem Käfig, oder tu ich das, Fräulein? Und was glauben Sie dann: hielten denn sonst diese Viecher die Gefangenschaft aus, so weit von ihrer Heimat?‹
Da fand die Johanna es wunderbar, und der Normann sagte ihr: ›Fräulein, wenn Sie sich die Kirmes ansehen wollen, so machen wir's. Sehen Sie, das ist der Schlüssel hinten für die kleine Tür in die Menagerie‹ ›Aber wenn all die wilden Biester doch im Zelt sind!‹ ›Sie sind aber nicht drin, sondern in den Käfigen.‹
Schließlich ging die Johanna mit ihm. Sie schlichen hinter den Buden, die schon alle geschlossen hatten, durch. Der Normann zog den Schlüssel heraus und öffnete die kleine Tür, und sie gingen hinein. Sie kamen aus der Dezemberkälte heraus in den warmen Raum. Aber es war rabenfinster in der Menagerie, und man merkte von all den Tieren nichts als den Gestank. Die Johanna traute sich nicht vorzugehen. Der Normann riegelte die Tür hinter sich ab und sagte: ›Nun gehen Sie mal vor, Fräulein.‹ Er schob sie. Da sprangen auf einmal zwei grüne Kugeln in der Dunkelheit hoch, und ein Gebrüll folgte ihnen. ›Nicht erschrecken, Fräulein!‹ sagte der Normann und nahm eine Hand von der Johanna. ›Das ist der Tiger aus Bengalien, der kann nicht schlafen. Der hat einen kranken Magen bekommen, und da geben wir ihm nun seit gestern morgen nicht zum Fressen. Was meinen Sie, wenn Sie dem bei seinem Hunger einen Besuch machten, wieviel übrig bleibt von Ihnen?‹ ›Au je,‹ schrie die Johanna entsetzt.
Als die Johanna nun eine Weile in der Menagerie war, gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie trat näher an die Käfige heran, schaute hinein und sagte auf einmal ganz bös: ›Ist ja Schwindel, Sie; wo springen die Affen mit die Tigers herum? Lassen Sie mich gleich heraus, oder ich ruf'!‹ Der hungrige bengalische Tiger fuhr gegen die Bewegung und die Laute, die aus der Finsternis kamen. Die Johanna sah die grünen Kugeln wieder aufschießen und hörte den Körper an die Eisenstangen prallen. Sie fuhr zurück, stieß fest gegen den Normann, und der legte einen Arm um ihre Brust und sagte: ›Ich werde mit dir springen!‹ Da war er der Tiger aus Bengalien, und er warf sie nieder und bekam, was er wollte. Und sie schrie, und er hielt ihren Mund zu, und als er genug hatte und seine Hand wegnahm, da sagte sie: ›Das bringt Sie ins Gefängnis, Sie.‹ Er fragte: ›Wohin?‹ ›Ins Gefängnis!‹ sagte sie noch einmal und begann um Hilfe zu brüllen.
Da schrie er: ›Halt's Maul,‹ und fuhr an ihrem Hals mit der Hand herab, bis er die Kehle an den Fingern spürte und drückte zu, daß kein Laut mehr herauskam. Und als keiner mehr herauskam, da ließ er sie los. Die Johanna blieb am Boden liegen. ›Jetzt bist du tot, siehst du,‹ sagte der Normann. ›Weshalb hast du geschrien? Ich hab schon mehr Weiber gehabt, die nicht wollten, aber es hat keiner das Leben gekostet, weil keine geschrien hat.‹
Einige Tiere waren aufgewacht. In der lautlosen Dunkelheit hörte der Normann, wie sie sich aufrichteten und wie ihre eingeruhten Glieder knackten, und aus ihrem Rachen kam ein dunkles Brummen. Der bengalische Tiger fauchte einmal schrill auf.
Jetzt ist es aber Eisenbahn, sagte sich der Normann. Er schüttelte die Johanna, aber sie regte sich nicht. Da lud er sie auf und schleppte sie hinter die Käfige. Dort zog er sie ganz nackt aus. Dann stellte er eine Leiter an den Tigerkäfig. Und er trug sie hinauf und öffnete oben die Falltür und rin ins Vergnügen mit ihr. Er sah von oben zu, wie in der Dunkelheit der Tiger zuerst erschrocken ruhig war, dann stutzte, die Nase hochhob, roch und auf einmal fuhr er mit der Tatze durch die Luft. Da schloß er die Falltür. Er stellte die Leiter zurück. Er zündete eine Laterne an, vergrub unter den Käfigen die Kleider und sah zu, ob nichts zurückgeblieben war. Er ließ aber das Licht nicht auf den Käfig scheinen. Der bengalische Tiger schrie nicht mehr. Es rauschte und krachte nur in der Finsternis. Da grauste den Normann doch ein wenig. Da ging er weg.
Nach ein paar Tagen kam ein Polizist in die Menagerie. Er sprach mit dem Besitzer. Währenddem stand der Normann hinter den Käfigen und hatte seinen Revolver in der Hand. Aber der Polizist ging wieder. Der Besitzer rief den Normann und sagte ihm: ›Kannten Sie die Johanna vom Polizeirat?‹ ›Und ob,‹ sagte der Normann. ›Die ist weg!‹ sagte der Direktor. ›Was nicht gar!‹ antwortete der Normann. Aber in derselben Nacht machte er sich aus dem Staube, und man hat ihn nicht erwischt.«
… Als Tedge nichts mehr sagte, brummten die andern erregt auf und ruckten auf der Luke hin und her. Es war inzwischen Nacht geworden. Pirath hatte die Geschichte mit angehört. Er spürte sein Blut in plötzlichem Jähzorn durch die Adern zum Kopf strudeln. Er sagte sich heftig: »Ich werde ihn in Hamburg der Polizei ankündigen! Das ist er ja selber gewesen. Der Kapitän soll ihn gleich festlegen, den Mörder.« Pirath wollte aufstehen, aufgepeitscht von dieser Geschichte und der Entdeckung. Er hörte noch, wie der kleine krummbeinige Niklas, der Freund Hinnerks, rief: »Kreuzdunner, so'n Schwein. Dem möcht ich an die Hammelbein', Goddammich!« Aber Hinnerk erhob sich langsam und trat auf Tedge zu, nahm allen Haß seines Herzens zusammen und sagte ihm: »De Normann bist du wohl sölm wäsen, du Galgenstrick!«
Da pfiff Tedge schrill durch die Zähne und stieß zugleich mit seinem dünnen spitzen Kopf Hinnerk brutal in den Leib, während andere Matrosen, Bundesgenossen Tedges, von hinten über den Hinkollernden herfielen. Peter hörte den Lärm. Er sprang aus dem Kahn, ließ sich an der weißen Wand herunter. Er sah in der Dunkelheit ein Knäuel von Menschen, die übereinander herfielen, schlugen, schrien, und plötzlich wühlte sich vor ihm ein Kopf aus dem Haufen, wie eine Schlange glitt ein Körper nach, sprang hoch, hielt mit der linken Hand einen Hals im Haufen gepackt und fuhr mit der Rechten dicht an Peter vorbei, den er nicht sah, mit einem Messer in der Luft. Pirath erkannte den Verbrecher Tedge und erkannte im selben Augenblick, daß er dem Mann, den er am Hals hielt, das Messer in den Kopf schlagen wollte.
Da hämmerte Peter mit beiden Fäusten derart wild wagrecht auf den steilen Arm, der das Messer zückte, daß es war, als flöge der Arm davon. Der Mann drehte sich um sich selber, stürzte hin, Pirath riß mit einer Hand die Faust mit dem Messer zwischen seine Knie und würgte mit der andern den Kopf des Liegenden nieder. »Hier ist der Mörder!« rief er. »Hier ist der Mörder!« brüllte er ununterbrochen.
Die andern ließen voneinander ab. Fauchend und keuchend, wie ein erbostes Flußpferd, drückte sich Hinnerk mit seinen mächtigen Schultern aus den Matrosen herauf, schrie: »Dat Oos woll mi steeken!« Mit einem Ruck zog er Tedge auf, dem unter Peters Faust der Atem etwas vergangen war und der sein Messer fallen gelassen hatte, er nahm ihn am Genick, hielt ihn hoch, und mitten in einer dahinstürzenden Bande von Matrosen stieß er ihn vor sich her nach achtern. Er brachte ihn dem Kapitän.
Der Kapitän hatte nichts von dem Lärm gehört. Der Steuermann hatte Wache, und der Kapitän erhob sich unwillig vom Sofa im Salon.
»Wat gibt's?« fragte er.
Hinnerk rief: »He woll mi steeken! De feige Hund!«
Tedge brüllte hinein: »Dat is nicht wahr!«
Aber da kam Pirath dazu und sagte: »Doch, es ist wahr.«
Der Kapitän erhob sich vollends, ging auf die hereindrängenden Matrosen zu und schlug in sie hinein. »Wat wullt ji achtern, rut! rut!« schrie er sie an. Sie drängten eilig hinaus. Nur Tedge und Hinnerk blieben in der Kajüte. Dann schloß er die Tür. Sein Gesicht war von der Lampe beschienen. Peter sah, wie durchs Scheinleit sich der magere Kopf Kluges plötzlich herabbog. Aber Kluge zog sich zurück, als er bemerkte, daß Pirath ihn sah. Das Gesicht des Kapitäns sah aus, als ob nichts geschehen wäre. Er war nur ganz rot überpudert. Er ging auf Hinnerk zu, der Tedge noch immer am Wickel hatte. Der Kapitän schrie Hinnerk an: »Ick bruk diene Füste nich. Lotlaten, ansonst streckst dien Been glik himmelwärts!« Hinnerk ließ zögernd los. Da fragte der Kapitän: »Wat is nu los?« Hinnerk erzählte, wie es gegangen war. Tedge rief immer: »He luggt! He luggt!« Aber Pirath schrie bös hinein: »Er lügt nicht! Ich hab gesehen, wie er mit dem Messer zustechen wollte und hab seinen Arm niedergeschlagen.«
Der Kapitän wartete einen Augenblick. Dann fragte er: »Det haben Sie gesehn?« – Ja! nickte Peter. »Un sinen Arm häwt Se nederslan?« Ja! nickte Peter. Und plumps! war eine schwere Hand durch die Luft gefahren, wie ein springender Elefant, und war Tedge ins Gesicht geflogen. Der spitze dünne Kopf stob jämmerlich beiseite und donnerte an das Getäfel des Salons. Kaum hatte sich der Kopf wieder hochgerichtet, so flog er – pump! – unter einem neuen Schlag auf die andre Seite. Der Kopf ging hin und her unter der schweren Faust des Kapitäns.
Pirath spürte ein Unbehagen. »Sie schlagen ihn tot!« rief er, »lassen Sie ihn doch, Sie schlagen ihn tot, Kapitän!«
»Den! tot?« meckerte der Kapitän schrill. »So 'n Nilpferd von 'm Verbrecher, von nem Halbgehenkten, tot? Der ist mehr gewohnt …« Schließlich faßte er Tedge hinten beim Genick, riß die Tür auf und schmiß ihn mit einem gewaltigen Fußtritt aufs Deck in die Nacht hinaus.
Tedge flog in den Haufen der Matrosen, die dort in der Dunkelheit standen und auf den Ausgang der Sache warteten. Die Freunde Tedges murrten laut, als er so herausgeflogen kam. Die Anhänger Hinnerks wieherten vor Lachen.
Damm trank dann drei Rums. »So ne aasige Schweinebande!« sagte er nur.
Peter fand keinen Schlaf. Er stand auf, als er Mitternacht glasen hörte, und ging an Deck hinauf. Kluge kam gerade die Treppe herunter. Zum erstenmal grüßte er Peter wieder nach jener Frage. Er schlich klein und zag im düstern Licht des engen Flurs zu seiner Kabine. Pirath ging die Stiege hinauf, setzte sich ein Weilchen ins Kartenhaus, das, wie eine Kabine mit Aussicht, auf dem Hinterdeck aufgebaut war, und trat dann ins Finstere des kleinen Decks, auf dem er Damm auf und ab gehen hörte. Hinnerk stand am Steuer. Damm schaute in die Segel hinauf, die leise klapperten. Er brummte zurück: »'n Strich höher, Rotzfott, bi de Wend!« Pirath gesellte sich zu ihm. Sie gingen schweigend nebeneinander. Dann setzten sie sich in die dunkle Ecke auf eines der Rettungsboote, die seitlich neben dem vorderen Kompaß standen. Sie sahen Hinnerks dicken Kopf von Weile zu Weile, wenn er das Steuerrad drehte, sich in den Lichtschein vorbeugen, der von der Salonlampe durchs Scheinleit heraufdrang. Die Wache war dabei, die Großmastsegel aufzubrassen. Der Kapitän schaute von seinem Platz aus zu und rief manchmal ein kurzes Kommando hinab in die Nacht, der die Matrosen arbeiteten.
Da auf einmal machte es: »Pßt, Kaptän! Kaptän, pßt!« Eine flüsternde Stimme: »Pßt, Kaptän!« – »Wat, pßt, Kaptän?« fragte Damm brummig. Er wußte nicht, woher es kam. Aber plötzlich sah er Hinnerk erregt winken.
»Wat denn? Wat denn?« fragte Damm und stand auf. Hinnerk zeigte in den Salon hinab. Der Kapitän und Pirath traten leise aus der Dunkelheit auf das Scheinleit zu. Hinnerk flüsterte: »Henry Tedge!« und zeigte hinab. Und sie sahen unten Tedge im Licht der Lampe im Salon dahinschleichen. Er hatte einen Hammer in der Hand. Dann verschwand er in eine Ecke. Er verschwand in der Ecke, wo der Schrank eingebaut war, in dem die Schiffsapotheke untergebracht war und in dem der Chronometer gut eingekapselt aufbewahrt wurde, der die Zeit des ersten Meridians, die Zeit von Greenwich durch die Welt trug. In diese Ecke sah man nicht von oben. Damm meckerte flüsternd: »He will sik det blaue Ooge einbalsamieren!«
Sie hörten, wie der Schrank aufging, und auf einmal gab's einen Schlag und Splitter, und die Menschengestalt flog unter der Lampe vorbei. Damm grölte auf. Er stürzte schwer auf das Kartenhaus zu, fiel donnernd die Stiege hinab … Pirath folgte ihm hastig und erschreckt. Sie fanden im Schrank den Chronometer zertrümmert, und der Hammer lag inmitten von Scherben und Messingstücken. Damm hob nur die Fäuste hoch. Er brachte kein Wort heraus. Seine Lippen gingen auf und ab. Dann setzte er die Rumflasche an den Mund und beruhigte sich. Er sagte nichts, zog aus einer Lade einen Revolver heraus, aus einer andern eiserne Handschellen und ging vorn aufs Mitteldeck und zum Logis. Pirath folgte ihm mit fliegenden Adern.
Der Kapitän fragte nach dem Meister. Der Meister hob sich langsam aus der Koje. Er war ein breiter starker Mann und sah aus wie ein Fleischer. »Da hewt ji wat! Meister!« sagte Damm, » Come on!«
Die drei gingen ins Logis. An einem Balken schwankte eine trübe Laterne und warf die Schatten ihrer Stäbe regelmäßig über die Kojen und den breiten Tisch. Am Tisch saß jemand. Der hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schlief. Sie erkannten gleich, daß es Tedge Hein war. »Tedge!« rief der Kapitän in der Tür, indem er auf den Schlafenden zutrat. Tedge schien nichts zu hören. Der Kapitän rief nochmals lauter. Da brummelte Tedge, erhob sich wie schlaftrunken und rieb sich die Augen.
Da schlug der Kapitän von oben herab seine Faust wie auf einen Amboß Tedge auf die Stirn. Der Matrose fiel widerstandslos nieder, stieß zwei Stühle um und sank weiter auf den Boden. »Du Kriminal!« stotterte der Kapitän. Sein Gesicht war rot wie eine Feuersbrunst im Nachthimmel, und in dem unveränderlichen Aussehen kalt und grausig. Er sagte zum Meister: »Leg ihm die Handschellen an! Er hat den Chronometer zerschlagen!« Matrosen stiegen aus den Kojen, durch den Lärm aufgeweckt. »Bleibt liegen, ihr Rotzfötter!« brüllte Damm. Der Meister legte dem am Boden Liegenden die Handschellen um. In den Kojen erhob sich ein Gemurmel. Damm achtete nicht darauf. Er befahl, den Tedge in eine der Segelkammern einzusperren. Dann ging er mit Peter achtern zurück. Unterwegs, in der Finsternis, sagte er ihm: »Sie müssen jetzt nachts immer die Koje schließen, wenn Sie schlafen, und stecken Sie auch tagsüber einen Revolver ein.«
Das tat Pirath, und er sehnte sich mit brünstiger Gewalt nach dem süßen Erdenfleck an der amerikanischen Küste, an dem er an Land dürfte.
Er fragte Damm am nächsten Tag: »Wie lang haben wir noch?«
Damm antwortete schlecht gelaunt: »Zweitausendneunhundert Meilen.«
»Können wir denn weiter auf die guten Winde zählen?« fragte Pirath, der die Meilen in Tage umrechnen wollte.
»Darauf schon. Aber nicht auf den Kurs!«
»Was will das sagen?«
»Dat wir mit dem kaputtnen Chronometer keen Besteck nehmen können … Der Hundsrotz. Schweinefett!« schimpfte er auf einmal los. »Der aas'ge Kriminal! So 'ner sollte man gliks an' Besan kommen, daß er mit der Zung' das Steuerrad belecken kann, so 'n Halbgehenkter. Wo wir jetzt herauskommen? De Splitteren von den Chronometer mögt dat weeten, ick nich.«
Sie mußten jetzt mit ihren Taschenuhren arbeiten. Eine wurde nach ungefährer Berechnung auf die Zeit von Greenwich gestellt. Aber die Uhren schwankten alle voneinander ab, und niemand wußte, um wieviel die Greenwichuhr, die unten in kardanische Ringe gelegt war, jeden Tag vor- oder nachging. Auch das Sekundenzählen beim Mittagmessen ging mit dem kleinen Sekundenrad nur sehr ungenau. In den fünfundvierzig Tagen, die sie unterwegs waren, hatten sie kein Schiff gesehen, und auf eine solche Begegnung, bei der man sich die geographische Lage hätte sagen lassen können, war auch künftighin nicht zu rechnen. Der Himmel war immer bewölkt. Auch nachts sah man keine Sterne. Sie stürmten ins Ungewisse hinein. Jeder Tag verstärkte die Unsicherheit des Kapitäns. Sie konnten nordwärts zu Inseln treiben. Die Osterinsel lag im Kurs. Die Karten zeigten hier und dort Riffe. Nachts sah man das alles nicht.
Pirath war es in dieser bösen Zeit, die sich nie mehr zu einer ausruhenden Minute fand, als ob sich sein Leben vom festen Erdboden gelöst habe und leicht und zerbrechlich, wie das Leben von jenen durchsichtigen Nachtinsekten, die ein Windhauch töten kann, übers Meer schwebend getragen würde. Eine Sekunde könnte es unversehens aus dem Dasein blasen. Er betete: »Komm, o süßer Erdenfleck an der amerikanischen Küste!«
Dann half er dem Kapitän und Steuermann in langen Beratungen voll jähzorniger Ausbrüche allen Wahrscheinlichkeiten nachjagen, um jeden Tag die geographische Lage festzustellen. Man hatte nicht viel mehr Hilfsmittel als das Log, das die tägliche Meilenzahl angab. Aber da man die Stromversetzung nur auf »vielleicht« berechnen konnte, war diese Berechnung nicht zuverlässig.
Kluge war nun wieder freundlich und ergeben, wie er zu Anfang der Reise gewesen war. Die Not hatte die Erbitterung in ihm erdrückt. Die drei Menschen achtern mußten auch fest zusammenhalten gegen das Logis. Dort wuchs eine Luft von Aufruhr immer dicker an. Der Meister, der Koch, Hinnerk, Niklas und die drei Schiffsjungen waren die einzigen, auf die das Achterdeck fest zählen konnte, und der Meister kam täglich mit einer Beschwerde über Widersetzlichkeit und Drohungen. Der Kapitän, Pirath und Kluge trugen stets ihre Revolver bei sich. Auch der Meister bekam einen. Der Kapitän trank viel und ging selten ohne Rausch schlafen. Aber er hatte die Eigentümlichkeit, daß der Rausch ihn in seinen beruflichen Verpflichtungen nicht störte. Den Steuermann hielt er mit Rum so knapp als möglich, und er bat auch Pirath, ihm nichts zu geben. »He kann nix verträgen!« sagte er.
Eines Sonntagabends, als Pirath, und der Kapitän das Nachtessen beendet hatten, kam der Meister in die Messe herein und sagte, die Engelmanns und Normanns und Amerikaners täten sich zusammen und kämen achtern. Da stand der Kapitän auf und ging hinaus an Deck. Peter stieg zum Kartenhaus hinauf und auf die kleine Kommandobrücke, die wie ein Steg bis zum Großmast über das mittlere Deck vorgeschoben war. Er sah im Licht, das aus Kluges Kabine fiel, unter sich den Kapitän stehen. Übers Deck trat eine Schar Menschen im Dunkeln. Der Kapitän fragte barsch in die Finsternis hinein: »Wat wollt ji?«
Einer sagte: »Kapitän, Sie sollen den Henry Tedge freigeben.«
Der Kapitän schaute in der Dunkelheit um sich, griff in die Nagelbank des Großmastes und zog einen der schweren eisernen Koffeinägel heraus, um die die Taue befestigt wurden. Er rückte auf die Bande los. Einige, die zu hinterst standen, gingen wieder zurück. Der Segelmeister, der ein Finne war, rief frech: »Et schickt sich nicht, daß ein Vollmatrose von wegen eines … eines aasigen Langbeins von Spionierer ins Eisen kommt.« Peter erschrak oben auf der Brücke. Das war wiederum er. »Spionierer?« Und »meinetwegen kam der ins Eisen«? Er schüttelte den Kopf und wollte ruhig sich bezwingen, hinabgehen und den Finnen um Rechenschaft bitten.
Aber der Kapitän hatte schon vor sich in die Dunkelheit gegriffen und hielt einen an der Brust: »Du Finnrusse, du riskierst de Baß! Soll ich dir per la maing man seggen, wat sich schickt, du Lauseschwein!«
Die Matrosen traten unter dem grob vorrückenden Kapitän zurück. Die hinten standen, drehten sich um und gingen rasch davon. Der Finne riß sich los und stieß in die andern, die langsam zurückrückten, hinein. Da zeigten auch die den Rücken und liefen so rasch sie konnten.
Der Kapitän warf den Nagel ins Meer. »Dadran soll kein anständiges Tau mehr kommen!« schimpfte er. »Die Segel schämen sich sonst!« – Dann ging er zu seinem Rum.
Peter setzte sich neben dem Kompaß auf die Kante des Rettungsboots, das dort hereingeschoben stand. Er war verzagt, ärgerlich und wütend. Sollte der Teufel das blöde Unternehmen holen! Was ihn nur geritten hatte, sich auf dieses Schiff einzulassen, auf diesen Kasten von Verbrechern! Wenn er mit dem Dampfer über Sydney gefahren wäre, so säße er jetzt zwischen gesitteten Menschen, reiste bequem, und alle Bedürfnisse würden ihm befriedigt, und er wäre bald zu Hause und könnte die große Arbeit beginnen. Gestohlene Tage sind das hier! Das ist altertümlich! Ein zeitgenössischer Mensch soll diesen sentimentalen romantischen Segelschiffabenteuern aus dem Weg gehen. Er spielte in der Tasche mit seinem großen Browning und hätte ihn gern nach vorne hin abgeschossen in die Nacht und die elende Verbrecherbande hinein, die dort hauste, weil sie die ordentliche Gesellschaft der festen Erde fliehen mußte.
Die Segel fingen an über ihm zu knallen, und das Schiff holte mit einem mächtigen Schlag auf einmal über. »De Wend schralt!« hörte er Kluges Stimme hinten beim Steuerer. »Ach was!« sagte sich Peter. »Ich geh schlafen! Ich wollte, ich könnt jetzt mich da unten in die Koje legen und erst aufwachen, wenn der süße ersehnte, rettende Erdenfleck an der amerikanischen Küste da ist …«
Er verweilte noch einige Minuten, schaute den wie rätselhaft gewaltvollen Bau der vollbepackten Maste hinauf, die in abgebauten Stockwerken ihre Segel übereinander türmten, wie fremde Pagoden in verhaltenen Schwankungen mächtig hinüber und herüber pendelten. Dann ging er. »Wenn nur Damm nicht drunten sitzt! Ich will keinen Menschen sehen und kein Wort sprechen!« sagte er sich gereizt. Im Kartenhaus stand Kluge und klopfte auf das Barometer. »Dat Barometer geiht bannig dohl!« sagte der Steuermann. Pirath antwortete nur: »Ich geh schlafen, gute Nacht!« und glitt die enge Treppe hinab. Damm schnarchte in der Lotsenkammer, in der er jetzt immer bei offener Türe schlief. Peter schloß seine Türe und legte sich ins Bett. Aber er fand keinen Schlaf. Es lagen alte deutsche Zeitschriften in seiner Kabine. Er begann zu lesen. Er konnte auch nicht lesen.
Da streckte er sich auf den Rücken und dachte sich heftig, immer schmerzender, immer trotziger in seine Mißstimmung und seine Wut hinein, bis er schlief und in langen Träumen in sonderbaren Abarten noch einmal alles, was ihn plagte, erlebte, viel grausiger und härter, viel unentrinnbarer und wesenlos wie ein Symbol. Er saß eng eingesperrt in einem Rohr mit eisernen Wänden, und das Rohr fuhr hoch über der Erde, und er wußte, es dauert hundert Jahre, bis es daheim ist. Hundert Jahre lang kannst du kein Glied rühren. Schrei! Brüll'! … Aber seine Stimme nahm keinen Ton an. Sie flog wie aus einem dumpf zischenden Ventil durch seinen Hals. Und wenn du nach hundert Jahren unten bist, so bist du doch natürlich längst tot, und dein ganzes Leben lang wird dir nicht mehr die süße Freiheit, dich zu bewegen, wie du willst, ruhig mit Menschen zu sprechen und deine Zentrifugen schleudern zu sehen. Das Rohr stieß auf etwas auf. Es gab einen plumpen Schlag. Dann war es, als ob es polternd und mit Donner in einer engen Schlucht von Wand zu Wand in heftig aufschlagenden Zickzacken in die Tiefe sauste, und Peter erwachte in einer Kabine, die toll geworden zu sein schien.
Die beiden Stühle kreiselten durcheinander und schlugen bald diesseits, bald jenseits an die Wand. Die Lampe tanzte überm Bett in den kardanischen Ringen, und plötzlich schleuderte das schwarze offene Ochsenauge einen wilden Strudel von Wasser über Peter und das Bett. Da sprang er heraus, torkelte in der tanzenden Kabine zu Boden, klemmte sich irgendwo an und riß die Hose über die Beine, zog sich an und machte sich hinaus. Im Salon war es finster. Er schlich auf Händen und Beinen am eingebauten Büfett entlang, in dem die Gläser klingelten und Scherben berstend sangen.
Die schmale Treppe zog er sich ins Kartenhaus hinauf. Auch dort war es finster. Er flog wie in einer Schaukel, stemmte vergeblich die Beine auseinander, um fest zu stehen, trotzdem er sich anhielt. Als er eine Tür aufschieben wollte, preßte sich, wie ein plump vorwärtsstürzendes Tier, ein Wind gegen ihn, Wasser prasselte in sein Gesicht wie Nadeln … Er konnte die Tür nicht mehr schließen, kroch hinaus, die Nacht raste und schrie, und vorn am Schiff bellten die Segel wie Hunde in der Nacht, mit langen heulenden Stößen. Und auf einmal schlug ein knatternder Krach in die bellenden Stöße, und Peter sah weiße Flügel in die Nacht schlagen und versinken. Die Klüversegel waren abgerissen.
Da schrie mit unmenschlicher Stimme der Kapitän in die tosende Dunkelheit: »Kluge! Kluge!«
Peter machte sich am Scheinleit fest, das in die Messe hinabführte und an das das Kartenhaus angebaut war. Er lag halb darüber und krallte sich ans Gitter der Greetings, mit denen die Scheiben eingedeckt waren. Bald hörte er zwei Stimmen vor sich, die sich in der Nacht anfuhren.
»Wat makt die Banditen? Is jem de Steert uppe Rahen anwossen?« Das war Damm. Kluge brüllte dagegen: »Sie wollen nich! Sie wollen nich!« Der Kapitän schrie hundert unflätige Schimpfworte hinauf; er stand vorn auf der Kommandobrücke, im Mantel, und brüllte in die Nacht hinauf. Kluge war wieder fort. Pirath wurde steif in seiner Stellung. Aber das Schiff schlug so im Sturm, daß er sie nicht aufgeben konnte, weil er keinen andern Halt sah.
»Was ist geschehen?« fragte sich Peter unglücklich. Der Orkan sprang wie Kanonenschüsse in die Segel. Die bogen sich, vom Wind gezerrt und geschlagen, und waren rund gespannt wie Gewölbe, die vor dem Einsturz erregt aufzittern; sie schienen verzweifelt zu schreien: Wir halten nicht! Wir können nicht mehr! …
Der Hinterteil des Schiffes stieg hoch wie ein Turm und setzte, plötzlich abwärts sausend, aufs Wasser nieder, als ob ein Berg aus der Nacht ins Meer fiele. Einmal tat die Nacht einen schrillen Schrei, und neben Pirath schleuderte ein Segel auf den Boden, hob sich wieder rasend hoch, taumelte brüllend wieder herab, und ein Fetzen peitschte Pirath über den Rücken. Er ließ vor Schreck und Schmerz los, schlug am Boden rollend, rasch die Hände nach der offenen Tür des Kartenhauses, und das auf und ab fahrende Segel peitschte den Scheinleit in Stücke und flog unsichtbar nach und nach in der Nacht davon. Eine Woge wälzte sich von hinten übers Steuer, drückte Pirath an die Tür, die krachte, und schoß strudelnd die Treppe hinab und warf sich zugleich durchs Scheinleit grell gurgelnd in die dunkle Messe.
Pirath hob sich halb auf, von Wasser triefend. Er sah niemanden mehr am Steuer. Er wälzte sich zur Reling und kroch an ihr nach der Kommandobrücke. Der Kompaß stand dort in einer Holzsäule. An die klemmte er sich an und richtete sich halb auf. Damm sah ihn: »Hier wassen keine Palmen!« sagte Damm nur. Da war es, als ob der in weiten Kreisen, wie ein unnatürlicher, geheimnisvoll rasender Drache durch die Nacht drehende Großmast, an dem noch sämtliche Segel hingen, einen Körper aus der Finsternis pflückte und ihn über den Köpfen von Pirath und Damm hinweg davon spritzte.
Das mittlere Deck unter Piraths Füßen war anzuschauen wie ein in die Dunkelheit gedeckter fliegender Rauch. Das Meer wälzte beiderseits darüber. Und einmal wieder, als ob die Nacht entzwei risse, barst das Gewölbe des Großsegels, flatterte erregt wie zwei große Riesenvögel beiderseits vom Mast hoch und fuhr in knallenden Flügen hin und her und peitschte sich Fetzen für Fetzen vom Leib, die brüllend und rasend vom tobenden Schlund der Finsternis eingesaugt wurden.
»Was ist denn?« fragte Pirath mit zagender Stimme den Kapitän. Aber der hörte nicht. Damm stand schweigend und dick in der Dunkelheit und bewegte sich nicht. Er stand neben Pirath wie ein unheimlicher alter Baumstrunk. Die zerreißenden Rufe der Segel krachten ununterbrochen hintereinander über den brüllenden Sturm hinaus. Langsam kam ein Grauen ins östliche Gewölk, und die weißen durcheinander schlagenden Fetzen leuchteten auf im Osten des beginnenden Tages. Der Orkan wuchs in kreiselnder Wut.
Das ganze Schiff warf von Wasser, die Masten bebten, Pirath bebte, und das Wasser lief an ihm wie ein Brunnen herab. Er sah an dick umwickelten Rahen einige Menschen. Lebten sie noch? Sie klebten dort droben unbeweglich wie tote ausgedörrte Fliegen im Winter an einer weißen Stange. Auf der Bramsaling und der Mars über ihm hockten zwei Häuflein Menschen aufeinander wie auf zwei Balkonen des Todes. Sie fuhren mit den Masten wild und wüst durch das immer heller werdende Grauen.
Da brach über ihnen die Steng. Sie brach ein, als ob das Gewölbe des Morgenhimmels zerkrachte. Der schwere Eichenbaum sauste droben lange hin und her, vom Gut noch gehalten, schlug auf die Pardunen wie auf einen federnden Amboß. Das Häuflein Menschen auf dem Todesbalkon der Bramsaling zerstob. Wohin? Als flöge es durch die Luft von einer Fliegenklappe gescheucht … Ins Meer? Auf Deck? Wohin? Wer sah's genau? Das Meer war eins auf dem Deck drunten. Nur manchmal schaute die hohe Luke hinter dem Großmast hervor, und auf die fiel auf einmal mit der Spitze gerade hinein, wie ein Pfeil des strafenden Gottes, die abgebrochene Stenge.
Sie durchschlug die Luke, verschwand, die Seen stürzten ihr nach wie eine rasende Meute, preßten das Loch auf, zersprengten die Luke und waren auf einmal ein unendlicher Haufen von riesenhaften, widerstandslosen Maulwürfen, die sich in den Leib des Schiffes hineinwühlten. Der Großmast legte sich nach vorn, sank rasch; die »Hinnerjette« durchdrang ein erschütternder Schlag, sie bebte wie eine Maschinenhalle … Der Vorderbug war zerspalten, war eine Grube, in die die zerfleischenden Gebirge des Meeres rasten wie zerspellende Eisenbahnzüge.
Da fuhr die Stimme des Kapitäns auf, wie ein Trompetenstoß: »Luken eingeschlagen. Rettungsboote klar …«
Aber wer war da, der einen Befehl ausführen konnte …? Peter sank am Kompaß nieder. Ein Gefühl kam aus der Gefahr über ihn, als ob ein heißer Strudel rasch durch seine Adern flösse und aus dem Unterleib heraus in rasendem Drehen versprühte, als ob er dabei selber allmählich verdunstete. Er stammelte hilflos dagegen an: »Oh! 's ist ja nicht wahr! Wir gehen nicht unter! …« Und als er Willen und Mut zusammenraffte, schrie er: »Wenn ich denn doch nicht untergehen will. Wer arbeitet sonst? Wer macht denn die Gründung zu Ende?« Er parlamentierte auf einen energischen Ton mit dem Sturm und dem Wrack, das ihn noch zwischen Dasein und Jenseits trennte. Aber er wußte: Mein Wille ist nichts. Wenn ich meinen Willen aus mir nehme, so verschwindet er wie eine Seifenblase. Es gibt kein Leben mehr. Die Stunde ist da …
Und während er zunächst darüber so erschrak, daß es war, als raste ein rotglühender Dolch ihm ins Becken, kam dann bald die gefaßte Todesbereitschaft über ihn, der er oft in Gedanken obgelegen hatte. In dem dunkeln Chaos seines Gemüts ordneten sich, wie um Abschied zu nehmen von dem neuen Leben, rasch die Erlebnisse, die es hatten mitbilden helfen, und über allem stieg ein Wörtchen auf, aus diesem urhaften Brunnen und taumelte wie selig über seine Lippen. Er murmelte es. Es hieß: »Ewe!« und der Sturm prallte ihm das reiche zarte Wörtchen von den Lippen. Aber das Wörtchen stieg unversiegbar immer wieder von neuem auf seine Lippen. Das Wörtchen war wiederum, so wie der Dolch, ein Sporn, ein ergebenes Mitziehen, und es hielt in seiner großen Brust die kämpfenden Wagschalen von Lebensbegehren und Sterbensbereitschaft straff am wagrechten Balken.
Er wollte nicht liegend erwarten, daß sich die Ewigkeit vollzog. Doch als er sich erhob, prallte ihn ein Körper an, der am Fockstag über ihm herabgeglitten kam. Der Körper stieß ihn zurück, fiel selber vor ihm nieder. Peter erkannte Kluge. Kluge raffte sich vor Peter auf die Knie zusammen. Vom Deck geschaukelt, immer wieder umfallend und sich aufrichtend, erhob er flehend die verschränkten Hände gegen Pirath, weinte und stöhnte und machte mit den Händen wie ein scharrendes Pferd. Er scharrte mit den Händen um Vergebung, daß er verleumdet hatte, brachte keinen Ton aus der Kehle, außer seinem stöhnenden Ächzen, und kroch wie eine Krabbe auf allen vieren zum Kartenhaus.
Er sank die Stiege hinab, ins Wasser, das drunten von Wand zu Wand platschte, drückte sich durch in den Salon und schlug mit einem Stuhl die Schranktür ein, hinter der Damm seine Flaschen verschlossen hatte. Er nahm, ohne zu schauen, die erste und soff sie auf einen Zug hinunter. Es war Brennspiritus. Er sank leblos um und klatschte in das fußhohe Wasser, mit dem ihn der Tanz des Schiffes widerstandslos von Wand zu Wand rollte.
Das Schiff neigte sich leeseits. Es vermochte sich nicht mehr hochzurichten und hing mit besänftigtem Schaukeln schräg in den zerfließenden Gebirgen der Wogen. Da beugte sich Damm zu Peter hinab. Der Sturm griff ihm unter den Ölmantel und wehte ihn hinten hoch wie einen schwarzen Sterz. Der Wind zockelte an den armseligen grauen Haarsträhnen des nackten Kopfes. Aus dem großen dicken Gesicht hing die Bergamottenase wehmütig hernieder, manchmal berührte sie Piraths Ohr. Eine dicke Stimme sagte:
»Wie häwt lävt, häwt sapen und hurt. Davor mott'n ju woll als Held star'm. Wenn 't Ihnen drum ist, dat man vielleicht erfährt, wo Sie adje seggt häwt, so schrieven's up 'n Zeddel: Flaschenpost. Ick will meinen Orthograf nicht kompromittieren. Mine Ohlsche is dat ja wohl ooch piepe, to wäten, up wecker Länge und Breite ick mir zum lieben Jott bejeben heb.«
Auf einmal hatte er eine Flasche in der Hand. Da war ein Etikett darauf, wo ein Indianer auf Fässern saß. Er steckte sie tief in den Mund und goß sich den Rum, ohne abzusetzen, in den Hals. Er zuckte und strauchelte. Aber er wehrte sich und bekam die Beine wieder gerade und stand dann steif ans Geländer geschraubt, die Brust herausgereckt, den Kopf geradeaus in die Luft. Sein Gesicht blieb gespenstig beim selben Ausdruck. Der Sturm riß den Strick, mit dem er den Mantel zugebunden hatte, los, und das knarrende Ölzeug fuhr steif um ihn in der Luft herum wie Fledermäuse, die ihn angreifen wollten.
Er trompetete noch einmal in den Lärm hinein: »Rettungsboote kla…« Aber dann auf einmal saß er neben Pirath und lachte ihn harmlos an.
»Wat!« rief er glückselig. »Det Mächen kann's! Och diese olle seute Hahnbock. Dat ick dat noch an ihr erlev.«
Peter sah, wie das Meer drunten das Deck schlucken wollte, ein rasendes Nilpferd. Manchmal stieß ein Beben durch den eisernen Leib und zitterte die Masten hinauf, die alle gekappt waren. Das Schiff sehnte sich nach dem Grab.
»Jetzt geht es unter!« schrie etwas in Peter. Er zerrte sich auf, und alles war mit einemmal hart und klar in ihm. Das Rettungsboot konnte er mit der Hand erreichen. Wütend rief er: »Rasch, Kapitän! Ins Boot!«
Aber der sagte bös: »Leck mi im Moars! wech! Ick fahr' mit der Hahnbock in den Himmel! Zwischen ihren Beinen … As hi geiht!« schrie er dem Steuerer zu, den das Meer längst vom Rad davongerissen hatte! »As hi geith! Dünner! Dünner! Wie sie die Flügel hebt …«
Der letzte Fetzen des Beguins flog mit dem Sturm im Schreien dahin.
»… Un wie sie flattern dut. Dat is fein! Dat harr ick nich dacht von di, Hahnbock. Und ick häv jümmer ne gute Meenung von di hatt. Aber … wie 'n Albatros. Dar häv ji 'n Schluck Rum. 'n deftigen … Du gute, seute …« Er weinte und hielt dem Schiff die leere Flasche hin. Aber Peter schlug ihm mit dem Fuß die Flasche aus der Hand. Er bückte sich nieder, faßte den Bären wild unter den Achseln, um ihn ins Boot zu zerren. Die Wogen schlugen herauf und jagten über ihre Köpfe hinweg. Aber der Verrückte zuckte hoch und zischte: »Lat mich, du Oos!« und griff wütend nach Pirath. Er bekam ihn an den Beinen, stemmte den Riesen torkelnd hoch. Wie ein Erdbeben flog es donnernd und zitternd in der Luft. Es war Pirath, als breche er ab aus den Händen des Wütenden, als breche er ab aus der Luft des irdischen Lebens. Gewaltvoll und mild hob sich das Meer hoch um ihn, er fiel und versank und sank, sank durch Graues und Rosenrotes.