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In den Kreisen, die Piraths nahe gestanden hatten, sprach sich zwischen dem Stelldichein um zwölf Uhr im Cafépavillon am Ring und den Vier-Uhr-Besuchen die neue Wendung in den nächsten Tagen herum. Hatten die Piraths sich wirklich wiedergefunden? Aber die Bankiersfrau, die auch ein wenig intellektuell war und gern Schauspieler und Sänger des Stadttheaters einlud, warf eine neue Ansicht über das Unklare der Lage in die Gesellschaft. Zwischen den Piraths sei etwas Unsauberes, sagte sie, und sie prägte dafür ein Wort, an dem sich alle aufregten: »etwas Perverses!« Darüber ging nun die Unterhaltung. Die Damen hatten Ree ja einiges heimzuzahlen. Sie war das wilde Tier ihrer Gesellschaft gewesen, unzuverlässig wie eine Katze, man hatte nie auf sie zählen können. Sie verdarb oft in verschlagenster Weise die schönsten Pläne. Bei ihr konnte man über den Nächsten sich überhaupt nicht erleichtern, denn sie war imstande und antwortete sofort: »Das sag ich der Betreffenden zurück,« ging zu ihr und tat es. So unzuverlässig war sie. Aber Ree hatte diese Gesellschaft doch durch ihre ungebändigte Eigenart zu einem gruselnden und angstvollen Staunen gezwungen, und für dies Gefühl, das ihrer saftlosen Alltäglichkeit gegen den Strich ging und dem sie stets nur widerwillig und ausspuckend folgten, mußten Bürger und Bürgerinnen sich rächen.
Da kamen die ersten Zeugen aus der Heide.
Der Schreiber des Rechtsanwalts las die Notizen seines Herrn. Er zeigte seinem Kollegen vom Justizrat das Protokoll. Der Schreiber erzählte dem Justizrat. Den Justizrat verknüpften heimlich bemunkelte Bande mit der Bankiersfrau. Die Regierungsrätin, der Cafépavillon, die Vier-Uhr-Tees … die Stadt! Die ganze Stadt nahm nun die Angelegenheit des Ehepaars Pirath ins Maul. Es war ein Schmaus. Sie schmatzte damit. Der Saft rann wie an den Lefzen der widerwärtigen Dogge. Man kaute familien-, berufsweise. Die Männer gingen öfter ins Wirtshaus. Die Frauen trafen sich jetzt dreimal täglich und schickten gleich die Kinder hinaus. Dazwischen telephonierten sie sich ununterbrochen an. Der Plebejer deutete mit verächtlichen Mundwinkeln hinauf. Die Freunde des Hauses grunzten sich an vor Neid auf den Friseur Larisch. Das Revolverblättchen arbeitete, und Schenkwirt, Kontorist, Arzt und Kaufmann, Fabrikant und Richter schoben es sich vieldeutig aufschmunzelnd hin und gruben die Bärte gleich in den Bierkrug. Denn das Blättchen lasen sie nur am Stammtisch.
Peter bekam Schmähbriefe. Sie waren geifernd unflätig. Die Phantasie verborgner Schmutzkerle fing Feuer am Schicksal eines Nächsten und dem Ehebruch seiner Frau mit dem unsauberen Abenteurer. Um den Prozeß stieg eine schleimende, brodelnde Geilheit in der alten, mittelgroßen Stadt auf, in der jeder sich bis ins zehnte Glied zurück kannte und alle doch so taten, als ob sie erst von der neuen Zeit in die Stadt gebracht worden seien.
Zufälle, böser Sinn und der geschärfte Argwohn des Verfolgten trugen Peter rasch diese Entwicklung zu. Er fühlte sich immer unsicherer werden, und als er einmal den Beweis von der Einmischung eines Angestellten der Fabrik herausfand, wurde er rasend wie ein Riese. Er stürmte zwischen den Schreibtischen auf den Betreffenden zu, hob ihn von seinem Stuhl und rief: »Ist dieser Prozeß denn wie eine schmutzige Dirne abends im Stadtwald? Kann denn jeder da unter die Röcke greifen?« Er machte sich über den Dreckskerl her, als ob er ihn zu Quetschfleisch verarbeiten wollte. Hermann kam herangekugelt, und ihm und den älteren Herren gelang es, den Rasenden zu entfernen.
Von Männern, denen er zugetan war, weil er sie für Rechtschaffene und Bedeutsame hielt, hörte er, daß sie sein Unglück zu gesellschaftlichem Spiel ausmünzten. Er wollte sie fordern, wollte schlagen, schießen, töten – sich mit den Muskeln wehren. Hermann hatte die Erledigung solcher Angelegenheiten auf sein Teil genommen. Er saß auf der Ehre seines Bruders wie ein hitziger Wachhund. Aber sprang er jemandem an die Kehle, so aalte sich der beleidigt davon, tat diskret mitfühlend, und Hermann hatte umsonst gebellt. Die Brüder wurden allmählich zu lächerlichen Persönlichkeiten. Alle feste Form schien sich um diese Angelegenheit und um Peter aufzulösen. Er sah, wie die Auflehnung seines Rechtlichkeitsgefühls und wie alle gerechte Raserei seiner Persönlichkeit gegen den bösen Bann um ihn in lächerliche, vergebene Gebärden auseinanderglitten. Die Zeit wurde ihm fratzenhaft.
»Die Stadt ist mir unerträglich geworden!« sagte er zu Hermann. »Sie haßt mich und ich hasse sie.«
Hermann stak in seiner Stadt wie ein alter Wurzelstock, dickköpfig verknorrt und dumm-selbstverständlich. Er verstand das nicht. Er lachte und antwortete: »Du wirst überschwenglich wie die Frau Pastor von Sankt Nikodemus, alter Peter. Laß nur mal alles vorbei sein! Dann werden die Nerven wieder ruhig. Wer soll dich denn hassen? Einige verzerren sich die Mundwinkel! Nicht deinetwegen, sondern wegen deiner Gegenpartei. Man will heimzahlen, da der Löwe ins Krepieren gekommen ist. Das ist lächerlich und gemein. Gewiß! Man kann auch später da mal revidieren …«
»Nein, nicht einzelne Menschen,« warf Peter dazwischen, »die Stadt mein ich, die Straßen, die Plätze, die Häuser, die Gasthöfe, die Elektrischen, die Menschenmassen … die ganze Stadt. Ich trau mich nicht mehr hinein. Sie hat ein Fastnachtsmaul auf gegen mich.«
Hermann schaute ihn erschrocken an.
»Und ich bin hier unfruchtbar geworden!« fuhr Peter heftig fort.
»No, no,« besänftigte Hermann. »Alter Peter … in einer solchen Lage nicht arbeiten können! Wer könnte es!? Aber das geht vorbei.«
»Es ist mir, wenn ich mich zur Arbeit niedersetzen will, als kniffe ich feig aus, als desertierte ich vor … vor den Gedanken … vor Ree … vor unserm … vor dem Prozeß, vor dem Friseur Larisch!« schrie er auf.
»Auskneifen! Halt, Peter!« schnaufte Hermann hinein, auf einmal wie eine Kröte aufhopsend, »eine Reise, eine kleine Erholungsreise …« Er lachte glücklich.
»Ach nein,« machte Peter unlustig.
Die Brüder schieden voneinander. Peter, da jetzt die Dämmerung begann, erging sich ein wenig im Stadtwald. Das war ihm zur Gewohnheit geworden. Tagsüber zeigte er sich nicht draußen. Er dachte an den Vorschlag Hermanns und fragte sich, mehr wie im Spiel: »Und wohin ginge eine solche Reise? Wenn ich eine Reise machen wollte?« Der Reihe nach erschien: Norderney, Heyst, das Berner Oberland, Tirol, der Engadin … und er sagte sich: »An einem dieser Orte treffe ich gewiß Ree … und den Friseur Larisch.«
Da lachte es vor ihm im dämmernden Weg, und eine wohlbekannte Stimme sagte: »Der fliehende Bär! Er fürchtet das Leopardenkätzchen!« Zugleich fühlte Peter einen kleinen Arm heftig in den seinen schlüpfen und wie ein lebendiges Tier drin hüpfen, und die Stimme fuhr fort: »Jetzt entkommst du mir nicht. Ich muß dich doch haben! Wenn du meine Briefe nicht liest, so zwingst du mich, dir aufzulauern. Du mußt doch wissen, daß ich nicht ohne dich sein will! Du bist ein riesenhaftes Bärenfell. Ich muß es haben! Drauf spielen. Lieb' es ja!«
Das sprudelte Ree heraus, und Peter, dem das Herz aus dem Leib gesprungen war, fing an eiliger zu gehen, wollte sich von dem Arm befreien und stotterte verwirrt und erschrocken: »Nein! Nein!« Er fand kein andres Wort, und als sie ihn nicht ließ, sagte er noch einmal bös und zornig: »Gehen Sie!« Er schob sie von sich und begann den schmalen dunkeln Laubweg entlang zu laufen.
»Tollpatsch!« lachte sie ihm wütend nach.
»Ich will reisen!« sagte Peter noch im Laufen. »Ich muß reisen.« Und der Schatten in den Sträuchern stak voll von der drohenden, kleinen, spitzen Stimme. Er eilte sich, in die große beleuchtete Allee zu kommen. Ein leerer Einspänner kam. Er fuhr in ihm nach Hause. »Ich will reisen!« flüsterte er sich ununterbrochen zu. Er telephonierte an Hermann:
»Ich hab's mir überlegt mit der Reise.«
Hermann antwortete beglückt: »Ich komm' gleich zu dir. Das müssen wir zusammen besprechen. Auf gleich!«
Hermann fragte und kam: »Also wohin?«
Peter antwortete aufs Geratewohl: »Ach, so zwei Wochen an den Traunsee! …«
Da erboste sich Hermann: »Na, denn doch gleich an den Tümpel im Stadtpark. Peter! Nach Sizilien! Nach Norwegen! Nach Spanien!«
Peter zögerte. Seine Phantasie war aufs Verzichten eingerichtet in dieser Zeit. Doch schwerfällig folgten seine Wünsche den Lockungen. Komm ich so weit herum, so entferne ich mich denselben Weg von meiner Bürde, sagte er sich. Er ging auf Hermanns Einreden ein. Aber es war schwer, so rasch ein Ziel zu finden. Er verschob es auf morgen.
Am nächsten Tag in der Frühe ließ er sich Prospekte vom Norddeutschen Lloyd und von der Hapag kommen. Dasselbe tat Hermann auch für sich. Peter suchte Spanien, Sizilien auf und reiste heimlich weiter übers blaue Meer nach Algier, nach Kairo.
Hermann blätterte hitzig in dem Büchlein und sah, wie alles zusammenlag, so nach Neapel, Sizilien … Algier … nur ein Sprung Kairo … dort die Pyramiden! An den Pyramiden blieb Hermann hängen. Das war weit, groß, fremd. Das war etwas für Peter.
Er klingelte ihn an: »Weißt du, wohin du reisen sollst, Peter? Zu den Pyramiden mußt du!«
»Gerade bin ich dort angekommen!« lachte Peter zurück.
»Bitte was? Wie?«
»Im Prospekt des Norddeutschen Lloyd.«
»Ja, ich auch dort,« sagte Hermann.
Also vorläufig reiste Peter zu den Pyramiden.
Die Brüder aßen zusammen, und nach Tisch schauten sie sich den kleinen illustrierten Prospekt noch weiter an. Sie reisten drin bis Kairo. Aber auf der Seite, wo Kairo stand, war ein Bildchen, auf dem Palmen sich elegant über einen Strand neigten. Die Palmen hatten Zusammenhang mit J. P. Pirath Söhne und mit der Zentrifuge. Hermann las heimlich rasch die Verbindungen ab.
»Schau mal, Peter, da auf Zeylon wachsen Palmen. Auf ihnen ruhen Pirath Söhne. Du müßtest doch eigentlich … Wir haben ja einen Vertrauensmann dort, den Konsul Janssen …!« Und während er so sprach, wuchs ein Einfall heißblütig in Hermann auf. »Janssen ist Pflanzungsverwalter im Innern Zeylons, und ha! siehst du! das ist was! Du würzest die Erholungsreise durch die anregende Pikanterie eines kleinen Stippbesuchs. Du überzeugst dich, wie die Kokosnüsse wachsen, die wir hier der Menschheit zugänglich machen.«
Hermann war auf einmal wild erregt. Sein Kopf glühte. Er goß sich einen Kognak ein und stülpte die Schale mit einem Zug in den Mund. Er hüpfte zwischen den Sesseln herum. »Weißt du, was ich jetzt mache?« rief er. »Ich spiele das Milchmädchen in der Fabel …« Er ging herum und tat so, als balancierte er einen Topf voll Milch auf seinem borstigen Schädel. »Aber sieh, der Topf fällt nicht, wie beim Dichter. Wir Kaufleute sind eben die Wirklichkeit, mein Lieber! Peter, du kontrollierst, wie wir uns stehen, wenn wir auf den Zwischenhändler verzichten können … Wenn wir dann eigne Pflanzungen anlegen. Verdammt! Auf den Einfall kam ich nie, weil ich dachte, weiter als bis in die Schweiz führe kein Zug. Es ist uns Großes verloren gegangen in all den Jahren.«
Die zwei Köpfe arbeiteten über dem Prospektbuch ineinander hinein. Der aufgepeitschte Geschäftsgeist Hermanns trieb erregt die Phantasie Peters. Der Geist strebte ins Wachsende, ins Größere, die Phantasie tobte nun auf einmal wild in der Welt herum und jappte nach einer andern Luft. In der Südsee machten die ungleichen Brüder halt.
»Man weiß zu wenig von dieser Gegend, als daß dort nichts zu machen wäre!« rief Hermann.
Peter scherzte: »Und wenn das Blut unsres von dir so gefürchteten Ahns Jens aus Emden drunten wieder ausschlüge …«
»Ach was!« versicherte Hermann, der diese Rede in seiner Hitzigkeit für ernst nahm, »unsre Zeit hat keine Luft mehr für diesen Beruf. Jens ist vermodert, und wir halten den Familienschrank mit seinem Skelett gut vor jedermann verschlossen. Und dann bitte um eins: Scherz' nicht, Peter! Jetzt bist du mehr als Peter Pirath, der vor seinem Kummer nach Gmunden fliehen wollte. Jetzt schiebst du mit an der Zeit. Wenn das zu machen geht und uns durch eigne Pflanzungen auch der Rohstoff ganz zu Willen ist, dann wachsen wir so, daß die ganze Stadt mitwächst. Es ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt und, so weit es Wasser gibt, seine Ringe von dem Stoß auswirft. Das wird ein berühmtes Datum in der Geschichte von Jens Pirath Söhne und in der Geschichte der Heimatstadt. Pflanzer und Fabrikant! Ferne Inseln und Vaterland in einem Kreis. Kolonialpolitik einer deutschen Firma!«
Peters Weltreise war also beschlossen. Peter band sich an keine Zeit. Eilig beförderte er die Vorbereitungen. Es kam ein Skandal mitten hinein. Der Friseur Larisch erhängte sich im Garten des »Schwanen« in H. vor Rees Fenster. Sie hatte nichts mehr von ihm wissen wollen. Aber diese furchtbare Wendung konnte den Stein nicht mehr aufhalten, der so mächtig im Rollen war. Denn auch bei Peter, der das große, vom Bruder ausgedachte Werk zuerst nur egoistisch zur eignen Befreiung dienstbar machen wollte, hatte der Gedanke gezündet.
So warf jener Schicksalsschlag das ewige Rad einen Schwung fester bei den Piraths herum. Der Geist der Entwicklung hienieden gab einen guten Faustschlag hinein und knirschte vor Genugtuung mit seinen grimmigen Zähnen. Pirath Söhne schnappten einen Sprung höher ein, damit eine Reihe andrer Menschen und Verhältnisse, kurzum ein ganzes Zeitläuftchen.
Aus verflossenem Herzblut schossen Triebe einer neuen Energie. Alte Wellweisheit!
Der Räuber und Friseur Larisch blieb zeitlich: eine taube Ähre, deren Wertlosigkeit bei der Ernte herauskam und vernichtet wurde. Und Ree! Ach ja, und das heftige, schöne, ehebrecherische Tigerlein Ree? Verabschieden wir sie. Sie hat ihre göttliche Mission erfüllt: einen Flibustier aus der Gesellschaft gemerzt und einen wertvollen Mannescharakter auf einen neuen und fruchtbaren Acker gebracht.