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Die Heilsarmee, ihre Beschreibung, Zergliederung und Ablehnung, ist für Shaws Komödie nicht Ziel – so wenig wie die Verspottung der Medizinmänner für den ›Arzt am Scheideweg‹ die Endabsicht gewesen ist – sondern nur Vorwand, Mittel, Hintergrund und Milieu. Es ist ein Milieu, in dem Shaws Gedanken noch am ehesten Farbe, Blut und Körper erhalten konnten. Aber es ist zur Not durch ein andres Milieu zu ersetzen, in dem dieselben Gedanken durch andre Illustrationsfakten zum Siege zu führen wären. Auf den Sieg dieser Gedanken kommt es Shaw in erster Reihe an. Er will wirken, ins Leben, in unser aller Leben greifen, es auf eine Basis der Vernunft, der Gesundheit und der Schönheit stellen – und er ficht gegen die Macht, die uns in der Dunkelheit hält, und eifert für die Macht, die seiner Meinung nach das Licht selber ist. Ex divitiis lux. Reich werden ist alles. Ehrlich währts am längsten, und darum hätte Shaw nichts dagegen, daß man zu Einbruch, Brandstiftung, Raub und Mord griffe, ehe man vom Schicksal Armut hinnähme, und daß alle Erwachsenen schmerzlos, aber unerbittlich getötet würden, die ein geringeres Jahreseinkommen als siebentausenddreihundert Mark hätten. Darüber läßt sich streiten. Wahrscheinlich geht eben so viel moralisches Kapital, kulturfördernde Energie, künstlerischer Elan, kurz: Lebenskraft im Shawschen Sinne durch Reichtum zugrunde, wie durch Armut geistige Größe verkommt, körperlicher Reiz verwelkt und menschliche Güte verhärtet. Unbestreitbar aber und in diesem Falle schließlich auch am wichtigsten ist es, daß Shaw selber durch seine wachsenden Bezüge weder an seinem Gehirn noch an seiner Leidenschaft Schaden genommen hat. Mag er Kapitalist geworden sein: er wird immer ein revolutionärer Schriftsteller bleiben und ist es in ›Major Barbara‹ mehr als je. Er stachelt die Trägheit, befeuert den Mut, entlarvt die Heuchelei, eröffnet Perspektiven, durchleuchtet Probleme, vernichtet Vorurteile und verschreibt Heilmittel, und da wir bereits festgestellt haben, wofür und wogegen, fragt es sich jetzt, was diesem fanatischen Sozialethiker die Kunst der Polemik und die Kunst des Dramas zu danken haben.
Shaws polemische Kunst ist mit seinen höhern Zwecken gewachsen. Er stichelt nicht mehr, sondern schlägt zu. Er kitzelt nicht mehr das Zwerchfell, denn es erscheint ihm nicht als der Sitz des Gewissens, das er wecken will. Wenn er auch in ›Major Barbara‹ witziger ist als irgendwer im heutigen Europa, so ist er es nebenbei und unvermeidlicher Weise, weil eben niemand aus seiner Haut kann. Aber er legt keinen Wert darauf und würde, im Gegensatz zu manchen seiner Geistesbrüder, Hekatomben von Witzen opfern, um die Entwicklung einen Schritt vorwärts zu bringen. Man müßte kein Ohr für die Schlachtmusik des Zorns und der Begeisterung haben, um hier die Tanzmusik des Hohns und der Sophistik zu entbehren. Man braucht sie übrigens nicht einmal zu entbehren. Shaw ist teils zu beweglich, teils zu schamhaft, als daß sich sein Ernst zur Pathetik verdicken könnte. Mozart ist nicht zufällig seine ganze Liebe. Shaw bedarf ebenso wenig wie jener zu einer Jupitersymphonie eines Wagnerschen Orchesters. Er verläßt sich auf die Originalität und Wahrheit seiner Melodie und verzichtet nicht nur auf die hypnotischen Künste einer üppigen Instrumentierung, sondern leistet sich auch nach dem Allegro ein Scherzo, vor dem Andante ein Menuett.
Aber sind das die Elemente eines Dramas? Einem unpedantischen Talent wie Shaw kommt man mit Pedanterie nicht bei. Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf? Die geistige Armut des deutschen Dramas, soweit es auf unsre Bühnen gelangt, ist heute so bejammernswert und wird in so geringem Maße durch technische Künste verhüllt, daß man einen fruchtbaren Kopf wie Shaw auch dann loben und preisen müßte, wenn er sich noch viel weniger um die Gesetze der Komposition kümmerte. Gewiß: er denkt nicht daran, es seinen Zuhörern leicht zu machen. Er läßt in der letzten Szene des letzten Aktes Dinge sagen, die blos im Anfang oder selbst erst in der Mitte gesagt zu werden brauchten, um allerhand Mißverständnisse und Unklarheiten zu verhüten. Er ist von manchen Situationen, die ihn aus irgend einem Grunde amüsieren, nicht wegzukriegen, vernachlässigt andre und schert sich den Teufel darum, daß infolgedessen sein dramatischer Organismus eine geschwollene Backe, ein zu kurzes Bein, einen eingefallenen Bauch und ähnliche Abnormitäten aufzuweisen hat. Wenn nur Hirn, Lunge und Herz gesund ist! Weiß Gott, das sind sie! Das Hirn ist Undershaft, der Kanonenkönig und Multimillionär, der Shaws Überzeugung von der weltbeherrschenden und menschenbeglückenden Macht des Geldes zugleich verkündet und verkörpert. Ja, auch verkörpert. Ich glaube nämlich nicht, daß ich es nur meiner ergänzenden Phantasie zu danken habe, wenn ich diesen Vater Colossus greifbar vor mir sehe. Es wird doch wohl der Schwachsinn unsrer gangbaren Theaterautoren, deren Figuren nichts zu sagen haben und auch das nicht in einer menschenwürdigen Form können, dieser unerträgliche Schwachsinn wird es doch wohl verschuldet haben, daß uns eine gedankenreiche und redegewandte Dramengestalt wie eine leblose Konstruktion erscheint. Warum denn? Man denke sich statt der landläufigen Müller, Schulze, Meyer und Cohn etwa Carl Fürstenberg, Harden, Moritz Heimann und die Eysoldt zusammen, und es werden Gespräche entstehen, die, wörtlich auf die Bühne gebracht, Shaws Dialogen an Schärfe der Dialektik, Glanz des Ausdrucks und Schlagkraft des Witzes nichts nachgeben werden. Ausnahmemenschen? Aber mit diesen Eigenschaften sind auch bei Shaw nur die Ausnahmemenschen ausgerüstet. Charles Lomax, Peter Shirley und Bill Walker sprechen keinen irgendwie wertvollen Satz, während Adolphus Cusins, in allen Sätteln gerecht, klassischer Philologe und Offizier der Heilsarmee, Jünger des Dionysos und Kind der Gegenwart, nicht umsonst ein Dichter genannt und nur nach Verdienst Schwiegersohn und Nachfolger eines modernen Heros wie dieses Undershaft wird. Cusins ist, um bei dem anatomischen Bilde zu bleiben, die Lunge des Dramas. Durch ihn atmet es als Drama, ohne ihn würde es zusammenschrumpfen, weil mit diesem kühlen, frischen, starken, anmutigen und immer gutgelaunten Kulturprodukt nicht allein Undershafts unentbehrliches Gegenspiel, sondern auch die Ergänzung Barbaras dahinfiele. Barbara aber ist das Herz des Dramas. Ihr Vater Undershaft macht dem Professor Cusins, der sie besitzen zu müssen behauptet, den Vorwurf, daß er, wie alle jungen Menschen, den Unterschied zwischen einer jungen Dame und einer andern gewaltig übertreibe. Cusins ist auch in diesem Falle nicht unreif, sondern weise. Denn Barbara hat nicht ihresgleichen oder doch nur in Shaws eigener Welt, in jenen – bald Candida, bald Cicely, bald Jennifer genannten – Frauen von untrüglichem Takt, innerer Gesundheit, unbeirrbarer Schaffensfröhlichkeit und gefestetem Gefühl, die ein Schimmer von weiblicher Genialität umschwebt und verklären würde, wenn ihr Schöpfer sie nicht durch kleine große Eingebungen seiner Charakterisierungskunst auf der Erde festhielte. Solch eine Eingebung ist es, daß Barbaras Trauer über den Abbruch ihres Seelenrettungswerkes sofort vergeht, wie ihr Vater ihrer Eitelkeit durch die rhetorische Frage schmeichelt, ob sie einen Mann ins Herz treffen könne, ohne daß ein Zeichen an ihm zurückbliebe. Das ist ein Beispiel von vielen und ein fast grobes dazu. Auch in ›Major Barbara‹ beglaubigt der Dauerredner Shaw sein Dichtertum durch nichts so unzweideutig wie durch das, was er halb oder ganz unausgesprochen läßt. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist von einer Reinheit, Zartheit und Verhaltenheit, daß sie wiederum nur in Shaws eigener Welt ihresgleichen sucht.
Die Regie der Kammerspiele hatte die Aufgabe, das zufällige Milieu und die unsterbliche Gedanklichkeit der Komödie zugleich zu betreuen. Das Milieu wurde lebendig, an manchen Stellen aber theatralisch überlebendig, besonders da, wo der Diener der Lady Undershaft sich benahm, wie es außer der ungeeigneten Lady der Kammerspiele keine Lady dulden würde. Ob die Gedanklichkeit durch die Darstellung zu kurz gekommen ist, hätte ich zu beurteilen gewußt, wenn ich das Stück erst gesehen und dann gelesen hätte. So aber erwartete ich jeden Satz mit zu großer Freude, als daß ich mich, sobald er vernehmlich gesprochen wurde, irgendwo durch mangelnden Nachdruck hätte geschädigt fühlen können. Schlimm aber war, wie viel und was für Sätze überhaupt nicht gesprochen wurden! Striche sind notwendig. Nur daß sie gerade in dieser Komödie eher das Milieu als den Gedankengehalt treffen mußten. Reinhardt wird erwidern, daß dadurch die Bühnenmöglichkeit des Dramas noch mehr beeinträchtigt worden wäre. Dies ist darum ein Irrtum, weil hier Bühnenmöglichkeit ja einzig für diejenigen vorauszusetzen war, denen dies Milieu nichts und dieser Gedankengehalt alles ist. So blieb die Regie den Hauptdarstellern ein paar ihrer unfehlbaren Wirkungen schuldig, ohne die Wegener immer noch ein grundgescheiter und gütiger Undershaft, Abel ein witziger und behender Cusins und die Höflich eine leuchtend klare und stolze Barbara war.