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Hauptmann: Das Friedensfest

P ax vobiscum tönt es am Schluß zweier Dramen, hörbar bei Ibsen, unhörbar bei Hauptmann, erschütternd hier wie dort. Arnold Rubek und Irene steigen Hand in Hand über ein Schneefeld und verschwinden in den Wolken; sie gehen am Leben vorbei in den Tod. Wilhelm Scholz und Ida Buchner schreiten Hand in Hand, aufrecht und gefaßt, am Tode vorbei ins Leben. Mit Lynkeus, dem Türmer, könnte Ibsen sagen: Ich blick in die Ferne; könnte Hauptmann sagen: Ich seh in der Näh … Aber es hätte, für diesen einen Fall, auch umgekehrt Geltung. Henrik Ibsen sieht das Ende nah und macht einen Punkt. Gerhart Hauptmann steht am Anfang, hoffnungsreich, aber zweifelnd, und macht ein Fragezeichen. Dort eine erhabene Marche funèbre, die ein Lebenswerk zusammenfaßt, deutet und ausleitet. Hier eine wilde Pathétique voller Dissonanzen, voller Anklänge, und die doch ein eigenes Weltgefühl in neuen Tönen machtvoll ankündigt.

›Das Friedensfest‹ hat Reinhardt jetzt nachgedichtet. Auch darin scheint dieser Dreißigjährige den fünfzigjährigen Brahm zu beerben, daß er in der Schumannstraße die Ensemblekunst wieder aufbaut, die Brahm dort geschaffen hat. aber für sein Teil seit dem Umzug ans Friedrich-Karl-Ufer mehr notgedrungen als absichtlich einer Persönlichkeitskunst hintansetzt. Reinhardts ›Gespenster‹ kommen bereits der Brahmschen ›Wildente‹ gleich, und Reinhardts ›Friedensfest‹ erreicht als Ganzes die ›Mütter‹ von 1895, den ›Fuhrmann Henschel‹ von 1898 und die ›Hoffnung auf Segen‹ von 1901, die drei Gipfelpunkte des Brahmschen Bühnennaturalismus. Das Brahmsche ›Friedensfest‹ selbst von 1899 läßt der Reinhardt von 1907 weit hinter sich zurück. Alles, was Reinhardts Ensemble dem Ensemble des frühern Brahm noch immer unterlegen, und was es ihm heute schon überlegen macht, kommt dem ›Friedensfest‹ zustatten. Reinhardt hat wenig Persönlichkeiten, die stark und reif zugleich sind, und er hat eine bezwingende junge Weiblichkeit. Bei Brahm war es (und ist es noch heute) umgekehrt. Aber reife und starke Persönlichkeiten sind für den Eindruck des ›Friedensfestes‹ ein Hindernis, und eine bezwingende junge Weiblichkeit ist für diesen Eindruck unentbehrlich. Denn was zeigt, was ist das ›Friedensfest‹? Es ist eine Familientragödie; wirklich eine Tragödie, deren Tragik nicht aus Geldmangel oder einer Intrige erwächst, sondern mit der unseligen Blutmischung der Familienmitglieder unerbittlich gesetzt ist. Sie zeigt Menschen eines Blutes, die so beschaffen sind, daß sie sich küssen möchten und beißen müssen; deren Schamhaftigkeit nicht verträgt, bei einer Empfindung betroffen zu werden; die den andern Wunden schlagen und sie am eigenen Leib, im eigenen Blut dreimal so schmerzlich fühlen; Menschen, verwildert und überfeinert zugleich, brutal und zärtlichkeitsbedürftig; Menschen einer Übergangszeit und als solche allgemeingültig, als solche unreif durch und durch. Die Tragödie dieser Menschen wird dramatisch vorwärtsbewegt dadurch, daß sie blindwütig gegen einander toben. Sie wird dramatisch beendet dadurch, daß das Familienhaupt stirbt, und daß von dem rettungswürdigsten Familienmitglied ein Engel der Liebe, ein Bote des Friedens Besitz ergreift: Ida Buchner, eine andre Irene. Weh dir, daß du ein Enkel bist! und: Ewigen Liebens Offenbarung, die zur Seligkeit entfaltet – das ist, das zeigt das ›Friedensfest‹.

Für die Glaubhaftigkeit dieser Familientragödie auf der Bühne ist Bedingung: daß die Scholzens wirklich eines Blutes scheinen; daß die Mutter von einer Unbildung des Geistes und des Herzens ist, die das Unglück der Ehe und die traurige Jugend der Kinder verschuldet haben kann; daß die drei Kinder so alt sind, wie der Dichter sie haben will und haben muß, nämlich unter Dreißig; daß sich, zuguterletzt, die Macht der Liebe hinreißend offenbart. Von alledem war bei Brahm nichts erfüllt. Was an seiner Vorstellung unvergeßlich ist, sind großartige Einzelleistungen, nicht die Verkörperung des Hauptmannschen ›Friedensfestes‹. Von den fünf Scholzens überboten sich vier an schauspielerischer Bravour und menschlicher Tiefe; aber sie hatten wenig miteinander gemein. Die alte Scholzen gab Louise von Poellnitz, deren innere Vornehmheit sich, für die Mutter Wolffen etwa, in Geistesgegenwart, Unternehmungslust, Lebenstüchtigkeit auf einer niedrigern Stufe umsetzen, aber niemals ganz ins Nichts auflösen konnte; in ihrem Hause hätte sich keine dieser fürchterlichen Familienszenen abspielen dürfen. Von den Kindern war Robert nicht achtundzwanzig, sondern ein überlegener Mann von fünfunddreißig ausgiebigen Jahren, den man sich durch die Nachwehen sexueller Jugendsünden in seinem Wesen und Benehmen bestimmt beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte. Die Buchners waren nur dann Mutter und Tochter, wenn Hedda Gabler irgend wann einmal einen Blumenthalschen Backfisch zur Welt gebracht hat. Ich sehe Rittners Wilhelm in jeder Bewegung vor mir; aber Hauptmanns ›Friedensfest‹ habe ich erst in den Kammerspielen des Reinhardtschen Deutschen Theaters gesehen.

Über diese Vorstellung ist nichts gesagt, wenn man jede einzelne schauspielerische Leistung vollendet nennt. Wären nicht alle vollendet, es würde die Gesamtwirkung schwerlich beeinträchtigen. Immerhin ist es erfreulich, daß kaum etwas zu wünschen bleibt. Am ehesten noch bei Reinhardt selbst. Er ist in der Brahmschen Aufführung sicherlich größer gewesen. Aber man müßte wahrscheinlich ein Gott oder doch ein Krösus dieser Kunst sein, um eine Gemeinschaft ihrer Angehörigen mit seinem Herzblut zu tränken und sich gleichzeitig ein volles, von der Empfindung für eine Gestalt ganz volles Herz zu bewahren. Der Schade ist gering, denn die Erklärung für das Schicksal des Hauses Scholz ist die Herrin dieses Hauses, und Frau Wangel erklärt alles. Wie sie sich schmoddrig trägt, ihr Haar nicht pflegt, sich schußrig bewegt und winslich quäkt, das ist in allen Einzelheiten nur eine Befolgung der Regievorschriften, ergibt aber im ganzen einen erschreckend lebendigen Menschen, den ihr an seinen Früchten erkennen sollt und könnt. Da ist die älteste Frucht: Auguste. Wie haben es vor siebzehn Jahren die Banausen begrinst, daß Hauptmann sich die Freiheit nahm, dieser Gestalt vorzuschreiben: sie müsse gleichsam eine Atmosphäre von Unzufriedenheit, Mißbehagen und Trostlosigkeit um sich verbreiten. Welche Schauspielerin vermöge das! Fräulein Durieux gelingt es mühelos durch Tracht, Schopf, Kneifer, Gang und Gelächter. Das ewige Weh und Ach dieser Hysterischen ist aus einem Punkte zu kurrieren. Wäre ihr Bruder Robert ein Weib, er wäre nicht weniger unausstehlich. Wie er ist, und wie ihn Herr Biensfeldt über jede Erwartung getreu darstellt, ähnelt er zur Hälfte Augusten, in seinem mokanten Ton und seinen perfiden Anwandlungen, zur andern Hälfte dem jüngern Bruder Wilhelm, in seiner Empfindsamkeit, seiner Sehnsucht nach einem bischen Sonne. In diesem Wilhelm gibt Herr Kayßler das Beste, was er bisher gegeben hat. Bei andern tragischen Gelegenheiten schadet ihm die menschlich wundervolle Eigenschaft, sich auf der Höhe des Affekts scheu und schamhaft in sich selber zu verkriechen, statt sich die Kleider vom Leibe und die Brust aufzureißen. Hier macht diese Eigenschaft das Wesen der Gestalt aus. Buchners sind von anderm Schlag. Sie strömen über von Liebe, Güte und Zuversicht. Als die Mutter ist Frau Elise Sauer, wie sie sein soll. Als die Tochter ist Fräulein Else Heims mehr, als man sich je von ihr, aber auch von der Figur hätte träumen lassen. Ein demutsgroßer, in seiner Hingegebenheit starker und sieghafter Mensch ist strahlend von innerer Schönheit und ergreifend innig nachgeschaffen worden. Wie diese Ida mit bittend, betend gefalteten Händen dem kämpfenden und leidenden Geliebten unentmutigt beisteht, wie sie ihm an die Brust fliegt, ihn küßt, ihm die Sorge von der Stirn streicht: über alledem liegt ein Zauber von Reinheit und Ursprünglichkeit, der freilich von bannender und erlösender Kraft sein muß.

Über diese und die andern Gestaltungen kann mehr, braucht aber nicht mehr gesagt zu werden. Denn nicht sie selbst machen den Hauptwert der Vorstellung aus, sondern die Luft, die um sie und zwischen ihnen weht, die innere Beziehung, die zwischen ihnen … nicht hergestellt ist – das könnte klingen, als merke man die Arbeit – nein, die von Hause aus zwischen ihnen besteht, die sie krank gemacht hat, und die sie zugrunde richtet, wenn nicht Hilfe von außen, von oben kommt. Nichts leichter, als die erste Bühnenanweisung des Dichters auszuführen: »Soweit möglich, muß in den Masken eine Familienähnlichkeit zum Ausdruck kommen«; als die verschiedenen Familienmitglieder so zu kleiden, daß die Kleider die Leute machen oder verraten; als diese Leute in eine öde winterliche Riesenhalle zu setzen, wo ein Ton von einem zum andern allerdings erfrieren kann. Das träfen viele Regisseure. Die Einzigkeit dieser Vorstellung ist, daß, wie durch ein Wunder, die Scholzens wahr und wahrhaftig eines Blutes sind. Die beiden Buchnerfrauen sind es auch; aber das sind nur zwei, und die Wesensähnlichkeit der beiden sanften und herzlichen Schauspielerinnen, die gleiche Farbe, vielleicht selbst der gleiche Schnitt ihrer Kleider tun ein übriges. Die Scholzens sind fünf an der Zahl, sind hohe Zwanziger, Vierziger und Sechziger, sind verschiedenen Geschlechts, werden von grundverschiedenen Schauspielernaturen und Temperamenten dargestellt und sind doch so verwandt, daß die Tragödie dieser Verwandtschaft zu ihrer ganzen herzbeklemmenden und erschütternden Wirkung kommt. Wahrscheinlich ist das ›Friedensfest‹, nachdem alles von ihm abgefallen ist, was ihm von Zeittheorien angehaftet hat, überhaupt Hauptmanns folgerichtigstes und unentrinnbarstes Drama. Eins ist gewiß: in dieser Aufführung überwältigt es so wie nie zuvor; wie von je nur wenige Werke von Hauptmann überwältigt haben. Es wäre ihm und unserm armen Theater zu wünschen, daß auch an andern seiner Dramen ähnliche Rettungen versucht würden.


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