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Wenn ich nur wüßte, was an der abenteuerlichen Eulenspiegelei von der Höllenfahrt des verwegenen Hochstaplers Marquis von Keith unverständlich ist! Dieser Marquis von Keith hat nur zwei Gaben mit auf die Welt bekommen: Phantasie und Ehrgeiz. Ein rastlos oszillierendes Hirn, das ihm alle Schönheit dieser Erde vorgaukelt, und den leidenschaftlichsten Drang, aus den Niederungen seiner Herkunft zu den Höhen des Besitzes zu gelangen – Danaergaben, wenn keine Schöpferkraft sich zugesellt. Und Keith ist mehr Zuschauer als Schöpfer. Seine Freundin Molly trifft es, wenn sie sagt: »Betrachten wirst Du ihn (den Lebensgenuß), solange Du lebst«. Wie aus dem Betrachter ein Schöpfer werden will und nicht werden kann, zeigt der Verlauf des Dramas. Keith will, da es auf anständige Weise nicht geht, durch Hochstapelei seine Ziele erreichen. Aber selbst dazu hat er nur in seiner Phantasie, nicht in der Wirklichkeit Talent. Er glaubt zu schieben, und er wird geschoben; wird von den Gaunern, die keine Hypertrophie der Einbildungskraft zum besten hält, und die ihre Geschäftsbücher mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns führen, mühelos betrogen. Ihrer wird das Weib, das er erhoben hat, ihrer wird der Feenpalast, den er erträumt hat. Ihn speisen sie mit lumpigen zehntausend Mark ab. »Das Leben ist eine Rutschbahn.« Es wird einmal auch wieder nach oben gehen, und man wird von der Lehre profitieren, die man empfangen hat: daß die bürgerliche Moral das beste Geschäft in dieser Welt ist.
Wie viel steckt in diesem Marquis von Keith – dieser schönheitsdurstigen Kinderseele, die so wundervolle Einfälle hat und sie so unvollkommen ausführt – von Wedekind selbst! Man lasse sich nicht durch das Gerüst täuschen. Es ist, in seinem abgezirkelten Parallelismus, ganz exakt gezimmert. Um das Bild zu wechseln: Zwei Paare treten zur dramatischen Quadrille an, nicht wie das Leben sie zusammenführt, sondern wie ein Dichter sie zu kontrastieren liebt. Ein Egoist und ein Altruist; eine Egoistin und eine Altruistin. Der Altruist opfert sich für die Egoistin und wird von ihr aufgeopfert; die Altruistin opfert sich für den Egoisten und wird von ihm aufgeopfert. Keith kommt von unten und eignet sich einen tönenden Titel an; Ernst Scholz heißt Graf Trautenau und hört auf, von diesem Namen Gebrauch zu machen. Anna Müller war Verkäuferin und wurde Gräfin Werdenfels; Molly Griesinger war wohlhabende Bürgerstochter und lernt als Zigeunerin hungern. Keith ist arm und wirft mit dem Gelde; Scholz hat unendlich viel und trennt sich nicht davon. Keith kann einen Puff vertragen; Scholz erbebt bei jeder Berührung. Die Charaktervollen nehmen ein trauriges Ende: Molly geht ins Wasser, Scholz ins Irrenhaus. Die Charakterlosen gehören zu den Glücklichen, die vergnügt und heiter über frische Gräber hopsen … So arrangiert ist das alles! Aber nur äußerlich. Innerlich ist dieses Werk Wedekinds so chaotisch und fragmentarisch, wie seine frühern nicht waren, und wie seine spätern sind. Was es dennoch über diese spätern erhebt, ist die ungerührte Ergriffenheit und die gleichgültige, unethische, kalte Wahrhaftigkeit, mit der Wedekind hier noch auf seine Welt blickt. Er hat noch nicht weinen gelernt. Er gleicht noch seinem Marquis von Keith. Wie dieser hat er zum dramatischen Hochstapler kein Talent. Auch ihm spiegelt sein Dämon ein dichterisches Ideal vor, das er zu verwirklichen sich heiß bemüht, das ihn aber äfft und irreführt; mit dem er, wie Bellerophon mit der Chimäre, kämpft; das sich ihm immer wieder entreißt und nach jedem Handgemenge nichts zurückläßt als Fetzen vom Gewand. Kostbare Fetzen: tiefe Charakterzüge, satirische Sentenzen, barocke Philosopheme, lapidare Aphorismen von weitester Lebensperspektive, die schon zu geflügelten Worten geworden sind. Etwa: »Unglück kann jeder Esel haben; die Kunst ist die, daß man es richtig auszubeuten versteht«; »Die Wahrheit ist das kostbarste Lebensgut, und man kann nicht sparsam genug damit umgehen«; »Sünde ist eine mythologische Bezeichnung für schlechte Geschäfte.« Dies alles macht freilich kein Drama. Wedekinds spezifisch dramatisches Vermögen ist eine Pflanze, die ein siechendes Leben im Mondschein fristet. Und doch – –
»Mir ist bei meinen wenigen Erfahrungen klargeworden, daß man den Leuten, im ganzen genommen, durch die Poesie nicht wohl, hingegen recht übel machen kann, und mir deucht, wo das eine nicht zu erreichen ist, da muß man das andre einschlagen. Man muß sie inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als ein Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüberstehen. Dadurch allein lernen sie an die Existenz der Poesie glauben und bekommen Respekt vor dem Poeten.« Es wird manchen überraschen, daß Schiller das gesagt hat. Ich meine auch: solange wir den lebendigen Genius nicht haben – der dem deutschen Drama seit Anzengrubers Tode nicht erschienen ist – sollten wir uns freuen, ein so geniales Gespenst zu haben.
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»… Im Residenztheater sahen wir nur die plumpen Spektakelkünste Zickelscher Provinzregie und, in der Hauptsache, die dreisten Stümpereien ahnungsloser Mimen, die zum Teil das Memorieren überflüssig gefunden hatten – und Frank Wedekind mußte es büßen.« So schrieb ich im Oktober 1901, als der ›Marquis von Keith‹ seine Höllenfahrt unter dem Gejohle des berühmten berliner Premierenpublikums beendet hatte. Im Dezember 1905 war es nicht schwer, zu prophezeien, daß man im Kleinen Theater den durchgedrungenen Wedekind mit ruhiger Aufmerksamkeit hinnehmen werde. Aber war das genug? Ich riet dem Dichter zu Reinhardt. »Der träfe schon heute die galgenlustige und galgenschaurige Stimmung dieser wahrhaften Tragikomödie, die ironische Grimasse auf dem Untergrund eines großen Ernstes. Er hat nur heute noch keinen Keith. Es müßte ein Schauspieler sein, fähig, nicht blos einen Windhund zu zeigen, sondern den nomadenhaften Sohn einer zerrissenen, friedlosen Zeit; ein Schauspieler mit der Kraft, auch noch den blassesten Gedanken von seinem eigenen Blut zu speisen und eine Figur mitreißend lebendig zu machen, die in einer Glanzhülle von künstlichem Phosphorlicht schwebt, statt von innen heraus durchleuchtet zu sein.« Mit dem einen Keith war es aber doch nicht getan. Schließlich sind etwa anderthalb Dutzend Personen um ihn herum, die alle halbwegs bühnenmöglich zu machen kein alltägliches Stück Arbeit ist. Denn diese Menschen haben zwar manchmal eine Seele, aber fast niemals Sehnen. Sie sind eingerichtet, widersprechende Stimmungen durch sich hindurch scheinen zu lassen, aber nicht kräftig auszuschreiten. Sie sind aufgelöst in lauter Sensationen. Wie war da zu helfen?
In den Kammerspielen hat man bei der ergänzungsbedürftigen Wesenheit der Figuren liebevoll verweilt und ist über ihre Worte im Geschwindmarsch hinweggegangen. Das hat zwei Vorteile: es gibt der Vorstellung ihr belebendes Tempo und ihre belebte Plastik. Auf einen besondern Stil ist man nicht bedacht gewesen. Wie er aussehen müßte, zeigt Wedekind selbst. Sein Konsul Kasimir ist durch die geringfügigen Mittel einer klobigen Stahlbrille, die der Millionär nicht tragen, und schwarzer Koteletten, die sein Friseur nicht zulassen würde, einer Marionette ähnlicher als einem Menschen geraten. So spricht er auch: scharf, trocken, stoßweise, wie unbeteiligt, in einem einförmigen Tonfall, der absichtlich den wichtigsten Satz um keinen Hauch vor dem unwichtigsten bevorzugt und damit Wedekinds Stellung zu seiner dichterischen Welt kennzeichnet. So interessant und glücklich dieser Stilversuch aber auch ist, so nützlich ist es für die ganze Aufführung, daß er der einzige bleibt. Alle andern reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und gehen auf einen gefahrlosen mimischen Naturalismus aus. Jede Episode springt rund und farbig heraus, weil eine sichere Hand für jede einen Darsteller herausgegriffen hat, der ihr mit einem entscheidenden Zuge, sei es des Gesichts oder der Gestalt oder der Stimme, entgegenkommt und diejenigen Züge, die der dichterischen Figur fehlen, aus seiner Körperlichkeit und Geistigkeit hinzutut. Man müßte zum Splitterrichter werden, um hier mehr zu bemängeln als Dialektschwankungen. Die zwei Hauptpaare, die zur dramatischen Quadrille antreten, lösen größere Schwierigkeiten mit keinem kleinern Erfolg. Dabei wird der glühende Wille des Fräulein Ella Barth, die zur Molly Griesinger ursprünglich nicht bestimmt war, freundlich für die Tat genommen. Den Altruisten, der dieser Altruistin gegenüber gestellt ist und zwar nicht, wie sie, im Wasser, aber im Irrenhaus endet, läßt Herr von Winterstein, in überraschend intimer Charakteristik, gleich ein bischen schwachsinnig anfangen. Er hat das Lachen eines Mikrocephalen und muß damit den beiden Egoisten unterliegen, die vergnügt und heiter über frische Gräber hopsen, oder richtiger: sich schlängeln und hinken. Die gräfliche Schlange Anna Werdenfels aus dem Posamentierladen kann in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gar nicht plausibler hingestellt werden als von Frau Durieux. Dem hochstapelnden Hinkefuß des Herrn Wegener fehlt zum Glück ganz der elegische Unterton, den ihm einstmals Wedekind auf der Bühne gegeben hat. Im Buch ist er nicht zu finden. Dieser Keith hat eben nur zwei Gaben mit auf die Welt bekommen: Phantasie und Ehrgeiz. Herr Wegener ist eher zu nüchtern als sentimental. Die Hypertrophie der Einbildungskraft, die den Mann erklärt, dürfte sich schon üppiger äußern. Wahrscheinlich war dieser Mangel an faszinierender Unberechenbarkeit schuld daran, daß das Stück auch diesmal noch nicht nach Gebühr und Möglichkeit gezündet hat. Es wartet auf Bassermann.