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Wenn anders ich in meinen Tagen sang
Als Aeschylos, erreichbar wohl für keinen
Wars, weil ein andres Echo mir erklang
Aus meiner Hörer Brust als ihm aus seinen.
Und Ihr, nach zwei Jahrtausend Zwischenraum
Das Widerspiel von meines Volkes Leben,
Wollt, was das Wissen Euch verdeutlicht kaum –
Dem Mitgefühl als weiche Nahrung geben?
Ehrt Ihr mich, wohl, so eignet mich Erich an,
Füllt Eure Adern straff mit meinem Blute,
Und so gestärkt, tut, wie ich selbst getan,
Erzeugt das Euch Gemäße und das Gute.
Diesen Sang läßt Grillparzer den »Euripides an die Berliner« richten, denen Tieck ein paar antike Tragödien vorgeführt hatte. Was er sagen will, ist klar. Die Griechen zum Muster nehmen, heißt nicht: zu Griechen werden; es heißt: sich so sehr als Deutsche empfinden, wie die Griechen sich als Griechen empfunden haben. Denn diese haben sich ja nicht an assyrische Vorbilder gehalten, sondern sie haben in ihre Zeit, in ihres Volkes Leben geblickt. Das sollten wir von ihnen lernen.
Grillparzers Landsmann Hugo von Hofmannsthal ist noch nicht bei seinem ›Bruderzwist im Hause Habsburg‹, bei seines ›Königs Ottokar Glück und Ende‹ angelangt. Den Bedürfnissen seines unheimlich vorgeschrittenen, von allen Kulturen genährten Künstlertums entspricht es vorläufig mehr, als das Land der Griechen mit der Seele zu suchen, im Lande der Griechen seine Stoffe zu finden. Er füllt seine Adern nicht mit griechischem Blut, sondern er gießt sein Blut in griechische Adern. Er steht heute da, wo Grillparzer stand, als er der ›Medea‹ des Euripides, die nur die Katastrophe gibt, in fünf Akten die seelische Vorgeschichte voraufschickte. Hofmannsthal gibt die Saat von des Oedipus Geschick, von dem Sophokles nur die Ernte gegeben hat. Sein Werk hat, wie Grillparzers, nichts mit scholastischen Kunstbestrebungen gemein, es ist gleichfalls kein Erzeugnis einer archaisierenden Stilspielerei. Die Unterschiede beginnen erst dort, wo beide an die fertigen Dichtungen ihrer Vorgänger geraten: Grillparzer hat auch die ›Medea‹ neugedichtet; Hofmannsthal will sich bei ›König Oedipus‹ und ›Oedipus auf Kolonos‹ mit einer Übersetzung begnügen. Nachdem er in ›Oedipus und die Sphinx‹ die Voraussetzungen des ›Königs Oedipus‹, die wir angeblich nicht mehr lebendig fühlen, sozusagen vermenschlicht, nachdem er alles entfernt oder in den Hintergrund gerückt hat, was unsern Glauben an die Götter Griechenlands und ihr Orakelwesen heischen würde, wird er in seiner Übertragung des ›Königs Oedipus‹ die psychologische Entwicklung wohl oder übel wieder durch den starren Schicksalsbegriff, das übermächtige Eingreifen persönlicher Gottheiten ersetzt sehen müssen. Doch das ist eine spätere Sorge. Näher liegt uns die ganz primitive und dennoch entscheidende Erwägung, ob und wie sehr uns Hofmannsthals Werk an sich bereichert. Und da will ich nur gleich, schweren Herzens, bekennen, daß mich die Gebilde des lebendigen Deutschen schon heute kalt lassen, während mich die Gebilde des toten Griechen noch heute erschüttern. Selbst in einer fremden Sprache, selbst in Paris hat mich das eherne Schicksal, das nur von außen stößt, stärker gepackt als diese Verkörperung der modernen Notwendigkeit, die wir die Unfreiheit des menschlichen Willens zu nennen pflegen. Seit der vorigen Woche glaube ich nicht mehr, daß der Dramatiker, der mit seinem Publikum auf dem gemeinsamen Boden der gleichen Weltanschauung steht, immer über den siegen muß, der eine andre Weltanschauung hat als sein Publikum; es kommt doch wohl auch darauf an, wer der größere Dramatiker ist. Hofmannsthal singt dasselbe Lied wie Sophokles. Leiden ist Menschenlos. Mensch sein heißt leiden. »Weh, was ist ein Mensch!« »Was einer leiden kann, ist ohne Maß.« »… solche Leiden gibt es in der Welt.« »Ah, was sich da gebiert! Der Qualenabgrund, die Höhle weltengroß, getürmt aus Jammer.« Ich will nicht in einem musikalischen Bilde durchführen, warum mir die Melodie des Griechen durch Mark und Bein geht, die Melodie des Deutschen nicht. Ich will die Sprache meines Metiers reden. ›König Oedipus‹ überragt ›Oedipus und die Sphinx‹ an poetischer Ganzheit, an unerbittlicher Klarheit, an bühnentechnischer Vollendung: das ist vielleicht die Lösung. Sophokles stürmt mit der Borniertheit des genialen Dramatikers auf ein einziges Ziel los und erreicht es; Hofmannsthal möchte eine Polyphonie von Motiven, Stimmungen, Schicksalen erklingen machen und gibt zu wenig, weil er zu viel geben wollte. Qui trop embrasse, mal étreint.
Im ersten Akt wird das Thema angeschlagen, das nur hätte in den Mittelpunkt gerückt zu werden brauchen, um jene künstlerische Einheit des Interesses herzustellen, ohne die uns kein Drama zu bezwingen vermag. Oedipus spricht es aus: »… Was nach diesem Wort blieb denn noch übrig als wir drei: der Vater, die Mutter und das Kind, mit zuckenden, mit ewigen Ketten des Geschicks geschmiedet Leib an Leib.« Noch einmal erwähnt er den Traum vom »Vater und von der Mutter und dem Kind«. Was für eine ganze Tragödie ausreichen würde, für die Tragödie der Generationen, der Eltern- und Kinderschaft, wird schon im zweiten Akt abgelöst von der Tragödie des Kreon. Wie der von Hofmannsthal gesehen ist, könnte er nie der Kreon der ›Antigone‹ werden, niemals die Krone erobern. Denn gerade das macht den Reiz dieses Kreon aus, daß er das Kind einer Zeit ist, deren Fortschritt und Fluch es ist, im selben Augenblick die tausend Seiten eines Dinges zu sehen und darüber willensschwach zu werden, zu zögern und zu erlahmen. Es ist wundervoll motiviert, was diesen Kreon siech an seiner Seele gemacht hat. Er mußte als Kind der Schwester und dem Schwager den furchtbaren Orakelspruch von der Bestimmung des Oedipus verkünden. Das hat »sein Herz ihm in der Brust in eines Greisen Herz verzehrt und von den Händen die Taten abgesägt mit glüher Luft, daß sie wie Zunder an die Erde fielen, die unvollbrachten«. Schon jetzt könnte der Kampf beginnen, der sich alle Tage erneuert, zwischen Oedipus und Kreon, zwischen Hakon und Skule, zwischen dem lichten Genius und der qualvoll ringenden Zwitterseele. Aber zuvor hebt sich der Vorhang über einem neuen Drama, das zwischen Jokaste und ihrer Mutter Antiope spielt und nur den Schein eines Dramas hat. Es zeugt für den außerordentlichen Bühnensinn des Dichters, daß der bloße Vorgang, das lebende Bild vergessen läßt, wie entbehrlich die Figur der Antiope im Grunde ist. Sophokles hat sie nicht gebraucht, und Hofmannsthal braucht sie mehr als Maler denn als Dichter, wie einen kontrastierenden Farbenfleck. Auch in der folgenden Volksszene. Von Teiresias will Antiope den Mörder ihres Sohnes wissen, will Kreon als König bezeichnet, will das verzweifelte Volk von der Sphinx und der königslosen, der schrecklichen Zeit befreit werden. Es gibt einen mächtigen Zusammenklang, den mächtigsten der Dichtung. Oedipus wird erschaut und erscheint. Es ist wieder einer jener Augenblicke, wo die tragische Wirkung des spätem ›König Oedipus‹ – wofern sie nämlich auf der vollkommenen Ahnungslosigkeit zweier vom Schicksal gezeichneter Menschen beruht – dadurch abgeschwächt wird, daß Jokaste »Laios!« ruft und Oedipus bei ihrem Anblick wie vom Blitz getroffen dasteht. Aber freilich ist gerade das die Tragik der Hofmannsthalschen Menschen. Was bei Sophokles die Orakel sind, sind für sie die Träume, die Gesichte. Sie träumen so viel und träumen alle – der Magier, Teiresias, der Schwertträger, Kreon, Antiope, Jokaste und Oedipus – und fast immer gehen ihre Träume in Erfüllung. Kreon träumt: »Ich habe sein Gewand mit meiner Hand demütig angerührt«, und spricht nachher: »Mein König, laß mich dein Gewand anrühren«. Sie träumen, Oedipus und Jokaste, ihr Schicksal, ihren Lebenstraum: das warnende Zeichen träumen sie nicht mit. Sie ahnen es von ferne und rennen doch in ihr Verderben. Wenn Oedipus die Sphinx getötet hat, sinkt Jokaste an seine Brust. Furchtbar umwittert die beiden ihr übermächtiges Geschick. Das Volk brauchte kaum noch frohlockend und verderbendrohend zugleich »König Oedipus!« zu rufen. Es ist das beziehungsreiche Schlußwort der schönsten Szene und der ganzen Dichtung.
Sie ist so schön, daß ich vor lauter Bewunderung zu keiner Ergriffenheit komme. Ich bleibe vor der bunten Fülle all dieser prachtvollen Einzelheiten immer Zuschauer. Ich weiß, daß auch meine eigene Sache verhandelt wird, aber ich weiß es eben, ich vergesse es nie, werde nie in den Wirbel hineingerissen. Ich staune über den weiten Schwung, den Hofmannsthals Geberde bekommen hat, und wie die Geberde ebenso sein Geist. Aber hätte er weniger Geist, er wäre ein größerer Dichter. »Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie«, hat er einmal gesagt. Wortkunst ist alles. Seine Gedichte sind »gewichtlose Gewebe aus Worten«. »Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seele und nicht geringer als ein Standbild des Knaben Antinous oder eine große gewölbte Pforte.« Wenn nur diese neuen und kühnen Wortverbindungen aus der Bühne nicht verpufften! Der Leser hat den edelsten Genuß. Denn die Sinne dieses Dichters sind zugeschärft für das Feinste und Zarteste an Reizungen, für die erlesensten Phänomene, für den duftigsten Hauch und Schaum der Dinge. Es gelingt ihm, die organischen Gebilde einer dämmernden Zwischenwelt wie mit einem Ruck ans Licht zu reißen. Seiner wunderbaren Hellsichtigkeit ist da nicht die leiseste Vibration entgangen. Aber es ist der Tod des Dramas als solchen, daß sämtliche handelnden, richtiger: reflektierenden und träumenden Personen mit derselben wunderbaren Hellsichtigkeit begnadet sind. Sie erklären ihre Liebe und ihren Haß, ihre Angst und ihre Sehnsucht. Sie stellen die Diagnose ihrer krankhaften Zustände und begründen, verteidigen, zerpflücken jedes ihrer Gefühle. Ein Knabe Schwertträger weiß mit Worten wie diesen in den Tod zu gehen: »Kreon, du sollst den Dämon haben, der sich dir herniederschwingt aus leerer Luft und Kraft in deine Seele fächelt, o mein König! … Man kann sich auch mit Taten schminken. Gräßlich, daß mir das einfällt. Fort, das ist ein Wirbel, der mich nicht packen darf. Ich muß mich haben. Jetzt darf ich schnell mich geben.« Und das ist wenig gegen die Tüfteleien und Spitzfindigkeiten, von denen er zu leben gewußt hat. Hofmannsthals Phantasie geht nicht in die Tiefe, sondern ins Breite. Sie kennt keine Hemmungen. Schon darum scheint es unmöglich, daß Hofmannsthal den ›König Oedipus‹ nur übersetzt. Der ist von der äußersten Knappheit; er enthält kein Wort zu viel. Für Hofmannsthal wird er viele zu wenig enthalten. Und ob er gleich fieberhaft schöne Akzente in Fülle finden wird, wie er sie immer gefunden hat, Gleichnisse von einer erzenen Stärke der Anschauung und einem magischen Hintersinn, so werden sie doch nur aufhalten, nicht weiterführen. Das Wort tötet, und Hofmannsthals Geist macht ein Drama auch nicht lebendig. Seine farbenreiche, meisterhaft abgetönte Dramatik verhält sich zur schöpferischen Phantasiekunst wie ein mit köstlichstem Mosaik ausgelegtes Wasserbecken zum reißenden Strom.
Aber sie ist eine Aufgabe für Reinhardt. Er hat sie gelöst wie keine zuvor. Alle Saiten der Lyra konnten erklingen, alle auf einmal. Alle Sinne durften schwelgen, und eine Schauspielerin sorgte sogar dafür, daß auch die Seele nicht ganz leer ausging. Alle großen und kleinen Künste der Bühne, Musik und Malerei, Wort und Geberde griffen ineinander. Es gab Kostüme von phantastischer und doch niemals aufdringlicher Pracht. Es gab Rollersche Dekorationen von fast beispielloser Stimmungskraft, die nur darum keinen Augenblick ablenkten, weil diesmal die Schauspielkunst der Reinhardtschen Bühne auf der Höhe ihrer bildenden Kunst stand. Der höchste Gipfel ist freilich selbst hier noch nicht erreicht. Das kunstvollste Stück hat die geräuschvollste Darstellung gefunden. Ein paar energische Dämpfungen würden alle Vorzüge nur deutlicher hervortreten lassen. Aber was sind das für Vorzüge! Da sind zwei Chöre: Chor der Ahnen und Chor des Volkes. Beim unsichtbaren Chor der Ahnen war das Problem nicht ganz gelöst, den Text klar vernehmen und doch wie von Geisterstimmen kommen zu lassen. Der sichtbare Chor des Volkes stand wie eine Mauer, die sich zusammenziehen und ausdehnen, öffnen und schließen konnte, von einem tiefdunkelgrünen Riesenwald bis zur steingrauen Riesenwand des Palastes quer über die Bühne. Es wurde von einzelnen Gruppen im Takt gesprochen, und zwar so, daß jede Gruppe – Sopran, Alt, Tenor, Baß – wie eine einzige Stimme klang. Die abwechslungsreiche Gliederung der Rede, das ausdrucksvolle Verstummen einer einzelnen Gruppe, das Fluten und Ebben des Tons, die Haltung und die Worte des Chorführers – das alles machte einen nie zuvor erreichten Eindruck. Möglich, daß der große Zug der ganzen Vorstellung auch die Kleinsten mitriß, möglich, daß die großen Vorzüge gegen die kaum vermeidbaren Mängel milde stimmten: gewiß ist in Berlin ein Stück von neunundzwanzig Personen kaum je so einheitlich gut gespielt worden. Mir fiel selbst von den winzigsten Rollen ziemlich jede besonders auf. Die drei Boten des Kreon, der Mann aus der Stadt und wer nicht noch – das alles hatte Physiognomie und sprach vorzüglich und schien von Eifer und Ehrgeiz zu flammen. Herr Steinrück war beinahe majestätisch, Herr von Winterstein – dem Alte besser frommen als Junge – beinahe ergreifend. Pagay entzückte mit einer Phantasiestudie, und Herr Royaards hat als deutscher Schauspieler eine schöne Zukunft. Von den vier Hauptdarstellern drangen die Männer nicht so tief wie die Frauen. Kam es mir nur so vor, war es eine unwillkürliche Assoziation, weil ich bei Hofmannsthals Oedipus zu viel an Hofmannsthals Elektra dachte: Herr Kayßler schien mir die Eysoldt – nicht zu kopieren, aber zu oft gehört haben. Natürlich nicht zu seinem Vorteil. Freilich ist es ebenso möglich, daß ich sie zu oft gehört habe. Herr Moissi fesselte mich als Kreon vom ersten wortlosen Auftreten an. Was er dann sprach, klang fast immer wie deutsch, war verstanden und charakteristisch gefärbt. Es entstand ein rundes Bild des Schattenmannes, des Unholds ohne Kraft, und das ist um so höher zu veranschlagen, als die Rolle ihre Tücken hat. Von den beiden Frauen war die eine furchtbar prächtig wie blutiger Nordlichtschein, die andre süß und milde, als blickte Vollmond drein. Wie gut, daß Reinhardt die Sandrock hat, die letzte deutsche Heroine, die es nur entwöhnten Ohren zuzuschreiben braucht, daß sie diesmal noch nicht auf viele so gewirkt hat wie auf mich. Die Sorma hatte es leichter, dank ihrer Beliebtheit, dank der wichtigem und ergiebigern Rolle. »Ich brenne mit so schwacher Flamme, käme ein Kind, das irgendwo im Schatten steht, es könnte sie ausatmen.« Weibliche Hilfsbedürftigkeit kann man nicht rührender denken. Wie sie bei dem Worte »erwürgt« auf dem zweiten R anhielt und es so rollte, daß man im eigenen Halse den Atem stocken fühlte, war ein erlaubter Effekt und doch nur ein Effekt. Wie sie dagegen ihren verzweifelten Schmerz erst mit aller Gewalt bezwang, um ihn dann um so wilder hinauszuschreien – das war elementar.