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Seit Njura Frau ist, hat sie niemals aufgehört, sich nach der großen Leidenschaft zu sehnen. Im neunten Jahr ist ihr, als müsse sie das Glück beim Schopfe packen, wenn sie es nicht versäumen soll. Sie findet: einen Dichter. In ihr und um sie wird es hell und warm. Sie liebt ihn rückhaltslos und stolz und tapfer. Läuft ihrem Mann davon, weil er in einem Wutanfall den Liebhaber geohrfeigt, in seiner Gier sie vergewaltigt hat. Haust dann allein in einem karg möblierten Zimmer. Sieht langsam alle Schönheit schwinden. Weiß keinen Vater für das Kind, das wird. Fühlt sich auch von dem Dichter nicht verstanden. Und räumt sich leise weg …
Was Nju erlebt, das nennt der junge Russe Ossip Dymow eine Alltagstragödie. Halb mit Berechtigung. Nju hört und sagt, was einmal jeder, mit andern oder fast denselben Worten, zu einer augenblicklich sehr geliebten Frau gesagt, von einer liebenden gehört hat – im Dunkel eines sommerlichen Gartens, im Dämmerlicht des Arbeitszimmers, zu ihren Füßen und an ihrem Halse. »Ich will nicht, daß Du von andern Frauen sprichst.« »Deine Hände sind herrlich.« »Ach, ich liebe Deinen Kopf, Deine kluge Stirn.« »Mein Mädchen!« »Nein, wie konnte ich nur ohne Dich leben.« »Jede Begegnung im Leben scheint verspätet.« »Wir werden uns nie trennen.« Es ist alltäglich, daß wir uns, ungeachtet aller Schwüre, dennoch trennen. Aber es ist nicht alltäglich, daß Njura daran stirbt. Alltäglich ist es, daß der Mann entweder nichts erfährt oder sich mehr zu Kompromissen als Skandalen eignet; daß jene Flammenliebe sich selber schnell verzehrt, nichts als ein kümmerliches Aschenhäuflein hinterläßt, und daß das Dasein für die Frau farblos und unaufregend, arm und traurig weiterschleicht. Dymow ist nicht der Naturalist, der er gescholten worden ist, weil er ja durch den Tod der Qual ein Ende macht. Er ist insofern nicht Naturalist, als er die Mannigfaltigkeit des Lebens zweckvoll gesichtet und die Teile nach Gebühr akzentuiert hat. Sein Naturalismus zeigt sich einzig darin, daß er nicht redet, sondern darstellt; daß er sich weder zu einem Urteil noch zu einem Mitgefühl hinreißen läßt. Es hageln harte Tatsachen wie Schlossen nieder.
Daher stammt die Gerechtigkeit der Dichtung. Jeder tut, was er muß, und ist davor gesichert, den Zwang in seinem Blut moralisch abgeschätzt zu sehen. Wäre der Gatte von Ibsen oder Shaw, so würde er, wie Doktor Mangel und wie Pastor Morell, in Ruhe warten, bis der Flackerglanz des Fremden Mannes, der auf englisch Eugen Marchbanks heißt, erloschen ist. Als Russe ist er weich und roh zugleich. So locker ihm die Tränen sitzen, so leicht tobt, schlägt und schießt er auch. Er ist das Männchen, das den Besitz mit Nägeln und mit Klauen schützt und doch nicht schützen kann, weil ein Instinkt von dieser Einfachheit den Sprüngen sensitiver Frauennerven nicht gewachsen ist. Nju ist dabei nicht etwa mehr als er. Sie ist aus anderm Stoff; doch reicht auch sie nicht über ein normales Maß hinaus. Es wird sie keiner für ein Leben lieb gewinnen, wie ihre Schwester Anna Karenina. Dazu fehlt ihr die innere Fülle, der zauberhafte Charme, die große Mutterliebe. Daß sie ein Kind hat und ein Kind erwartet, erfährt man nebenbei und hinterher. Ihre Stärke ist weniger ihr Menschen- als ihr Russentum. Das gibt ihr jenen Fatalismus, den sie den Schläg' und Stößen des wütenden Geschicks bis in den Tod entgegensetzt. Das gibt ihr jene Ganzheit, die sich mit keinem kleinen Glück aus zweiter Hand begnügt. Sie hat nur einen Trieb: sich hinzugeben. Der Dichter, den sie liebt, hat nur den Trieb, sich zu bewahren. Daraus entsteht das Drama.
Dieser Dichter ist die gestufteste Gestalt. Wir kennen ihn nicht erst seit Schnitzler. Er ist lüstern nach allen Ergötzungen und Sensationen der Erotik, als nach dem Material für seine Arbeit. Gegen Nju ist er nicht einmal unaufrichtig. Er warnt sie, Forderungen an ihn zu stellen. Er sagt ihr gleich im Anfang, daß er grundsätzlich an den Dingen nur vorübergehe und sich nicht fangen lasse. Er denkt mit Nietzsche: Besser in Räuberhände fallen, als in die Träume eines brünstigen Weibes. Er weiß Bescheid. »So behandelt die Frau den Dichter! Sie spricht: ›Hier sind fünf Meter meines Lebens – ich schenke sie Dir – schreibe ein Märchen darauf und widme es mir.‹ Und einen Raum von fünf Metern ihres Lebens soll der Dichter erfüllen, mit allem, was er besitzt, und dann noch im rechten Augenblick den Schluß finden, weil das Papier zu Ende geht und der Gatte naht.« Halb widerstrebend, bequemt er sich dann doch zu einem Liebesspiel, das er am Schnürchen hat. Er entschließt sich, den Trunk nicht zu verschmähen, solange er noch frisch, und ihn wegzuschütten, wenn er abgestanden ist; und es ist unendlich fein geschildert, wie die Gebärden der Empfindung sogar in diesem Skeptiker beinahe die Empfindung selbst erzeugen, und wie er sich vor dem brutwarmen Weibchen oft nur mit einem Ruck aufs Festland seines kühlen Kennertums zu retten weiß. Rache schmeckt auch dem Aestheten süß. In seine aufgescheuchte Wollust mischen sich Grausamkeitsgelüste atavistischer Natur. Sobald ihm aus der sogenannten Liebe Pflichten zu erwachsen drohen, brutalisiert er die Geliebte, um von ihr loszukommen. Er ist nicht ungeschickt: am andern Morgen ist sie tot. Noch seinen Schmerz um sie, soweit er überhaupt vorhanden ist, genießt er künstlerisch, und nach dem Ablauf einer kurzen Anstandsfrist würde, wie für den Photographen Ekdal seine Hedwig, die kleine Nju für diesen Dichter nichts als ein dankbares Deklamationsthema bedeuten, wenn er Talent zum Deklamieren hätte.
Er hat es nicht. Es ist wieder eine von den Tugenden dieser Alltagstragödie, daß auch der Dichter, der immerhin, kraft des Metiers, ein Recht auf Redefreiheit hätte, es nicht in Anspruch nimmt. Er hat sie nicht, die gräßlich kluge Dialektik seiner selbst, die ein dramatisches Geschehen illusorisch macht. Was er von sich erzählt, erzählt er seiner Partnerin, nicht uns. Wir sehen, wie er handelt, und wie er sich behandeln läßt, und haben, eins, zwei, drei, ein rundes Bild. Es bewegt sich durch acht Szenen, die scheinbar lose und doch so fest zusammenhängen, wie die Szenen von ›Frühlings Erwachen‹, und von denen die achte heute noch gestrichen werden sollte. Sie nimmt dem Tod der kleinen Nju die Reize des Geheimnisses, setzt strenge Motivierung an Stelle eines dichterischen clair-obscur und bringt mit dem Duett der schmerzgebeugten Eltern, die das letzte Tagebuch der Tochter lesen, ein stilfremdes Element der Rührung in das erfreulich unsentimentale Spiel. Sonst werden nämlich durchweg die Gefühle mehr verschluckt als ausgeströmt. Was Njura für ihr Alltagsdasein Grund zur Klage gibt, gibt uns für die Alltagstragödie ihres Daseins Grund zum aesthetischen Vergnügen. »Man scherzt, man plaudert«, so beschwert sie sich, »doch gerade, wo die tiefsten, wahrsten Worte nötig sind: da fehlen sie«. Es ist nicht nur ein Segen, daß wir von tiefen Wahrheiten, von ewigen Erkenntnissen, von prinzipiellen Abstraktionen unbehelligt bleiben: gerade davon hat auch die Gestalt der Nju die Atmosphäre von unerfüllter Sehnsucht, den feinsten Hauch von Schmerzlichkeit, davon, daß sie sich selber ein so schlechter Dolmetsch ist, und daß ihr in der Kehle stecken bleibt, wovon ihr Seelchen überquillt. Sie bringt nichts weiter von den Lippen, als daß da eines Tages einer kam und sie zerbrach und von ihr ging, als wäre nichts geschehen, und daß sie nun nichts mehr besitzt und gut tut, sich ganz leise wegzuräumen …
Ein Kammerspiel. Es ist denn auch eine Aufführung der ›Kammerspiele‹, die an Intimität und Wucht den Musterleistungen dieser Bühne gleichkommt. Die kleinste Einzelheit gerät zum Ganzen, und die drei Menschen, von denen zwei sich keines Namens rühmen können, haben Gesicht und Blut und Geist und Eigentümlichkeit. Herr von Winterstein bewahrt mit großem Takt, durch flehentliche Blicke und hilflose Gesten, den Gatten vor der Lächerlichkeit, die über jedem Hahnrei hängt. Moissi hat für den Dichter sowohl die Sensibilität des zarten Körpers wie eine seltene Ausdrucksfähigkeit der ruhelosen Augen und für die Unbarmherzigkeit des Menschen einen unerbittlich kalten Klang der Stimme. Die Nju der Eysoldt steht ihrer Selysette nicht nach, und das will sagen, daß sie über jedes Lob erhaben ist.