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Alfred Maaß saß noch immer in seiner Zelle. Allmählich hatte sich seiner eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt. Und mehr und mehr erkannte er die Gefahr, in der er schwebte.
Er kam sich vor wie ein Schachspieler, der durch irgendeinen unglücklichen Zug, über den er sich noch nicht einmal klar werden kann, in eine so ungünstige Position gebracht wird, daß er nun Stein auf Stein einbüßt, ohne sich mit aller Klugheit und Schlagfertigkeit dagegen wehren zu können.
Den Brief, der da im Tischkasten der Ermordeten gefunden worden war, sollte er geschrieben haben. Oder vielmehr, es war gar kein richtiger Brief, ein Zettel nur, ein abgerissenes Stück Papier, auf dem etwa die Worte standen:
ch noch so viele Zeit darüber hingegan-
t, denke ich doch noch immer an Dich!.
ch! kann auch nicht glauben, daß Du
mehr liebst! Schreibe doch eine Zeile
ser. Ich danke Dir auch für
Dei
Die fehlenden Worte und Silben, sowie Schluß und Anfang waren abgerissen. Das Stück Papier war fettig und schmutzig, es war nicht einmal festzustellen, ob der Brief älteren oder neueren Datums war.
Das einzige, was festgestellt wurde, war, daß Maaß ihn geschrieben haben sollte. Zwei Schreibsachverständige, die ihre Theorien auf besondere und diametral entgegengesetzte Systeme aufbauten, bekundeten unter ihrem Eide, die Handschrift auf dem Brieffragment sei zweifellos mit der von Maaß identisch, niemand anders wie er habe den Brief geschrieben ...
Und dann waren die anderen Sachverständigen gekommen. Zuerst Herr Professor Wunderlich, der das Blut an den Manschetten, die Alfred Maaß damals getragen hatte, als Menschenblut diagnostizierte. Der arme Junge hatte es nie in Abrede gestellt, daß es Menschenblut, und zwar Blut aus seiner eigenen Nase sein könnte, das an den Manschettenrändern klebte. Aber das glaubte ihm niemand!
Ferner käme die Tinte, die zu dem Brieffragment benutzt worden wäre, in Betracht. Diese sei zwar nur eine einfache Eisengallustinte, wie sie in Hunderttausenden von Fällen gekauft und verbraucht würde; immerhin aber habe sich in Maaßens Wohnung ein solches Fläschchen Eisengallustinte vorgefunden.
Konnte man ihn daraufhin verurteilen? Maaß dachte hin und her und dabei schüttelte ihn ein fortwährendes Fieber, als der Aufseher eintrat, um ihn vorzuführen.
Auf dem Gange ergriff Maaß plötzlich ein solcher Lebensüberdruß, ein so fürchterlicher Widerwillen gegen dieses zwischen Furcht und zager Hoffnung hin und her schwankende Dasein, daß er zur Seite sprang und den Fuß über das eiserne Geländer der Galerie schwang, um sich hinabzustürzen in den Keller.
Aber sofort sprangen der Kalfaktor und der Aufseher hinzu, packten ihn und rissen ihn zurück. Dann führten sie ihn, unsanft seine Arme drückend, bis ans Untersuchungsgefängnis, wo der Aufseher dem Beamten, der Maaß dort in Empfang nahm, Rapport über den Selbstmordversuch des Angeschuldigten erstattete.
Das war ein neues Verdachtsmoment in den Augen des Richters! Alfred Maaß sah das an den Gesichtern der Beamten, und sobald der Untersuchungsrichter, dem er heute sofort vorgeführt wurde, davon hörte, sagte er, die Schnurrbartspitzen zwischen seine dürren Lippen nehmend:
»Sie werden ja wissen, weswegen Sie sich Ihrem irdischen Richter entziehen wollen, Maaß! Uebrigens wird man Ihnen das für die Folge unmöglich machen! Jetzt stellen Sie sich einmal hierher! ... nein hier!«
Dr. Birkner deutete auf einen Platz in der Mitte des Gemaches, der vom prallen Licht der Vormittagssonne getroffen wurde.
Alfred Maaß tat fast willenlos, was ihm geheißen wurde, aber er blinzelte.
»Verstellen Sie Ihre Gesichtszüge nicht!« herrschte ihn der Untersuchungsrichter grob an, »das nützt Ihnen doch nichts!«
Maaß wußte gar nicht, was der Mann von ihm wollte.
»Wenden Sie das Gesicht nach rechts!.. so!«
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür, der Maaß sein Gesicht zukehrte und die – das bemerkte Maaß jetzt erst – in Mannshöhe ein kleines Guckloch hatte.
Ein älterer Mann trat ins Zimmer.
Wie Maaß diesen Menschen erblickte, faßte er mit den Händen in die leere Luft, als suche er nach einem Stützpunkt ... Wie Riesenschatten flog es plötzlich durchs Zimmer, die sich zu einer schwarzen Wolke verdichteten, und die Wolke sank über Maaß hin – er verlor das Bewußtsein.
Der Transporteur, der an der Tür Wache hielt, sprang schnell hinzu. Aber er kam zu spät, Maaß stürzte, dumpf aufschlagend, zu Boden.
Doch kam er, nachdem man ihm ein wenig Wasser zwischen die Lippen goß, bald wieder zum Bewußtsein.
Er stand von dem Stuhl, auf den man ihn gesetzt hatte, auf, ging schwankend einige Schritte vorwärts und brach in heftiges Weinen aus.
So bot er ganz das Bild eines von seinem Schuldbewußtsein zu Boden gedrückten Mannes.
Dem Richter entging sein Vorteil nicht:
»Also lassen Sie es jetzt genug sein, Maaß! Sie sehen, alles Leugnen hilft Ihnen nicht! ... Durch die Aussage dieses Herrn –«
Er zeigte auf den eben ins Zimmer Getretenen, der seiner Kleidung nach ein kleiner Handwerker zu sein schien.
»... sind Sie einfach überführt! ... Erleichtern Sie Ihr Gewissen und legen Sie ein offenes Geständnis ab!«
»Ja,« sagte Maaß, der seine Nerven, wie durch ein Wunder, mit einem Schlage völlig Wieder in der Gewalt hatte, »ja, Herr Untersuchungsrichter, das will ich tun:
Ich bekenne jetzt, daß ich an dem betreffenden nachmittag wirklich in der Koloniestraße gewesen bin. Als ich aus unserem Bureau fortgerannt war, überkam mich die Sehnsucht nach der Trude so, daß ich nicht anders konnte, als hinzugehen. Ich bin dann wohl eine Stunde dort auf- und abpatrouilliert, habe sie aber nicht zu sehn jekriegt. – Dann bin ich wieder zurückgegangen und um fünf in unserer Stammkneipe in der Steglitzer Straße gewesen ... na, und das übrige, das wissen Sie ja schon, Herr Untersuchungsrichter! ...«
Auf Alfred Maaß' Gesicht war nichts als Ruhe und Klarheit.
Dr. Birkner dagegen sah förmlich grün aus vor Aerger:
»Also das ist Ihr Geständnis?! ... 'n schöner Held sind Sie! ... Weil es uns jetzt endlich gelungen ist, in Herrn Schuhmachermeister Hendler den Zeugen zu finden, der einwandsfrei bekundet, daß Sie in der fraglichen Zeit doch in der Koloniestraße gewesen sind, da schwenken Sie rasch um und geben zu, daß Sie wirklich dort waren! ... Das is ja sehr freundlich von Ihnen, sehr freundlich! ... Aber natürlich, nur auf der Straße sind Sie dort gewesen!! Ins Haus gegangen, beileibe nicht! Und gemordet – wer könnte Ihnen sowas wohl zutrauen, Sie Unschuldsengel, Sie! ... Ja, ja, mein Lieber, wenn Herr Hendler nicht zufällig mal Ihre Stiefel gemacht hätte und nachher dort hinaus nach Norden gezogen wäre, dann wär's Ihnen vielleicht auch geglückt, uns noch immer weiter ein X für ein U vorzumachen! ... Aber so ... na, nu machen Se sich man bereit! ... Jetzt helfen Ihnen auch die Geschworenen nicht mehr!«
Maaß sagte kein Wort.
Er sah den Untersuchungsrichter nur immerfort an.
Und das schien dem Herrn Dr. Birkner peinlich, er senkte den Blick auf seine Akten, suchte und suchte und sagte endlich:
»Den Herrn Schuhmachermeister Hendler kennen Sie doch noch, oder stellen Sie das etwa in Abrede?«
Maaß verneinte ... Im Gegenteil, den Meister Hendler erkenne er sehr wohl, der habe ja lange genug, und zwar sehr gut und prompt für ihn gearbeitet! ... Und wenn es dem Herrn Untersuchungsrichter interessieren würde, so könne er ihm auch den Grund sagen, weswegen er bis jetzt geleugnet hätte, an dem Nachmittag dort gewesen zu sein.
»Nun, da bin ich wirklich begierig, Was Sie uns jetzt wieder für ein Märchen auftischen werden!« höhnte der Richter.
»Märchen?« meinte Maaß, kühl lächelnd, »das Märchen erzählen überlasse ich andern Leuten, zum Beispiel den Herren Sachverständigen, die dafür bezahlt werden ... Ich habe nur ein Interesse, mein Leben und meine Ehre zu retten ... und dafür ...«
Er überschrie den Richter, der ihm wütend ins Wort fallen wollte:
»Dafür ist mir nichts zu teuer und nichts zu hoch ... wie? was? Ehrfurcht? ... Ehrfurcht vor Ihnen? ... Ich pfeife auf Ihre Ehrfurcht! ...«
Er kreischte in den höchsten Fisteltönen:
»Um mich handelt es sich! Nicht um Sie! ... oder daß Sie vielleicht 'ne Belohnung bekommen, wenn Sie mich als Sündenbock vorkriegen, weil Se den wirklichen Mörder nich finden! ... Jawohl, nich finden! nich finden! nich finden! nich finden!!!«
Und dieses Wort schrie er noch immer, als schon der Transporteur und ein hereingeholter Schutzmann ihn gepackt hatten und den wie rasend um sich Schlagenden zurückbrachten ins Untersuchungsgefängnis.