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10.

Acht Tage später ging Heinz Marquardt zögernd wieder in sein Bureau. Er hatte gehofft. Direktor Weckerlin würde ihn auch noch weiterhin dispensieren, aber er irrte. Für das Bureau war die Tat geschehen und fast vergessen. Höchstens Maaß interessierte noch. Marquardts ernstes, wortkarges Wesen begriff man wohl – er trug ja Trauerkleidung! – aber welcher Grund ihn auch jetzt noch von der Arbeit hätte abhalten sollen, das sah niemand ein. Der Herr Betriebsdirektor schon gar nicht. Der sprach noch ein wenig von dem heilenden Einfluß der Zeit, die alle Wunden schließt, und von der Jugend Marquardts, der ja noch so viel erleben, so manchen Trost finden könne ... Es klang fast wie Neid aus diesen Worten des alten Herrn. Neid auf die Jugend, für die, wie er offenbar glaubte, jeder Schmerz erträglich und kein Verlust unersetzlich war.

Heinz Marquardt ging still auf seinen Platz und arbeitete wie früher. Nur nicht mehr mit der alten Liebe zu seinem Tagewerke. Auch seine Begeisterung für den Chef, Herrn Weckerlin, schwand dahin. Er war für den jungen Beamten nur noch ein Vorgesetzter wie jeder andere. Heinz hatte überhaupt für nichts mehr Interesse, für gar nichts! ... Ja doch, etwas gab's! ... Das war die fixe Idee! Er fühlte, daß es wirklich zur Marotte werde, daß er vielleicht verrückt werden würde, wenn's ihm nicht gelänge, den Mörder seiner Trude zu finden.

Heut abend war er der erste, der seine Schreibärmel abstreifte. Und kaum, daß er sich Zeit nahm, seine Hände ins Waschbecken zu tauchen. rannte er schon, ohne jemandem Adieu zu sagen, davon.

Ah! Das war eine förmliche Erlösung, als er draußen auf der Straße stand. Wieder in dem Strom der Arbeiter, die nach Hause eilten. Wieder ging er langsam dahin, als trüge dieser Strom ihn nur so mit sich, und blickte, in seinen warmen Mantel gehüllt, hinein in den Lärm des verblassenden Tages. Aber die Zufriedenheit, die damals sein Herz erfüllte, die ihn so getrost, so seelensruhig ins Leben hineinsehen ließ, die war fort und kam nie wieder.

Und zu seinem Schmerz gesellten sich heute die Sorgen. Denn das fühlte er, seine Stellung im Bureau würde er auf die Dauer nicht mehr ausfüllen können! Nicht, daß er durchaus fortgewollt hätte, nein, aber er war klug genug, einzusehen, er würde früher oder später eines Morgens etwas so wichtiges zu tun haben, daß er einfach nicht ins Bureau kommen könnte! ... Auch würde nach den vielen Nächten, die er von jetzt an außerhalb des Bettes zubringen mußte, seine Spannkraft am nächsten Morgen nicht ausreichen, um der Arbeit, die man von ihm verlangte, gerecht zu werden.

Aber gleichviel, vorläufig hatte er Geld, das bei seiner Sparsamkeit eine ganze Weile reichen mußte ... und dann ... und dann ... er lächelte still vor sich hin ... Dieses Bild: er selbst den Mörder seines armen Weibes mit starker Faust vor sich herstoßend, in den Schlund einer blutigen, unaussprechlich furchtbaren Rache hinein. Dieses Bild verließ ihn nicht und gab ihm die Zuversicht und den dumpfen Tatendrang des Fatalisten.

Er hatte sich ein Zimmer in der Gollnowstraße gemietet. Dort im Scheunenviertel, mit seinen zum Teil noch erhaltenen Winkelgassen und Schlupfwinkeln für die Raubtiere der Großstadt, behagte es ihm am meisten.

Wenn das Licht der Gaslaternen die niederen, schlecht gebauten Häuser hell und dunkel schattierte, wenn aus den Fenstern die verräterisch rote Gardine schimmerte und die Kneipen beim Oeffnen der Glastüren weiße Streifen über das Trottoir zeichneten, dann begann seine Zeit, dann schlich er die Straßen auf und ab, wie ein Wolf, der mit brennenden Blicken auf Beute ausgeht.

Aber nach zwei Wochen sah er ein, daß er so nichts finden würde. Es mußte noch andere Orte geben: rauchgeschwärzte, düstere und stinkende Höhlen, wie sie in den Romanen geschildert wurden, die er früher gelesen hatte.

Kaschemmen!!

Irgendwo hatte er das Wort gehört. Und seine Phantasie, die keine andere Aufgabe mehr hatte, arbeitete wie im Fieber an einem Gemälde, das eine Brutstätte des Lasters darstellte, wie sie wahrscheinlich nie und nirgend existiert hatte.

Die starken weißen Oberzähne über die Unterlippe beißend, betrat er ein kleines Parterrelokal, in dem hinter dem Schanktisch eine Frau stand, deren Gesicht man ihren früheren Beruf deutlich ansah.

In dem kleinen schmutzigen und sehr schmalen Raum saßen nur wenige Leute. An einem jammervollen Klavier saß ein junger Mensch, der Heinz Marquardt sofort interessierte. Er trug eine schwarze Kellnerjacke, die an den Nähten rot schimmerte, seine hellgrauen Beinkleider waren bespritzt, und aus der tiefausgeschnittenen schwarzen Weste kam ein zerknitterter, arg beschmutzter Serviteur heraus. Sein junges Gesicht hatte die fahle, fettige Blässe der Nachtschwärmer und eine gewisse elegante Flinkheit der Bewegungen, die jetzt noch gutsitzende Scheitelfrisur ließen unschwer den herabgekommenen Kellner in ihm erkennen.

Er sang das Lied von der »Mutter Nudelbecken« und erzielte durch seinen, allerdings sehr freien Vortrag, mehr noch aber durch die nichtswürdige Begleitung dieses in den letzten Zügen liegenden Klaviers eine so komische Wirkung, daß sogar Heinz Marquardt lächeln mußte.

Und ohne sich recht klar zu werden über den Grund seines Zutrauens sprach Marquardt den jungen Menschen an:

»Macht Ihnen wohl Spaß, was?«

Der andere ließ die Hände auf den Tasten ruhen, hob sein blondes, verschwiemeltes Gesicht und öffnete mit einer komischen Grimasse den Mund weit, ohne zu sprechen.

»Na, spielen Se doch mal ordentlich,« meinte Heinz Marquardt.

»Erst'n Jroschen!« sagte der andere lakonisch.

Marquardt, dem die Groschen sonst nicht so lose saßen, gab ihm zehn Pfennige mit den Worten:

»Nu, sagen Se mal, wie kann 'n anständiger Mensch, wie Sie, sich in so 'ner Kaschemme aufhalten?!«

»Kaschemme?!« Diebeskneipe. Der andere zog den Mund ganz auf die Seite und die rechte Augenbraue hoch hinauf, »Sie Männeken, lassen Se det nicht Mutta Streichert'n heeren, sonst klackt Ihn' die 'n Weißbierjlas uff Ihren Resedatopp, det de Blieten wackeln, vastehen Se! ... Det is doch hier keene Kaschemme nich! Hier vakehrt det dufteste Publikum aus de janze Knallbockstraße!« Koblanckstraße.

Heinz Marquardt klopfte ihm leicht auf die Schulter:

»Na, lassen Sie man, so war's ja auch nicht gemeint ... man sagt doch so!« ...

»Ich sage, Du sagst, er sagt, wir sagen, ihr sagt, sie sagen! Sie! – Sie! Sie haben überhaupt nischt zu sagen, vastehn Se, Sie olle Modderpflaume! Ja, wenn Sie noch Lokalkenntnisse besitzen dhäten! ... Soll ick Ihn' mal in't »Kabarett zum vabubanzten Theodor« rinjeleiten? ... Ja? ... Da kenn' Se sehn, wat ne Kaschemme is! ... Damit Se davon mitreden kenn'! Wenn Ihn' mal 'n anständijer Mensch nach fragen sollte« ...

Heinz Marquardt lachte absichtlich laut, damit der andere Zutrauen fassen sollte. Und von einem instinktiven Entschluß bewegt, sich selbst auf die Stufe derer zu stellen, die er suchte, setzte er leise hinzu:

»Wo man nu doch schon mal gesessen hat, da is ja alles ejal!« ...

Der andere betrachtete ihn rasch mit seinen etwas glasigen Augen, dann sagte er:

»Sie wer'n doch woll nischt dajejen ham', wenn ick Sie hier zu mein' Wohltäter anenne. Indem ick nemlich vajessen habe, mir die netige Pinke in de Tasche zu stoppen ... Frau Streicherten!«

Die Wirtin, die einen Augenblick nach hinten gegangen war, erschien sofort.

»Zahlen!« Der junge Mensch deutete auf Heinz Marquardt, »der Herr da hat ma 'n Konto eröffnet! Daraus kenn' Se sehn, Mutta Streicherten, det es noch Menschen jibbt uff de Welt un zweetens, det ick erst noch eenen trudeln Trinken. were! ... Aniskuchen mit kleene Kinder! Drolliger Name für eine Art Schnaps. ... so! ... bravo! ... Na, wie is't Herr Nachbar, wollen Se nich ooch eenen zwitschern?« Trinken.

Heinz Marquardt hatte inzwischen hin und her überlegt: sollte er diesem Menschen, der ihn jetzt schon anwiderte, hier die Zeche zahlen ... wieviel verlangte die Frau? ... Eine Mark fünfundzwanzig Pfennige? ... Davon lebte er selber den ganzen Tag! Und schließlich erfuhr er gar nichts? Der wußte am Ende überhaupt nicht mal die Adresse einer Kaschemme! ... Und schon wollte er sich weigern, die Getränke des Klavierspielers zu berichtigen, als die Wirtin offenbar ganz zufällig sagte:

»Wenn de Thedorn heute noch siehst, denn sag'n man, er sollte mal morgen vormittag zu mich rankommen, ick hab'n wat zu sagen!«

»Det is nämlich det Fräulein Frau von dem vabubanzten Theodor!« sagte Alex und machte eine groteske Handbewegung.

»Also ick bestell' es, vaehrte Frau Wirtin! Ick kennte sojar jleich hinloofen, denn bis der Herr da« – er zeigte auf Heinz – »seine Minzensammlung rausjesucht hat, bis zu dem jroßen Momang bin ick wieder da! ... Ihre Olle hat Ihn' woll die Knöppe Geld. festjenäht, wat?«

Marquardt nickte.

Dann gingen sie beide.

Draußen fror es, trotzdem schon der Februar zu Ende ging, ziemlich stark.

Der Klavierspieler hatte die Fäuste in die Taschen seiner Kellnerjacke gebohrt und sagte:

»Nächste Woche reis' ick nach Italien, woll'n Se mit?«

Heinz Marquardt, der diese in trockenem Tone gemachte Bemerkung zuerst ernstnahm, schüttelte den Kopf und erwidert:

»Ich habe hier zu tun.«

Nun lachte der andere:

»Ick ooch! ... bloß ick weeß noch nich wat! Schließlich kommt et noch uff arbeeten raus! Neulich sollte ick doch schon mal Schnee schippen! Aber nee, wissen Se, det mach ick nich, darunter leid't meine Klaviertechnik ... bitte hier jeht's weiter, immer jrade aus! Sie fürchten sich doch nich etwa, weil et da so einsam wird! ... Nee, nee, haben Se man keene Angst, ick dhu Ihnen nischt! ... Ick bin 'n janz anständijer Mensch!«

Marquardt antwortete kaum. Und der andere hörte das, was er brummelnd sagte, auch nicht. Er schwatzte fortwährend selber, bis sie beide vor einem kleinen Hause standen, zu dessen Tür zwei Steinstufen hinaufführten.

Indem sie eintraten, sagte Alex etwas ernster:

»Halten Se sich aber an mir! ... Et verkehrt nemlich 'ne Menge Jesindel in det Haus. Un wenn nachher de Plattmolle Portemonnaie. wech is, denn soll ick se Ihn' womöglich noch asetzen ... also rin!«


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