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Durch den düsteren Hof der Mietskaserne, in deren Fenster noch hier und da Licht schimmerte, hallten furchtbare Schreie:
»Zur Hilfe! Hilfe! Mörder! Mörder! Hilfe! ... Hilfähh!«
Und dann ein krachendes Poltern die Treppe herab und immer wieder das markerschütternde Gebrüll eines Menschen, der mitten ins Leben hineingetroffen ist.
Die Bewohner, schon im Begriff, zu Bette zu gehen, stürzten aus ihren Wohnungen auf den dunklen Flur, Lampen in der Hand, in Nachtkleidern; aber der, der da so gräßlich schrie, war längst vorbei an ihnen, über den Hof gestürzt, dessen Mauern noch bebten von der Wucht seiner Hilferufe. Und nun riß er an der Haustür, die er selbst vorher verschlossen hatte, und wußte nicht, daß man aufschließen mußte, um hinauszukommen.
Endlich wurde von draußen geöffnet. Ein Wächter stand vor ihm; er stieß den Mann fast über den Haufen und schrie, vorwärts stürzend:
»Meine Frau! ... Meine Trude!! ... Um Gottes willen, Hilfe! ... Hilfe ... meine arme Trude! ...«
Sein Schreien wurde zum Schluchzen, und plötzlich, wie er zwanzig Schritte in die Nacht hineingerannt war, kehrte er wieder zurück nach dem Haustor, wo sich jetzt plötzlich allerlei Menschen sammelten, aus der Nacht herkommend, neugierig und von Grauen geschüttelt beim Anblick dieses vor Verzweiflung heulenden Mannes.
Eines der Mädchen, die da standen, die ihr trauriges Gewerbe festhielt nachts auf der Straße – eines von diesen armseligen Geschöpfen kam an den in seinem irren Schmerz hin und her laufenden Mann heran und sagte, selber weinend:
»Was ist denn, Herr Marquardt? ... Ich wohne ja da oben, und ich kenn' se doch auch, Ihre Frau! ...«
Heinz Marquardt hatte nie acht gegeben, wer in seiner Nähe wohnte; jetzt sah er das Mädchen an, als könne von ihr das Heil kommen, als könne sie ihm helfen, sein Liebstes, das er da oben tot, ermordet gefunden hatte, wieder zu erwecken.
»Einen Arzt!« stieß er hervor, »einen Arzt!« und rannte davon wie gehetzt, und hinter ihm das Mädchen, rufend:
»In der Koloniestraße, da wohnt einer, bei den geht meine Wirtin immer!«
»Wo denn? Wo denn?« ächzte er.
Nun führte sie ihn, beide im Laufschritt, atemlos, keuchend, er ganz seinem Schmerze hingegeben und sie vor Mitleid mit ihm schluchzend.
Es dauerte lange, bis der Arzt herunterkam.
Wie er aber hörte, was geschehen war, da ließ er sich selber erst nicht lange nötigen zum Laufen.
Durch die menschenleeren, schlecht beleuchteten Straßen stürmten sie alle drei dahin, als hinge von ihrer Eile jetzt noch Leben und Sterben ab.
Wie sie die schmalen, steilen Treppen hinaufkamen, stand alles voller Leute. Bis an die Wohnungstür, die Heinz Marquardt hinter sich offen gelassen hatte. Und alle diese Menschen, in deren Gesichtern sich Neugier und Entsetzen stritten, traten schweigend zurück, als jetzt der Mann der Aermsten, die da oben ermordet lag, an ihnen vorüber wollte. In die Wohnung hinein hatte sich niemand getraut.
Man sah durch die offene Tür den Korridor erhellt von der kleinen Küchenlampe, die am Nagel hing, und die Augen der draußen Stehenden suchten fieberhaft nach dem Opfer.
Unten auf der Treppe wurden schwere Schritte hörbar, und gleichzeitig wurden Befehle laut, wer hier nichts zu suchen hätte, solle Treppe und Haus verlassen.
Die Polizei kam. Ein Leutnant und mehrere Schutzleute.
Der Arzt war um die Ermordete beschäftigt. Aber all seine Kunst blieb vergeblich. Die arme Trude hatte nur zwei Stiche mit einem scharfen Instrument, wahrscheinlich einem Dolch oder Stilett, von hinten empfangen. Aber offenbar war schon der zweite Stoß des Mörders überflüssig gewesen. Der Tod hatte sie vollständig unvorbereitet überrascht.
Im Wohnzimmer war der Mord passiert. Dort mußte das arme Wesen, nachdem es den ersten Stich bekommen, der beide Herzklappen durchschnitten hatte, zusammengebrochen sein und den Velourteppich, dessen ursprünglich helle Farbe jetzt ganz dunkel war, mit seinem Blute durchtränkt haben.
Der Arzt erklärte es für ganz unmöglich, daß die Ermordete danach noch einen einzigen Schritt gemacht haben könnte.
Er selbst hatte sie auf dem Bette liegend gefunden, und es war nicht aus Heinz Marquardt herauszubringen, ob er die Tote dorthin gelegt hatte.
Der Polizeileutnant, ein noch junger Mann, dem es schwer wurde, seine tiefe Ergriffenheit zu verbergen, schüttelte, mit dem Arzte redend, den Kopf.
»Das ist kaum zu glauben, Herr Doktor! – Denn selbst wenn man glauben wollte, der arme Kerl hätte soviel Geistesgegenwart in diesem fürchterlichen Augenblick noch besessen, so ist doch gar nicht anzunehmen, daß in der kurzen Zeit – denn es kann ja kaum eine halbe Stunde her sein, daß er sie gefunden hat – der Körper schon so erstarrt sein sollte.«
Der Arzt mußte dem beipflichten. Und daß er selbst nicht auf diesen Gedanken gekommen war, daran war wohl auch nur die Erschütterung schuld, die er selbst empfunden hatte beim Anblick dieses liebreizenden Geschöpfes, das eine Bubenhand niedergestreckt hatte. Es war jetzt auch die Stubenlampe angezündet worden, und das Schlafzimmerchen, in dem alles bis auf das eine zerworfene Bett so leuchtend ordentlich und nett war, glänzte von einer milden Helligkeit.
In den Kissen, die überall große dunkle Flecke zeigten, lag die Tote wie aufgebahrt. Sie trug noch immer das Morgenkleid, dessen Knöpfe am Hals aufgerissen waren. Und dieser Hals, dieser zarte, weiße Mädchenhals wies, als man die Lampe näher heranbrachte, deutlich die grausamen Fingermale des Mörders auf. Aber das Gesicht war nicht entstellt. Nur das Lächeln, die stille Liebenswürdigkeit war fortgewischt aus dem Antlitz des jungen Weibes, dessen blondes Haupt von einer starren Feierlichkeit umflossen war. Die schwachroten Lippen waren geschlossen, und die blauen Augen, deren Lider noch ein wenig offen standen, widerstrebten dem Fingerdruck des Arztes, als er sie schließen wollte.
Neben dem Bett war Heinz Marquardt auf einen Stuhl niedergesunken. Er hatte die schlaff herniederhängende rechte Hand der Toten in die seine genommen und streichelte mit der anderen die blutlosen Finger. Dabei liefen ihm die Tränen immerfort über die Wangen, aber er sagte nichts. Als der Arzt mit seinen Bemühungen aufhörte, hatte er diesen groß und fragend angesehen, und aus den stummen, von Mitleid erfüllten Zügen des Mediziners ohne eine Frage sein jammervolles Schicksal gelesen.
Der Polizeileutnant war an ihn herangetreten mit der Absicht, ihm wenigstens ein Wort des Trostes zu geben. Aber vor den dunklen, eng beieinander stehenden Augen, die Heinz Marquardt voll zu ihm aufschlug, vor dem unsäglich gramvollen Ausdruck dieses von brennenden Schmerzen zerstörten Gesichtes verstummte der Beamte.
»Sie können doch hier nicht bleiben?« sagte er endlich.
Der Gatte der Ermordeten hörte gar nicht darauf.
»Die Fundstelle muß auch möglichst unberührt erhalten werden!« meinte der Polizeileutnant wieder.
»Das hier ist meine,« sagte Heinz Marquardt mit einem Unheil verkündenden Blick, und der Polizeileutnant wagte dem nichts entgegenzusetzen.
Inzwischen war nach dem Präsidium telephoniert worden, und eine ganze Anzahl von Kriminalbeamten hatte sich eingefunden. Der Chef selbst, Herr von Rhode, war erschienen und betrat soeben in Begleitung der Kommissare Hartmuth und Bendemann das Zimmer.
Der Polizeileutnant erstattete leise seinen Rapport und wies dann auf den noch immer neben seinem toten Weibe sitzenden Heinz Marquardt.
»Wir können ihn doch hier nicht lassen, Herr Geheimrat?«
»Natürlich nicht! ... Muß irgendwo im Hause 'n Unterkommen suchen, damit wir 'n morgen früh gleich wieder bei der Hand haben.«
»Er wird Schwierigkeiten machen,« erwiderte der Polizeileutnant flüsternd.
»Wie heißt denn das?« ... Herr von Rhode sprach noch leiser mit seinem Untergebenen, und dann meinte er vernehmlicher: »Ich wer' mal mit dem Mann reden!«
»Herr ...,« er wandte er sich an den Polizeileutnant, »wie heißt er?«
»Marquardt,« erwiderte dieser dienstbeflissen.
»Also, Herr Marquardt, äh, hm! ... es ist ja außerordentlich bedauerlich, und äh! wir verkennen keinen Augenblick den traurigen Ernst Ihrer Lage, aber, sagen Sie mal, können Sie uns denn nicht vielleicht 'n Anhaltspunkt geben? ... Ich meine natürlich nicht, daß sie uns was Positives sagen sollen über den Fall – Keine Ahnung ... Davon werden Sie ja ebensowenig wissen wie wir, aber sagen Sie mal, Herr Marquardt, hat denn Ihre Frau nicht ... äh, na ich meine, hat sie denn nicht so Bekanntschaften gehabt ... Bekannte, die, hm ... na, äh, was sollen wir uns da lange fürchten vor dem Wort, hier is ja nich der Augenblick, wo man sich gegenseitig Mätzchen vormacht, seien wir mal ganz ehrlich und aufrichtig, sind Sie der Treue Ihrer Frau immer ganz sicher gewesen? ... Ich höre nämlich, daß Sie Beamter sind an der Königlich Preußischen Staatseisenbahn, und da sind Sie ja natürlich den Tag über von Hause abwesend. Sagen Sie mal, Herr Marquardt, woher stammt denn Ihre Frau eigentlich?«
Heinz Marquardt hatte den hohen Beamten bis jetzt ohne ein Wort der Erwiderung immer nur schweigend angesehen. Aber in seinen Augen lag etwas, was den jungen Polizeileutnant bewegte, sich dicht neben seinen Vorgesetzten hinzustellen. Und plötzlich richtete sich der Bordereauschreiber mit einem Ruck straff empor. Und seinen blassen, von so unendlichem Weh zerwühlten Kopf dem Herrn entgegenstreckend, schrie er:
»Sind Sie verrückt. Sie? ... Meine Frau? ... Meine Frau? Einen Geliebten?! ... Ach!« ... Er brach mit einem Ruck in sich zusammen und griff taumelnd mit seinen beiden Händen nach dem Bettpfosten.
»Niemand auf der Welt hat sie so lieb gehabt als mich! Niemand! Den möchte ich sehen, der das sagen könnte.« Er erregte sich wieder. »Und ich sage Ihnen, Herr, sagen Sie das nicht noch einmal! Ich weiß nicht, wer Sie sind, und das ist mir auch ganz gleichgültig; aber ich schlage jeden zu Boden, der über meine arme geliebte Trude noch ein solches Wort sagt!«
Der Herr Geheimrat schien etwas erschrocken, und er war wohl nicht recht einig mit sich, ob er das, was ihm da eben so unverhohlen gesagt worden war, als Beleidigung auffassen oder ob er es dem schwergeprüften Manne zugute halten sollte. Dann entschied er sich für das letztere, wandte sich mit einem Achselzucken ab und ging zu den beiden Kommissaren, von denen der eine die Küchenlampe in der Hand hielt, und die jetzt mit Späherblicken die einzelnen Räume des Tatortes musterten, um vielleicht doch irgendeinen Anhaltspunkt zur Auffindung des Täters zu gewinnen.
Der Arzt war, sobald er erkannt hatte, daß hier seine Hilfe zu spät kam, gegangen. Auch der Polizeileutnant verließ das Zimmer aus irgendeinem Grunde.
Da schlüpfte ein Mädchen in die Tür. Dasselbe Mädchen, das Heinz Marquardt vorhin den Weg zum Arzt gewiesen hatte. Ein noch junges Geschöpf von kleiner, sehr voller Figur und mit einer schwarzen Mähne, die ihr wie ein Helm in die Stirne hineinwuchs. Darunter leuchteten ein paar blanke Augen, aber den Mund des trotz Puder und Schminke noch frischen Gesichtes entstellte eine schreckliche Narbe.
Heinz Marquardt erkannte sie kaum wieder.
Einen Augenblick blieb sie an der Tür stehen, dann aber wohl einsehend, daß sie sich beeilen müsse, wenn sie allein mit ihm reden wollte, ging sie schnell zu ihm hin, berührte die Schulter des armen Mannes, der noch immer mit vorgebeugtem Oberkörper, die Hand seiner toten Frau in der seinen haltend, auf das blutbefleckte Bett starrte, und sagte leise:
»Ich kann Ihnen vielleicht was sagen. Ich wohne drüben auf der anderen Seite bei Pfeffer.«
Er sah sie an und schüttelte den Kopf, als glaube er nicht, daß es noch irgend jemand auf der Welt geben könne, der ihm etwas zu sagen hätte ...
Das Mädchen aber, das draußen Schritte hörte, schlüpfte hinaus.