Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII.

Es wird Herbst. Ich muß Weißenstein verlassen und an meine Arbeit gehen. Es ist mir, als könnte ich nicht fort, als wäre mein Platz hier, aber ich darf nicht bleiben.

Georg ist ein dem Tode Geweihter, er muß sterben. Er weiß es, der Kampf ist bald zu Ende, er wartet auf seinen Tod.

Tag und Nacht habe ich mich mit Jenny in die Pflege geteilt, habe das wilde Empören einer jungen, starken Menschenseele miterlebt, die sich gegen die Vernichtung wehrt, und habe es erlebt, daß sie sich ergab, und stille wurde.

Und nun muß ich fort.

Es ist ein goldener, stiller Herbsttag, der Garten voller Blumen und Licht, es geht zum Abend.

Georg ruht in seinem Krankenstuhl, unterm großen Ahorn im Garten, der Abendsonnenschein liegt auf seinem blassen Haupt, auf den gefalteten Händen, die von unsagbaren Leiden erzählen, und um ihn ist so viel Schönheit, die auch sterben muß. –

Onkel geht eifrig durch den Garten, er hat die schönsten Apfel gesammelt, die er in einen Korb legt; sie sind für mich bestimmt.

So müde ist sein liebes altes Gesicht, gebeugt sein Rücken, aber sein Glaube ist stark und freudig wie in den Sonnentagen seines Hauses, seine Liebe strahlt mit köstlichem Glanz jedem ins Herz, der mit ihm lebt.

Er bleibt vor uns stehen und zeigt mir die Ernte in seinem Korbe: »Die Apfel sollst du alle haben,« sagt er, »es waren die schönsten, die ich finden konnte.«

Er nickt mir liebevoll zu und geht ins Haus. Tante Adele erscheint in der Verandatür, wie alt ist sie geworden! Sie schaut nach ihrem Liebling, still und kummervoll ist ihr Gesicht, sie lächelt zu uns hinüber: »Wird es nicht kühl für dich, Georg?« fragt sie.

Er schüttelt stumm sein Haupt, und sie geht wieder ins Haus.

Wie still es ist! Ein starkes Duften von Reseden und Levkoyen liegt schwer in der Luft, am klaren Abendhimmel schießen die Schwalben hin, mit hellen Rufen. Da faßt mich ein Jammer, heiß wie eine Welle stürzt er über mich hin, immer tiefer sinkt mein Haupt, ich berge mein Gesicht in den Händen und weine, weine!

Da spricht Georg. – Hat wirklich aus dieser Stimme einmal das Leben gejubelt? Hatte sie mit Lachen und Luft jeden Raum erfüllt, in dem sie erklang? Hatte sie, in stürmischer Begeisterung, alles mit sich fortgerissen, was um sie lebte?

Jetzt war sie klagelos still geworden, und um die blasse Stirn stand feierlich die Krone des Leidens.

Die stille Stimme ist so leise, daß ich ihr Flüstern kaum verstehen kann. »Ich muß sterben!« sagen die blassen Lippen.

Es ist wieder still; ich habe noch immer mein Gesicht in den Händen vergraben und weine! »Weine nicht um mich!« flüstert die stille Stimme wieder, »es ist gut, daß ich sterbe. Gott ist gütig gegen mich, daß er mich ruft, denn ich verstand nicht zu leben. Ich lebte so gern, aber das Leben brachte mir zu große Versuchungen; nun hat die Not ein Ende, ich gehe dorthin, wo es keine Versuchungen mehr gibt, es ist gut so!«

Es ist wieder still um uns, die Sonne ist fort, die Schwalben sind verstummt. Vom Resedabeet zieht leise der Duft über uns hin. Sachte breitet die Dämmerung ihre Schleier über die noch eben so lichte Welt.

Das Licht erlosch, der Sommer ist zu Ende und der Tag ist gewesen.

 

Es ist wieder Sommer geworden.

Georg ist tot.

»Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei!« so lautete das Telegramm von Onkel Hermann, das uns die Todesnachricht brachte. Er litt namenlos, bis zuletzt, aber klaglos und tapfer kämpfte er seinen letzten Kampf.

Ich war wieder in Weißenstein, in dem ganz stillgewordenen Haus. Es war mir doch der liebste Ort auf Erden.

Still und friedlich floß das Leben hin.

Wir arbeiteten viel im Garten, wo alles noch blühte und wuchs, wie in alter Zeit. Nur die grünen Gartenbänke standen ein wenig schief vor Alter, und Onkel schlug sie immer wieder mit einigen starken Nägeln zusammen.

»So lange ich lebe, dürfen sie nicht umfallen,« sagte er.

Onkel war oft müde, fremde Menschen vertrug er gar nicht mehr, er konnte Gesprächen schwer folgen. Er wurde leicht ungeduldig, wenn andere sprachen, es ermüdete ihn, und er, der Lebendige konnte dann mit einer kleinen Reizbarkeit sagen: »Laßt doch einen armen alten Mann auch mal zu Wort kommen!«

Oder es verdroß ihn, wenn man z.B. ein Erlebnis erzählte, das ihm nicht gefiel, dann konnte er ärgerlich sagen: »Sprich keinen Unsinn, es war gewiß ganz anders!« Und dann erzählte er das Erlebnis, wie es ihm gefiel, oder wie er es sich dachte, und war dann erst ganz zufrieden.

Er lebte in einer eigenen Welt, immer fremder wurde ihm das Leben, immer fremder die Menschen. »Ich verstehe sie nicht mehr,« sagte er mir einmal, »und sie verstehen mich nicht mehr.«

Seine Bibelstunden hielt er wohl noch, aber er wurde dabei oft sprunghaft, verlor den Faden, daß man ihm nicht folgen konnte. Auch sein Zuhörerkreis war klein geworden. Viele schliefen schon lange auf dem Friedhof, verschüchtert und einsam saß der alte Organist Kappel in seiner Sofaecke, ohne seinen dicken, lustigen Freund Malz, den hatte man längst zur ewigen Ruhe gebracht.

Ich war immer um Onkel, bei seinen Blumen und Erbsenbeeten, und in der Stille seiner Studierstube, wo ich, goldene Worte hörend, im alten Ohrenstuhl neben seinem Schreibtisch saß. »Wir beide, du und ich,« sagte er manchmal, »wir gehören zusammen.«

Oft waren wir alle miteinander auf dem Kirchhof, schmückten unsere Gräber, horchten auf die Lerchen und sprachen von unseren Toten. An Georgs Grabhügel stand ein schlankes, schwarzes Kreuz, das in goldener Schrift den Spruch trug: »Meine Lippen und meine Seele, die Du erlöset hast, sind fröhlich und lobsingen Dir!«

Im folgenden Winter ging auch Tante Adele heim. Hart hatte der Tod mit dieser starken, stolzen Seele gerungen. Onkel geleitete seine dritte Frau auf den Kirchhof.

Und dann kam ein Sommer, an dem wir zum letztenmal beisammen waren. Ich fand bei meiner Ankunft Onkel so müde und so alt, daß ich mit Schmerzen dachte: »Könnte er nun heimgehn dürfen!«

»Ich bin einsam, du weißt nicht wie sehr!« sagte er, als er alt und gebückt, schwer auf meinen Arm gestützt, durch den Garten ging.

»Alles ist mir fremd, alles spricht eine fremde Sprache um mich. Sogar meine alte Stadt ist mir fremd geworden, ich mag gar nicht mehr auf die Straße gehen! Ich will meinem Herrn nichts vorschreiben, aber manchmal denke ich doch: nun wäre es Zeit! Aber mein Gott weiß meine Stunde, ich muß noch warten!«

Dazwischen stammte noch ein Stück des alten Feuers in ihm auf, dann war er auf Augenblicke der Alte. Dann konnte er sich noch wie in früherer Zeit für etwas begeistern, sei es ein schönes Gedicht oder ein ewiges Wert aus der Bibel.

Auch brach noch sein alter Humor dazwischen hervor, sein derber, schlagender Witz machte mich lachen, wie in alter Zeit.

In solch einem Moment des Aufflammens beschloß er auch einmal mit mir auf den Kirchhof zu Wandern. Alle Warnungen schlug er ärgerlich zu Boden: »Ich bin noch lange kein alter Lappen,« sagte er, »diesen Weg mache ich noch längst!« Eifrig und fröhlich plaudernd ging er an meinem Arm aus, aber ich fühlte bald, wie er sich immer schwerer auf mich stützte.

Wir hatten eben die letzten Hauser der Stadt hinter uns gelassen, da wurde er stiller; allmählich verstummte er ganz, hochaufatmend ließ er plötzlich meinen Arm los und sank auf einen Stein am Wege nieder: »Ich kann nicht mehr,« sagte er leise und schmerzlich, daß es mir ins Herz schnitt, »nun mache ich diesen Weg nur noch im Sarge!«

Es war ein Glück, daß Jenny dies alles voraussehend, uns einen Wagen nachgeschickt hatte, der uns denn auch glücklich heimbrachte.

Onkel ging in sein Zimmer, wo ich ihn still und traurig sitzend fand, die Hände gefaltet, den Blick ins Abendrot gerichtet.

Ich nahm sein liebes altes Haupt in meine Arme und küßte seine weißen Locken: »Nun wandern wir einmal zusammen im Paradies,« sagte ich, »wie schön wird das sein! Du mußt dort auf mich warten, dann bist du wieder jung.«

»Ja,« sagte er leise, »das wird schön sein!«

Die große Freude hatte er noch, daß sein Sohn Gustav geheilt war. Er hatte geheiratet und lebte mit Frau und Kind auf dem Lande. Es war ein Dasein voller Arbeit und Entbehrungen, aber voller Zufriedenheit, und der Segen des frommen Elternhauses lag auf seinem bescheidenen Leben.

Vetter Hermann, der ein Pastorat voll froher Kinder hatte, war mit den Seinen gekommen, auch Gustav mit Frau und Kind, und was von Verwandten es irgend möglich machen konnte, war da. Es war, als fühlten wir alle: »Es ist zum letzten Male.«

Leben erfüllte wieder das alte Haus, aber alles war gedämpft und stiller wie früher. Wir alle umgaben unser geliebtes altes Familienoberhaupt mit Liebe und Ehrfurcht. Jeder versuchte, ihm eine Freude zu machen, einen Wunsch zu erfüllen, aber er hatte keine Wünsche mehr, als nur den einen, bei seinem Herrn zu sein!

Am letzten Abend vor der Abreise der Gäste saßen wir noch einmal alle beisammen im Garten, unterm Ahornbaum. Onkel hatte den goldenen Familienpokal hervorgeholt, mit Rheinwein gefüllt ging er von Hand zu Hand, wie in alter, froher Zeit.

Da erhob sich Onkel. O mit welcher Liebe blickten wir alle auf die greise Gestalt; er hielt den Goldpokal in den erhobenen Händen und sprach Worte des Abschieds und des Segens zu uns.

Es war ein Dank, den er seinem Herrn und Gott sagte, für sein ganzes Leben. Er ließ es an uns vorüberziehen in seinem Reichtum, und wir fühlten es alle, warum es so reich gewesen war: weil Liebe und Vertrauen zu seinem Gott es erfüllt hatten bis in alle Tiefen, und weil die Liebe zu seinen Nebenmenschen es durchleuchtete und vergoldete.

Dann mahnte er uns mit liebevollen Worten, an dem einen festzuhalten, der »seines Fußes Leuchte und ein Licht auf allen seinen Wegen« gewesen war.

Nichts von Altersschwäche, nichts von Müdigkeit lag auf ihm. Mit starker Stimme, mit begeisterter Kraft sprach er, und dann sangen wir noch einmal das Festlied dieses Hauses:

»Lobe den Herren, o meine Seele,
Ich will Ihn loben, bis zum Tod«

Die Gäste waren fort, ich blieb allein zurück. Onkel wollte mich nicht fortlassen, immer wieder bat er noch um einen Tag: »Es ist das letzte Mal!«

Und dann mußte ich doch Abschied nehmen, um ihn auf Erden nie wieder zu sehen! Wenn ich an die letzten Zeiten unseres Zusammenseins denke, dann sehe ich ihn unter Ahorn stehen, mit dem Goldpokal in den erhobenen Händen, mit dem Licht in den Augen, mit dem Abendschein auf dem schönen alten Haupt; ich höre seinen Dank, den er Gott für sein Leben sagt, und höre seine ernsten Mahnworte an uns, Gottes Hand nie loszulassen, und dann weiß ich es, daß von allen Reichtümern meines Lebens die Liebe dieses frommen Mannes, der Segen dieses Lebens, doch mein größter Reichtum gewesen ist.

Im November hatte er, ohne jeden Todeskampf, hinübergehen dürfen, er hatte den Tod nicht geschaut. Müde hatte er sich ein wenig auf sein Bett gelegt, war eingeschlafen, und im Schlaf war er heimgegangen.

Mit der Hand an der Wange, friedlich wie ein Kind eingeschlummert, fand Jenny ihn, als sie nach ihm sah.

In der Karte, die er mir nur wenige Tage vor seinem Tode geschrieben, sagte er: »Heute ist mir der Kopf ganz dumm, und ich besorge meine Post nur mit Mühe, verliere Brille und Tintenfaß und das Datum. Ach! wie hast Du an Deinen Jahren einen Schatz und wieviel plus kannst Du noch verzeichnen. Frisch auf, mein liebes Herz, und singe Dir im Freien das eine und das andere Lied. Gott hat Dich zum Vertrauen und Mut geschaffen, lebe wohl und munter. Dein Vater Hesse.«

Das waren seine letzten Worte an mich auf Erden.

Eins hält mein Herz fest mit ganzer Kraft: Wenn ich einmal heimgehen darf, dann weiß ich, daß ich ihm begegnen werde, der meine Hand ergreifen und mich vor meines Heilands Thron führen wird, als eine Seele, die er mit nimmermüder Geduld und Liebe für die Ewigkeit geworben.

Ein Jahr nach seinem Tode lebte Jenny noch im Elternhause, dann mußte sie es verkaufen und Weißenstein verlassen. Das Haus, ohne das man sie sich nicht denken konnte, ging in fremde Hände über. –

Sie ist dann in der Welt umhergewandert, jeder von uns streckte die Arme nach ihr aus. Jeder von uns hätte ihr so gerne in seinem Hause eine Heimat geboten, sie war bald hier, bald da, Wurzel hat sie nirgend schlagen können. Sie gehörte nun einmal in das alte Haus, in den alten Garten; eine Heimat hat sie auf Erden nicht mehr gefunden.

Oft kam eine fast krankhafte Schwermut über sie, die sie taub und blind machte gegen die Liebe, die man ihr so gern geboten hatte, mit der man sie umgeben wollte, sie, die so viel Liebe in ihrem Leben gegeben, darbte! Gott weiß es, wann sie zur Ruhe kommen wird, dann aber wird es eine köstliche Ruhe sein, aus der nichts mehr sie vertreiben wird. Nach dieser Heimat sehnt sie sich, auf diese Heimat wartet sie, und einstmals wird sie dort einziehen können, wo das Heimweh schweigen wird – in die Heimat für Heimatlose!

 

Ehe das liebe alte Haus für immer in fremde Hände überging, sollte der letzte Sommer uns dort noch einmal vereinigen. Wir sollten alle da sein, Hermann mit seinen sieben Kindern und seine Frau, Gustav mit den seinen, und ich mit Tante Fritzchen, unserer alten Ehrendame aus fröhlicher Jugendzeit, wurden erwartet.

Zum letztenmal bestieg ich den wohlbekannten Postwagen und fuhr die alten Wege von der Bahnstation zum Städtchen.

Was einem da alles durchs Herz geht, wer vermag es in Worte zu fassen!

Die öde Landstraße wird lebendig, und um die alten Stationsgebäude lebt es, von tausend frohen Erinnerungen und verklärt sie. Hier, mitten auf der Landstraße, in dem hellen Sonnenschein, hatten wir bei einem Kruge, wo die Pferde Rast hielten, unser wackliges Tischchen gerückt; dort tranken wir fröhlich unsern Kaffee, unter Lerchenjubel, und Heu- und Kamillenduft.

Es war, als läge noch etwas von unserm frohen Lachen, von unsern Liedern, auf allen Wegen, als zöge unsere Jugend mir entgegen auf der einsamen Straße, durch deren Stille nur das eintönige Läuten unserer Postglocken klang.

Es war ganz dunkel, als ich frühmorgens in die Stadt kam. Fern am Horizont stand ein roter Schein, von einem fernen Waldbrand.

Wir fuhren durch die lautlose Stadt, an den bekannten Häusern vorüber. Alles war still, alles schlief noch. Viele von denen, die wir gekannt, ruhten drüben auf dem Kirchhof. Wir hielten an der Hofpforte, Jenny erwartete uns, sonst lag noch alles im Hause im tiefen Schlaf. Dunkle Schatten lagerten in den stillen Räumen, durch die wir leise hinauf in mein Zimmer gingen.

Lange stand ich oben schweigend am niedrigen Fenster und sah hinaus, bis das Morgenrot kam.

Daß das Abschiednehmen so schwer sein würde, hatte ich doch nicht gedacht.

Klappen der Tür, leidenschaftliches Murmeln von Kinderstimmen auf der Treppe weckte mich. Kleine Füße trippelten herauf, bald stand die ganze neugierige Kinderschar vor meinem Bett. Als ich sie anredete, erschraken sie, wurden verlegen und entflohen eilig, um dann den Eltern ganz enttäuscht zu verkünden:

»Ach, die Tante ist ja eine ganz alte Frau!« Als ich dann zum Kaffee im Speisezimmer erschien, blieb ich in der Türe stehen, bewegt von dem Bilde, das sich meinen Blicken bot.

Es war das alte vertraute Zimmer, noch immer an den Wänden Leonardo da Vinci's Abendmahl, und Kaiser Nikolai mit seiner Gemahlin.

Der Tisch so weit gestreckt wie in alter Zeit, obenan Hermann und Gustav, mit ihren Frauen, und herum die acht Kinder, alle gesund, froh, lebendig, mit blanken hellen Augen in die Welt schauend. Da war wieder ein kleiner Hermann, ein kleiner Georg, Barthold. Willi, Hilde Lischen, Hans und die kleine blondlockige Hedwig, Gustavs Töchterchen, und alles schrie, lachte, jauchzte, fragte und wollte erzählen.

Und über mich kam es plötzlich wie eine Erkenntnis: die Gegenwart gehört der Jugend! Wir mit dem Licht und Schatten unserer Erinnerungen müssen beiseitetreten und der Jugend ihr Recht lassen. Der Jugend gehört der Tag, die Gegenwart; wir haben unser Teil am Leben, unsere »leuchtenden Tage« gehabt.

»Nicht weinen, weil sie vorüber,
Lächeln, weil sie gewesen –«

Und so ging der Schmerz in mir zur Ruh'; ich ließ der Gegenwart Helligkeit und Freude tief in mein Herz scheinen. Mit festen kleinen Händen griffen die Kinder nach ihrem Recht. Es war ein sprudelndes, fortreißendes Leben in ihnen; sie schleppten mich in den Garten, mir all ihre Herrlichkeiten zu zeigen, alles sprach durcheinander, stürmisch, betäubend; es war mir, als spräche jedes Kind mit doppelter Zunge, griffe mit mindestens vier Armen nach mir.

Es gab auch überwältigend herrliche Sachen im Garten: Hütten und Gruben, Löcher und Verstecke.

O weh! Hätte Onkel Hermann die Verwüstungen in seinem sorgfältig gepflegten Garten sehen können, was hätte er dazu gesagt!

Die Hütte mitten im Kartoffelacker, Löcher in den Erbsenbeeten, ein Festungswall bei den Himbeersträuchern, auf der Wiese Rasensitze.

Aber die Eltern wollten, daß der letzte Sommer »in Großvaters Garten« den Kindern gehören sollte, als herrliche, letzte Erinnerung! Und so war es denn auch. Das gab wieder ein Leben im alten Haus, wie die still gewordenen Räume, wie der Garten es lange nicht mehr erlebt. Jauchzende Kinderstimmen erfüllten die Zimmer, den Garten, Kinderfüße schleppten erbarmungslos Erde und Staub auf die weißen Holzdielen des Hauses, und die Freude wollte kein Ende nehmen, wenn wir Alten an ihren Spielen teilnahmen. Wieder lebten die alten Spiele unserer Jugend auf: »Räuber und Wanderer«, »Trievater«, »Letztes Paar heraus«.

Wir versteckten uns hinter denselben Büschen und Bäumen, hinter denen wir uns als Kinder versteckt, und der Trievater wurde, wie die Tradition es erforderte, am Ahornbaum mitten im Garten angeschlagen.

Dann kamen wieder ruhige Stunden, wo ich auf der Veranda saß, still in den lieben Garten hinausblickend, und das Auge auf Blumen und dunklen Baumwipfeln ruhen ließ.

Ich horchte auf das Schwirren der Schwalben hoch oben in der klaren Luft, auf das Schlagen der Kirchenuhr, das so seltsam fern und traumhaft klang – aufs Fallen der reifen Apfel ins Gras und auf die fröhlichen Kinderstimmen, die aus der Tiefe des Gartens klangen.

Und die Jahre schwanden – – –

»Hermann! Georg!« rief eine Stimme im Garten. Träumte ich denn? Würde nicht jeden Augenblick Tante Adele auf der Schwelle der Verandatür erscheinen und mich fragen: »Kind, warum bist du so allein? Waren die Jungen unartig, daß du nicht mit ihnen spielst?«

Abends, wenn es dämmrig war und die Lampe im Saal angezündet wurde, dann gab es ein Plauderstündchen mit den Kindern auf dem großen Eckdiwan.

All die Kleinen saßen um mich gedrängt.

»Nun erzähl'! Von allem, wie du klein warst und aus der Bodenluke sprangst, und wie Pappi ein kleiner Junge war. Und wie alles war, wie du Onkel Georgs Vögel losließest, und wie Großpapa war und Großmama!«

Und ich erzählte: Abend für Abend stieg die Vergangenheit aus ihrem Grab, mit all ihrer Lust und Freude, und erfüllte das Haus mit ihrem Leben und ihrem Licht, und die Kinder jauchzten und jubelten bei all den frohen Bildern und begriffen es gar nicht, warum meine Stimme oftmals ganz leise wurde, als könnte sie nicht weiter.

Abends, wenn die Kinder in ihren Betten lagen, mußte ich immer noch einmal zu ihnen hinein.

Ich öffnete sacht die Tür, es war Georgs Zimmer, in dem all die kleinen Betten standen. Dort an der Wand war früher Georgs Krankenlager, darüber hing das Bild des übereifrigen, überverzagten Jüngers, der sich im Versinken im Wellensturm an des Heilands Hand klammert. Darunter war von Georgs Hand ein Schmetterling mit ausgespannten Flügeln gezeichnet.

Jetzt stand Hänschen, des Jüngsten Bettchen, unter dem Bilde.

»Ach! komm zu mir! Nein, zu mir!« rief es von allen Seiten, und: »Bitte, erzähl' noch etwas! aber etwas Lustiges!« Ach, nein! Hier konnte ich nichts erzählen, hier lebte noch zu stark der Jammer, hier sprach noch alles vom heißen Kampf, von den Schmerzen, die diese Wände geschaut, hier griff noch alles zu schmerzhaft nach meinem Herzen. »Nein, Kinder, ihr müßt schlafen,« sage ich und gehe zum Gutenachtkuß von einem Bettchen zum andern!

Nun sind sie still. Ich trete noch einen Augenblick ans Fenster und blicke hinaus ins Abendrot. Ein kleine Vers fällt mir ein, den ich einmal las:

»Das Abendrot bedeutet Scheiden
Und Herzensnot und tiefes Weh!«

Dann gehe ich leise aus dem Zimmer, noch einen Blick auf die Kinder. Nun ruhen sie alle in ihren Kissen, die hellen und die dunklen Köpfchen; Gott schütze euch vor Herzensnot und tiefem Weh!

Auch ein Konzert gab es in dieser Zeit. Es sollte für Onkels Arme sein, die er so sehr geliebt.

Kopf an Kopf war der Konzertsaal gefüllt; Hermann saß am Flügel, als mein treuer Begleiter.

Und ich sang alle meine alten Lieder: Frauenliebe und Leben und Schön-Rothraut und noch viele andere.

Der Jubel wollte kein Ende finden, immer wieder wurde ich aufs Podium gerufen, immer sollte ich noch etwas singen.

»Nun ein Schlußlied,« sagte Hermann. »Sing: ›Aus der Jugendzeit‹.« »Das kann ich nicht,« sagte ich gepreßt.

»Du kannst es!« sagte Hermann in seiner ruhigen, zwingenden Art.

Und ich konnte es, und ich sang, und es gab nachher eine große Stille, und dann ein Sturm im Saal. Dann gingen wir heim.

Am andern Tage gab ich einen großen Kaffee im Armenhause, mit frischem Weißbrot, vom Konzertertrag, und Jenny ging mit dem Rest der Einnahme ganz still spendend in manches Haus, dessen heimliche Not sie kannte, wie niemand sonst im Städtchen.

Und dann kam der Tag der Abreise, für Hermann und seine Familie; es galt Abschied nehmen.

Große Kisten standen im Hof, denn ein Teil der Möbel wurden verpackt, um in Hermanns Haus gebracht zu werden. Die Kinder trieben sich beglückt zwischen Stroh und Kisten umher, wir Erwachsene standen stumm dabei, als eine Sache nach der andern aus dem Hause getragen wurde.

Wie seltsam ist doch der Mensch, daß er einem alten Stuhl nachtrauern kann, wenn er seine liebsten Menschen hat fortgeben müssen!

Endlich war alles gepackt, der Reisewagen stand vor der Türe, die Kinder grüßten und winkten aus den Wagenfenstern, fort rollte die Kutsche, wir waren allein. –

Die nächsten, die nun fortfahren mußten, waren das alte Tante Fritzchen und ich!

Dann schlossen Jenny und ihre Nichte das Haus und übergaben die Schlüssel dem neuen Besitzer, und verließen das Städtchen.

Noch blieben uns wenig Tage.

Wir faßten uns an den Händen und gingen durchs stille Haus, das noch die Spuren der Kinder trug, die es mit so hellem Leben erfüllt hatten.

Und noch einmal kam der Geist des Hauses über uns: nicht trauern, sondern froh und dankbar sein!

Wir räumten das ganze Haus auf, aus allen Zimmern brachten wir die noch vorhandenen Möbel zusammen, um dem Saal ein wohnliches Aussehen zu geben. Aus dem Garten trug ich große Sträuße von Blumen und Herbstlaub und schmückte das Zimmer, die Ofen wurden geheizt, die Fußböden blendend weiß gescheuert. Draußen regnete und stürmte es herbstlich, wir aber saßen dicht beieinander. Der Vormittag fand uns meist an Tante Adeles altem Fensterplatz am Nähtisch. In den Öfen prasselte das Holzfeuer. Leise, leise fielen die Tropfen aufs Straßenpflaster, und das eintönige Geräusch ihres Fallens erweckte eine Stimmung, daß man wie eingelullt war in die Träume:

»Die man in der Kindheit träumte.«

Weitab lag das Leben, lag die Wirklichkeit, nur die Vergangenheit war da, schritt leisen Fußes durch die Räume, setzte sich zu uns und erfüllte unsere Herzen mit Friede und Freude.

Erlaubte das Wetter es am Nachmittag, so deckten wir unsern Kaffeetisch im Garten unterm Ahornbaum, oder wir gingen auf den Kirchhof, und saßen dort bei unsern lieben Gräbern, – welch eine lange Reihe war es nun geworden!

Wir schmückten die Hügel mit dem Schönsten, was unser Garten bot, aber auf Georgs Grab lag immer ein Strauß großer, blauer Glockenblumen aus Müntenhof, die er so sehr geliebt.

Kamen wir heim, so brannte die Lampe schon auf dem runden Tisch im Saal, ich setzte mich auf den alten Eckdiwan, horchte auf die Stimmen, die aus der Küche zu mir hinüberdrangen, aufs Knacken des brennenden Holzes im Ofen, aufs Klappern der Teller, die die Magd Lena auf den Speisetisch zum Abendbrot stellte. Wie behaglich und friedlich das alles klang! Wie hell und freundlich der Schein der Lampe auf all den vielen gebrauchten Sachen des Zimmers lag! Sollte das nach wenig Tagen für immer zu Ende sein? Wie sie alle das Zimmer belebten, die Gestalten, die hier froh gewesen, die hier gelitten und geweint hatten, und die nun alle zu ihrem Frieden hatten einziehen dürfen, oder weit in der Welt verstreut waren.

Und dann kam der Abschied vom Walde, von den Steinbrüchen.

Es war ein trüber, herbstlicher Tag, als wir hinauswanderten. Grau und still war die Welt, voll Sterben und Abschiednehmen. Bei der Kanzel wurde Halt gemacht, das war die einzige Stätte, die unverändert geblieben war, die unzerstört von unsern Jugendtagen sprach. Eingestürzt war unsere Höhle, zerstört ›die Wiege‹, entwurzelt die Linde, und verschwunden der Rosenstrauch.

Die Sonne war herausgekommen, der Wald war voller Licht, golden lag die klare Herbstsonne auf dem Waldboden; durch die Lust zogen glänzend silberne Herbstfäden.

Wir pflückten die großen blauen Glockenblumen und weißen Maßliebchen, die auf langen Stengeln geheimnisvoll zwischen den Steinen blühten.

Wir ruhten im Moos, aßen unser mitgebrachtes Vesperbrot, sprachen von alten Zeiten, schwiegen – und über uns lag es wie ein Zauber. Der Wald wurde lebendig, die Vergangenheit füllte ihn mit Sonnenschein und lieben Gesichtern, und die stille Welt mit Jubel, Lachen und Liedern.

Endlich mußten wir an die Heimkehr denken, es dämmerte schon im Walde.

»Nun geh' noch einmal auf die Kanzel,« sagte Jenny, »und singe!«

Und ich saß oben, in meinem Schoß lagen die blauen Glockenblumen und weiße Maßliebchen, vor mir der Wald im Dämmerlicht eines frühen Herbsttages. Durch den Wald ging ein Schauern, wie von Sterben und Vergehen, und ich sang und sang. Über die dunklen Wipfel hin zog mein Singen, und mir war's, als sähe ich unter den Bäumen die Gesichter derer, die hier so gern meinen Liedern gelauscht.

»Nun zum Abschied das Heimatlied,« bat Jenny, und ich begann:

»O Heimatland, du liebes Land,
Wie keiner je ein lieb'res fand –«

Aber da brach meine Stimme schluchzend ab. Schweigend stieg ich zu den andern herab, und dann gingen wir schweigend heim.

Und nun kam der letzte Tag.

Es war Abend geworden, Jenny und ich fuhren noch einmal auf den Kirchhof. Es war eine traurige Fahrt, stürmisch, regnerisch und kalt, eine namenlose Traurigkeit erfüllte die Welt.

Wir standen vor unsern Gräbern, ich hatte die letzten Glockenblumen auf Georgs Grab gelegt. »Schlaft ruhig, ihr Lieben, bis wir uns Wiedersehen!«

Da brach der Mond durch die Wolkenwand, hell schien er auf Onkels Kreuz, ich beugte mich vor und las die Inschrift: »Ich glaube an eine Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen.« Darunter: Dr. Hesse.

Laut sprach Jenny den 103. Psalm. Die tapfere Stimme klang über die Gräber hin, durch das Brausen des Herbststurms.

Dann fuhren wir heim.

Früh am andern Morgen waren die Postpferde vor der Tür. Wir gingen durch den Garten, funkelnde, strahlende Sonne lag über den Beeten, Sträuchern und Bäumen. Dann noch ein Gang durch alle Räume des Hauses, noch einmal standen wir beisammen auf der Steintreppe, dann stiegen wir in den Postwagen, die Pferde zogen an, die Postglocken läuteten, so fuhren wir über den Marktplatz. An der Ecke, von der aus man das Haus noch einmal sehen konnte, wandte ich mich um. So sah ich es zum letztenmal in meinem Leben, klein, schief, mit seinem verblichenen gelben Anstrich. Aber wie groß und stark war die Liebe, die diese Räume umschlossen. Eine Liebe, so stark, daß ihre Ströme in weiteste Ferne gereicht, so hell und groß, daß sie vieler Leben licht und reich gemacht hatte.

Glücklich ein jeder, in dessen Leben ein Strahl dieser Liebe hineingeleuchtet, und glücklich vor allem ich, die diese Liebe empfangen hatte, schon von meinen frühen Jugendtagen an.

Meine Tränen versiegten: Mir war, als sähe ich über dem Hause ein Wort, in goldenen Lettern in den blauen Himmel geschrieben, und dieses Wort hieß:

»Lobe den Herren, o meine Seele!
Ich will Ihn loben, bis in den Tod!«

 

Ende.


 << zurück