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Es ist Abend. Onkel Hermann und ich sind von einem Spaziergang heimgekehrt. Die Sonne steht tief, die Häuser werfen lange Schatten. Die Welt ist hell, als hätte die Sonne noch all ihr Licht auf der Erde gelassen, als sie sich zum Scheiden anschickte.
Wir sitzen auf den Stufen der Steintreppe Hand in Hand. Wir blicken die Straße hinauf über den grünbewachsenen Marktplatz, zur Kirche mit ihrer leuchtend blauen Uhr und dem unproportionierten Turm, der spitz in den lichten Abendhimmel ragt.
Schwalben schwirren mit jauchzendem Schrei an uns vorüber, wir schauen ihnen nach, bis sie im leuchtenden Abendhimmel versinken. So findet uns der Abend oft.
Onkel spricht vom Leben, das unser wartet, wenn dieses Leben zu Ende gegangen ist. Es ist ihm so nah, so voller Herrlichkeit, daß meine junge Seele sich danach sehnt, wie nach schönster Vollendung.
»Unter deinen Lebensbäumen
Wird uns sein, als ob wir träumen.«
»Wenn ich nicht mehr bin,« sagt die liebe, alte Stimme neben mir, dann denk' an diese Stunde! Du stehst mitten im Leben, das will viel von dir, gibt dir viel, pack' es, sonst läuft es dir davon! Aber vergiß nicht, daß jeder Tag seine Ruhestunden für die Seele haben muß, erlaube nickt, daß er dich auffrißt! Unsere Seele gehört unserem Heiland. Er hat sie teuer bezahlt! O mein Gott! wie dank' ich dir für deine Treue!«
Ich fasse fester die liebe, alte Hand, die so abgearbeitet in der meinen liegt und küsse sie. Kann ich mir ein Leben denken, ohne daß diese Hand die meine hält?
Und doch kam einstmals ein Tag, an dem diese Hände erkaltet über einer stillen Brust gefaltet lagen, keinem mehr Gutes tuend. Ein Tag, an den man ihn über diese Steinstufen trug, über die sein Fuß so oft geschritten, und ich habe gelernt zu leben, ohne diese große, tiefe Liebe, die so stark über meinem jungen Leben wachte.