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Fast ein jeder Balte hat außer der großen Liebe zu seinem Heimatlande noch eine ganz besondere Liebe zu einem Fleckchen Erde in dieser Heimat, das er als kostbarstes Gut ganz still in seiner Erinnerung bewahrt. Wohl wird es in erster Linie die Stätte sein, wo er geboren ist. Aber außer dem Elternhause ist es im Leben der meisten doch noch ein anderer Ort auf dem Lande, ein Pastorat, ein Gut, eine Forstei oder eins unserer lieblichen kleinen Landstädtchen, wo man seine Sommerferien als Gast verbrachte, an dem das ganze Herz hängt. Wenn auch der Kampf ums Dasein, der auch bei uns in den letzten Jahrzehnten härter wurde, die fast unbegrenzte Gastfreundschaft einschränken mußte; ich habe in meiner Kindheit und Jugend noch mitten im Leben der alten Baltenzeit gestanden, wo man im grünen Planwagen auf Wochen und Monate als ständiger Sommergast zu Verwandten oder Freunden in die Ferien fuhr. Ich habe noch die ganze breite Lebensführung dieser Zeit erlebt, die jetzt fast sagenhaft anmutende Gastlichkeit mit ihrer sonnigen, harmlosen Freude am Leben, ich habe noch so manches Original gekannt, an denen unsere kleinen Städte besonders reich waren. Denn in der Stille und Abgeschlossenheit und dabei Großzügigkeit unseres ländlichen und kleinstädtischen Lebens hatte man noch Raum, zu leben und sich zu entwickeln, wie man wollte.
Unser Leben damals war ein Idyll. Der letzte Rest davon ist nun verschwunden, es fand ein Ende in der Not und dem Grausen, die durch den Weltkrieg über unsere Heimat gekommen sind. Zum Teil zerstört sind unsere kleinen Städte, unsere Güter und Pastorate einsam und verlassen, tot, verstummt das frohe, sorglose Leben dort in der Sommerzeit. Die Bewohner vertrieben, die Familien auseinandergerissen, wurzellos, mit heimwehkranken Herzen in der Fremde verstreut.
In stillen Stunden kommt dann die Erinnerung oft über einen an das Leben in der Heimat, wie man es früher gelebt. Die alten Orte erstehen in unvergessener Lieblichkeit, die lieben längst Verstorbenen leben, das frohe Lachen erklingt, und die ganze sonnige Welt, die man geliebt, lebt wieder auf. In diese Welt rettet man sich dann für eine kurze Weile, und es ist, als hätte man sich aus ihr Kraft geholt für das Leben fern von der Heimat. In solchen Stunden sind diese Blätter geschrieben; mögen sie ln die Welt gehen und von einer Zeit erzählen, die nie mehr wiederkehrt.
Und nun steigt empor, ihr Erinnerungen an einen Ort, wo ich die sonnigsten Tage meines Lebens lebte. Ein Ort, der weitab vom großen Leben lag und doch viele das Leben gelehrt hat, in dieses Wortes stärkstem und tiefstem Sinne.
Weißenstein ist ein Landstädtchen in Estland, mit kleinen Holzhäusern, schlecht gepflasterten Straßen, einem mit Gras bewachsenen Marktplatz, vielen Gärten und lieblicher, ländlicher Umgebung. Ein Flüßchen, die Paide, fließt an der Stadt vorüber, und ihr schönster Schmuck ist die prachtvolle Ruine, aus der Zeit der Ordensritter stammend. In einer ihrer Straßen lag das alte Doktorhaus, in dem mein Onkel Hermann Hesse lebte. Niedrig, mit einem hohen Ziegeldach, mit gelber Ölfarbe gestrichen, und mit weißen Fensterläden. Eine breite, flache Steintreppe führte von der Straße ins Haus. Das Haus war sehr geräumig, langgestreckt, mit einer großen Veranda. Ihr Dach ruhte auf weißen Holzsäulen und war von einem riesigen Kastanienbaum überschattet. Von der Veranda trat man direkt in den Garten. Noch immer ist mir's, als wäre dieser Garten der schönste, den ich je gesehen, wenn ich auch so manche Herrlichkeiten der Erde seitdem geschaut. Es war wie ein Meer von Blumen, in das man blickte: Rosen, Lilien, Malven, wohlriechende Erbsen, alles blühte dort in wunderbarer Pracht. Weit hinaus zog der Garten sich mit Lauben, ungezählten Beerensträuchern, Gemüsebeeten, Grasplätzen und Obstbäumen; abgeschlossen wurde er durch einen kleinen Park mit alten Linden, Tannen und Ahorn. Ein hoher Bretterzaun trennte ihn von der Straße. Wie alt und unscheinbar war das Haus; die gelbe Farbe seiner Wände war vom Regen verwaschen, von der Sonne verblichen, die Steintreppe, über die mein Kinderfuß so oft sorglos gegangen, war ausgetreten. Noch steht es da, wenig verändert, wird vielleicht noch lange so stehen, aber mein Auge wird dieses Haus nie mehr erblicken, mein Fuß wird seine Schwelle nie mehr überschreiten. Denn für mich schloß sich seine Tür für immer, als sie ihn hinausgetragen, das geliebte Haupt dieses Hauses, durch das es erst wurde, was es war, seit ich es kannte: ein Segenshort für jeden, der seine Schwelle betrat. Schon seit meinen frühen Kinderjahren führten unsere Ferienreisen uns fast jeden Sommer auf Wochen nach Weißenstein.
Meine Mutter lebte mit uns drei Kindern in Riga einer Stadt Livlands, nach dem Tode meines Vaters, der in Estland Prediger gewesen war.
Schon im Frühling, wenn die Sommerpläne gemacht wurden, fragten wir voller Sorge unsere Mutter: »Geht es auch wirklich wieder nach Weißenstein?« Welch ein Jubel, wenn sie sagte: »Wir reisen, und es geht nach Weißenstein!« Dann kamen die Ferien heran und mit ihnen der Tag der Abreise, von unserer Mutter und uns Kindern mit glühender Ungeduld erwartet. Das Dampfschiff führte uns nach Pernau, einem kleinen Städtchen, dort fanden wir die Vettern aus Weißenstein vor, die in Pernau das Gymnasium besuchten. Sie standen schon immer, ihre Mützen schwenkend, fiebernd vor Ungeduld am Dampfbootsteg. Sie hätten uns wohl am liebsten gleich vom Dampfschiff weg in den Reisewagen geschleppt. Aber wir machten immer zuerst für eine Nacht Rast in Pernau. Dort wurde ein tüchtiger Speisekorb gepackt, und früh am Morgen ging es dann fort, hinein ins schöne, sommerliche Land. Ferien, Freude, goldene, lichte Tage vor uns! Ach! es war einem wohl, als könnte man die Sterne vom Himmel herunterholen! Welch eine Fülle von Poesie barg doch solch eine Fahrt durchs Land, im grünen Planwagen mit seinen winzig kleinen Glasfensterchen, die vom Staube der Landstraße trübe waren. Langsam karrten wir die hundert Werst, die vor uns lagen. Heiß wurde es bald im Wagen, und eng und staubig. Aber was machte uns das aus! Pik Mart, der alte graue Estenfuhrmann, saß still und stumpfsinnig vorne im Planwagen und trieb dazwischen mit einem estnischen Fluch die Pferde an, die sich durch nichts in ihrem langsamen Trott beschleunigen ließen. Es ging nicht schneller als höchstens fünf Werst die Stunde. Wie köstlich war die Rast in den ländlichen Herbergen, »Krüge« genannt. Wie wohl tat es, die steifen Glieder wieder etwas zu bewegen, den Speisekorb zu öffnen und alle Herrlichkeiten darin zu versuchen. Dazu trank man »Stofbier« oder rosa Limonade, die eigentlich brausen sollte, aber es fast nie tat. Man saß auf der Krugschwelle, guckte wohl auch neugierig in die Krugstube, wo es so seltsam roch, nach Bier und wollenen, selbstgewebten Kleidern. Man besah die Balsaminen an den Fenstern, plauderte mit der »Krügerin«, die von allen Herrschaften erzählte, die heute schon »durchgekommen« seien. Der Planwagen stand indessen in der Wagenremise, Stadoll genannt, da war es dunkel und kühl, es roch nach Heu, und so still war es drin, daß man nur das Kauen der Pferde vernahm und das Zwitschern der Schwalben, die hoch oben im Dach ihre Nester hatten.
Oft ging man dann dem Wagen voraus, wenn die Pferde ausruhten, wie schön war es am Abend in der Kühle so über die Landstraße zu wandern, singend, lachend oder auch schweigend, die Stille und den Frieden ringsumher so wundersam ahnungsvoll in seinem Kinderherzen zu empfinden! Wie dufteten die Wiesen und die Kleefelder, wie golden war das Licht, das die scheidende Sonne auf die schöne Welt um uns warf! In einem Tage konnten wir unser Ziel nicht erreichen, es mußte Nachtstation gemacht werden.
Gab es kein befreundetes Pastorat, das uns aufnahm, so schlug man sein Nachtlager in einem Kruge auf. Gar primitiv war es, meist auf einer Strohhütte; morgens wusch man sich am Ziehbrunnen, aus dem man das Wasser selbst heraufholte mit Holzeimern, die an einer Stange hinabgelassen wurden. Und weiter ging's, der Morgensonne entgegen, mit blanken Augen und frohen Herzen.
Wollte die Fahrt zu lang werden, dann sangen wir ein Lied nach dem anderen, und wenn es ein Choral war, dann faltete unser alter Fuhrmann seine braunen Hände, und die Pferde, den aufmunternden Fluch vermissend, verlangsamten ihre Schritte noch um ein Erhebliches.
Sehr verschieden waren die drei Vettern, die mit uns den Planwagen teilten. Hermann, der Älteste, der einzige Sohn aus Onkels zweiter Ehe, zuverlässig und tüchtig, fleißig und geordnet, voller Charakter und Ernst, bei einer kindlich stillen Heiterkeit. Er war der hamonischste der drei Brüder und ging seinen geraden Weg, er hat seinen Eltern nie Kummer oder Sorge bereitet, und ich glaube, nie in seinem Leben einen einzigen dummen Streich gemacht. Er konnte so fröhlich lachen, aber sonst hielt er sich doch immer ein wenig von unseren übermutigen Unternehmungen fern. Wir Kusinen verehrten und bewunderten ihn rückhaltlos, aber wir scheuten ihn auch etwas. Er hatte eine gewisse Art, schnell und ernsthaft nach einem hinzublicken mit seinen ehrlichen blauen Augen, und jede Untat erstickte in seiner Gegenwart im Keim.
Man neckte ihn nie und spielte ihm nie einen Schabernack. Sein Herz barg eine unendliche Fülle von Liebe, Treue und Zartheit, im täglichen Leben war er aber eher schweigsam als mitteilsam. Seine wundervolle musikalische Begabung machte ihn oft zum Mittelpunkt unseres Kreises, aber schlicht und bescheiden ging er seinen Weg und verstand nie etwas aus sich zu machen. Nur wenn die Freude über ein schönes Musikwerk seine Seele erfüllte, dann tat sie ihre Tore weit auf, und lodernde Begeisterung brach wie eine Flamme aus diesem stillen, zurückhaltenden Menschen. Er war eine Nathanaelseele – ohne Falsch. Die beiden andern Vettern, Georg und Gustav, stammten aus Onkels dritter Ehe. Gustav war wohl der gutmütigste von ihnen allen. Wenn wir ihn noch so plagten, noch so ausnutzten, er ließ sich alles gutmütig und mit unzerstörbarem Humor gefallen. Auf unseren gemeinsamen Ausflügen belud er sich immer mit allen Plaids, Mänteln und Speisekörben. Für uns Kusinen war er eine Quelle nie endender Heiterkeit. Sein trockener Humor, seine Witze brachten uns immer zum Lachen, und oft brach unsere Heiterkeit an durchaus falschen Stellen los, wie z. B. beim Tischgebet, bei der Morgenandacht, oder wenn wir Besuch hatten, der respektiert werden mußte. Er zog uns manchen strengen, mütterlichen Blick zu.
Der dritte Vetter, Georg, war mir im Alter am nächsten und mein ganz spezieller Kamerad, blondlockig, blauäugig, voll übermütiger Jungenhaftigkeit. Kein Baum war ihm zu hoch, kein Dach zu steil! Immer war er lustig, immer zu Streichen aufgelegt. Sein Lachen klang hinreißend und übermütig durch Haus und Garten, und immer hatte er einen Unsinn im Kopf, den wir getreulich miteinander ausführten. Wie oft bekam er Prügel, die er lachend von sich abschüttelte. Er behauptete, zur »Marktzeit« jedesmal, wenn er sich nur im Zimmer zeigte, unbesehn, ununtersucht, »verdient war es immer«. Wir stritten uns eigentlich beständig, aber wir versöhnten uns sofort, wenn es galt, einen gemeinsamen Streich zu vollführen. Sei es nun, den Nachbarn einen Tort anzutun, unreife Beeren oder Apfel zu essen, stundenlang auf den weiten Mooren umherzulaufen oder uns von den hohen Festungswällen der alten Schloßruine herabzurollen, was im Grunde nur ein fragwürdiges Vergnügen war, denn unten kam man immer mit einem wüsten Kopf und heftiger Übelkeit an, und blieb oft ganz benommen liegen. Mit diesen drei frohen Reisekameraden flogen die Stunden schnell dahin.
Am Nachmittag des zweiten Tages war die Grenze von Estland erreicht, man sah den Grenzpfahl, der mit den Landesfarben: grün, violett, weiß, angestrichen war. Wir waren ganz still geworden, denn jeder lugte gespannt nach ihm aus und wollte der erste gewesen sein, der ihn erblickt hatte. Ein Jubelgeschrei erfüllte den Wagen, Pik Mart mußte halten, alles stürzte, drängte, kollerte aus der Wagentür, um ›Estland‹ zu grüßen. Die Jungen schwenkten ihre Mützen, wir umfaßten den Grenzpfahl, pflückten estländische Blumen und liefen ein Stück ins Land hinein. Meine Mutter sah lachend zu und ihre Augen strahlten, hatte sie doch in Estland ihre glücklichsten Jahre gelebt, ihre kurzen, reichen Ehejahre.
Nun kam noch der zweite große Augenblick, das erste Erblicken des Weißensteinischen Kirchturms. Ein ohrenzerreißendes Jubelgeschrei brach bei seinem Anblick los, spitz wie eine Nabel ragte er über die Baumwipfel, und nun sah man auch bald die Schloßruine neben ihm auftauchen. Wir tobten derartig, daß es selbst Mutter zu viel wurde. Aber kein Mahnwort von ihr wollte helfen, Nun waren wir auf der Brücke und der Wagen stieß und stolperte über das Pflaster durch die hellen, sauberen Straßen.
Unsere Postglocken riefen alle Menschen an die Fenster. Überall liebe, bekannte und fröhlich grüßende Gesichter. Und nun ging es über den Marktplatz, bei der alten Nachbarin, Frau Laurson, vorüber, die wie immer, mit ihrem Strickzeug am gewohnten Fensterplatz sitzend, freundlich über ihre Brille hinüberschauend, uns grüßte. Und nun, nun hielt der Wagen, aus der engen Tür quollen wir, lachend, jubelnd. Auf der Treppe standen sie alle, Onkel mit seinen weißen Silberlocken schwenkte seine Mütze und schrie »Hurra!« wie ein Student. Neben ihm Tante Adele, stattlich, und in all dem Trubel, bei aller Güte doch immer ihre vornehme Haltung wahrend. Und dann Jenny, unsere liebe Kusine Jenny, das Ideal unserer Kinder- und Jugendjahre, die immer Fröhliche, uns liebevoll Verwöhnende.
Nun ging's durch alle Zimmer! Ob auch alles unverändert war? Ja, Gott sei Dank! Jedes Stück stand noch an seinem alten Platz. Es wäre ja auch schrecklich gewesen, hätten wir irgend etwas anders gefunden, als wir es gewohnt waren. Da war der Saal, groß, niedrig, mit seinen Streckbalken an der Decke, den schweren Diwan und Lehnstühlen, gestreiften Überzügen, in der Ecke der riesengroße alte Eckdiwan, daneben das altmodische Tafelklavier; am Fenster voll blühender Blumen Tante Adelens Nähtisch, auf dem immer eine schöne Handarbeit lag, altertümliche Spiegel an den Wänden und wertvolle Bilder in nachgedunkelten Goldrahmen. An den Saal schlossen sich Jennys zwei kleine Zimmer, mit weißen Gardinen an den Fenstern, alten Mahagonitischen und Kommoden und einem winzig kleinen Sofa. Am Ende eines Korridors lagen die Fremdenzimmer mit ihren hochgetürmten köstlichen Federbetten, auf welchen den Gästen zu Ehren die schönsten Flickerdecken prangten, mit ihren geblümten Mahagonibettschirmen, Mahagonikommoden und altmodischen Bildern in blauem Rahmen, mit schmalen Goldbörtchen verziert, alles altmodisch, einfach, aber blendend sauber und behaglich.
Dann ging es in die Küche, wo man ein stürmisches Wiedersehen mit den Leuten feierte. Wie freundlich behäbig und wohlgenährt sah doch die Köchin Anno aus, wie sauber und nett Greta, die junge Stubenmagd. Eine uralte Magd, Anna, aß das Gnadenbrot im Hause. Ihr einziges Amt war das Bereiten des Kaffees. Sie sah seltsam aus, grau und verwittert, wie ein Steinbild, mit der bunten, hohen Estenhaube.
Ach! Und dann ging es in den Garten! Der Jasmin blühte, die Sonne schien – mein Gott! wie herrlich war doch das Leben!
Und nun begannen Tage, so voll Sonne und Freude, Freiheit und Liebe, daß unsere Kinderherzen sich weit und jubelnd öffneten, und jeden Tag als den allerschönsten empfanden. Schelte bekam man nie, und in jener Zeit wurden die Kinder viel gescholten. Habe ich doch das Empfinden, als wenn damals der Schwerpunkt der Erziehung vielfach im Schelten lag; jedenfalls habe ich in meinen Kinder- und Jugendjahren oft darunter gelitten, nur in Weißenstein nicht, da hörte das Schelten von selber auf. Und ich weiß noch eben nicht, machte das Glück einen so artig, daß man es nicht brauchte, oder waren die Großen so mit sich beschäftigt, und selbst so froh, daß sie uns Kinder nicht beachteten und so manches ungesehen durchschlüpfte.
Der Garten war uns freigegeben, wir aßen unreife Beeren, soviel wir nur irgend wollten, und Äpfel, die sauer zwischen den Zähnen knirschten. Verboten war nichts als das Abpflücken der Blumen im Garten. Ja, es war seltsam, Onkel Hermann, der alles fortgab, mehr oft, viel mehr, als er und die Seinen missen konnten, von seinen Blumen mochte er sich nicht trennen. Nie sah man im Hause abgeschnittene Blumen als Zimmerschmuck in Vasen, das litt er einfach nicht. »Sie sollen nicht früher sterben, als Gott ihnen ihre Zeit bestimmt hat,« sagte er; »wozu Leben zerstören?«
Die Tage flogen nur so hin, Besuch gab es viel im Sommer, denn Herzen und Türen standen immer weit offen für jeden Gast. Die Städter kamen und gingen zu jeder Stunde; keine Mahlzeit, die nicht ein unerwarteter Gast teilte! Wie oft war abends ein langer Tisch draußen für alle Hausgenossen und Gäste gedeckt, deren Fülle die Veranda nicht mehr faßte. Das Essen war einfach, die Portionen riesengroß, alles schmeckte wundervoll und für jeden war überreichlich da. Und gegeben wurde alles mit unbeschreiblicher Wärme, Liebe und Freude. »Einen fröhlichen Esser hat Gott lieb,« sagte Onkel oft und behauptete, dieses Wort stände sicher in der Bibel. Und unter duftenden Blumen saß man beisammen, bis die funkelnden Sterne am Himmel standen.
Jeden Sommer wurden große Picknicks in den Wald bei Mündenhof gemacht, wo ein alter Steinbruch war. Dann taten sich alle befreundeten Familien der Stadt zusammen, mit Teemaschinen, Tassen, Kannen und Butterbröten zog man in den Wald. Onkel war immer der Fröhlichste dabei, trotz seiner weißen Haare war er wie ein Jüngling, und riß alles mit sich fort in jugendlichem Sturm. Man lagerte sich im Walde, die Messing-Teemaschinen standen blitzend im Gras; auf Steinen, die mit weißen Tüchern bedeckt waren, standen Schüsseln mit Butterbroten und Kümmelkuchen. Onkels Lieblinge bekamen die schönsten Bissen zugesteckt, mußten sich aber auch wohl vorsehen, daß sie nicht plötzlich einen Abhang herabgerollt wurden. Man verteilte sich im Walde und von hüben und drüben klangen Quartette über die grünen Wipfel hin, die sich zuletzt im großen Chor vereinigten. Dazwischen wurden Aufführungen improvisiert, in denen die Vettern unerschöpflich waren, Schillers und Uhlands Balladen in primitivsten Kostümierungen; der Wald mit seinen Steinbrüchen, Felsblöcken, Höhlen gab eine prachtvolle Dekoration zu allem. Oft wurden auch Spiele gespielt, an denen sich alle ausnahmslos beteiligten oder wilde Schlachten wurden geliefert, wo Tannenzapfen die Geschosse vorstellten. Jede Partei riß sich dann darum, Onkel als Anführer zu haben, denn er war wie ein Sturmwind, und die Partei, die er führte, gewann immer den Sieg. Abends zog man singend von den Wiesen heim, müde von der Freude.
Der starke Mittelpunkt dieses Lebens war und blieb immer Onkel Hermann. Es ist schwer, ein Bild seines Wesens zu geben, denn es ist mir, als müßte jede Schilderung von ihm matt sein; leben mußte man mit ihm, denn er war das Leben in seinem stärksten Sinne. Ich denke immer, Martin Luther muß er ähnlich gewesen sein. Wenn ich von der »herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« höre, dann denke ich an ihn. über sein Leben hätte man den Spruch sehen mögen: »Alles ist euer, ihr aber seid Gottes.« Er war eine Natur, die Freude und Licht brauchte, und er verstand sie zu finden und in sein Leben zu tragen, in den Alltag wie in den Festtag. Aber durch alle die lachende Freude, durch all den blitzenden Humor, durch all den strahlenden Übermut, gingen wie ein Strom, tief und stark, eine Frömmigkeit, ein unmittelbares Leben mit Gott, eine Liebe zu Gottes Wort, ein begeistertes Sichbekennen zu ihm, mit jedem Atemzuge des Lebens. Es war kein Christentum für den Sonntag, nein, für jeden Augenblick des Daseins. In Onkels Hause habe ich es erlebt, daß mitten in den frohen Tanz der Jugend unser Hausherr trat. »Kinder!« rief er, »wir haben solch Herrlichen Festtag von Gott erhalten, wollen wir ihm danken!« Und brausend erklang der Lieblingschoral dieses Hauses:
Lobe den Herren, o meine Seele,
Ich will Ihn loben bis ln den Tod.«
Oder Onkel sprach mit freudig bewegter Stimme einen Lob- und Dankespsalm. Ja, bei der Bowle haben wir unsere schönen Choräle gesungen.
»Mein Heiland liebt frohe Kinder,« sagte er oft, »und warum soll ich denn nicht lachen und jubeln, da ich so reich bin, weiß ich doch, daß ich meinen Heiland habe«.
Ein Original nannte man ihn, und er war es. Nicht groß von Wuchs, stark und beweglich, sprühend lebendig, mit einem prachtvollen Kopf, scharfen, lustigen Augen und schneeweißen Locken, so sehe ich ihn vor mir. Am liebsten ln seinem Garten arbeitend. »Kinder, ln meinem Garten bekommt mich der Tod nicht fest,« sagte er.
Im Sommer, wenn ein Beruf ihn frei ließ, arbeitete er den ganzen Tag in seinen Blumen- und Gemüsebeeten. Seine Pflanzen waren ihm wie seine Kinder, er kannte jede Blume, jeden Baum, jeden Strauch. Er hielt Zwiesprache mit ihnen und wußte, was jede brauchte. Er konnte ganz umdüstert sein, wenn eine Pflanze nicht gedeihen wollte, trotz aller Pflege. »Was will sie denn eigentlich?« sagte er ungehalten, »ich gebe ihr, was sie nur irgend verlangen kann, aber nein! sie widersetzt sich durchaus allem! Ach, es ist ja gerade wie mit uns! Wieviel Liebe und Geduld wendet der Heiland an unsere Seelen, aber wir tragen partout die Früchte nicht, die er verlangt!«
Ich war viel bei ihm, wenn er im Garten arbeitete, half ihm, oder hörte ihm zu, wenn er so lebendig mit seinen Pflanzen verkehrte. Immer wieder verglich er seine Arbeit an ihnen mit der Arbeit unseres Heilandes an unseren Seelen. Und Gedanken, die mein Leben lang mit mir gingen und später ihre Früchte trugen, senkte er in jenen Stunden in meine junge Seele. Es war eine Zeit der geistlichen Erweckung in Estland gewesen, die ein lebendiges Echo in Onkels Herzen fand. Mit der ganzen Kraft und Lebendigkeit seiner Seele erfaßte er diese Zeit, und seine Person, sein Haus waren es, von denen Ströme des Lebens und der Liebe brachen und durchs Land fluteten. Seine Andachten, seine Bibelstunden voll Leben und Originalität, waren weit im Lande bekannt und von allen Seiten kamen die Leute dazu herbei. Die Fröhlichkeit, der studentische Übermut, der hinreißende Witz und Humor, die sein Wesen kennzeichneten, brachen auch in diesen Versammlungen beständig hervor und erregten oft Anstoß bei den Frommen; aber dem begegnete Onkel mit seinem unverwüstlichen, derben Humor. »Was wollen sie eigentlich von mir, diese frommen alten Damen?« sagte er einmal. »Soll ich, weil ich Gottes Kind bin, am Ende Braten mit Trauersaucen essen, oder Fische mit Kreppschleifen um den Schwanz!«
Ganz eigentümlich waren seine Morgen- und Abendandachten. Es war eine besondere Art, wie er mit seinem Heiland verkehrte. Alles was ihn beschäftigte, bewegte, Gespräche, die wir miteinander gehabt, Witze, komische Erlebnisse, alles, alles brachte er dort hinein. Er verkehrte ganz persönlich, ich möchte sagen, menschlich, mit Gott, legte ihm alles vor, bat ihn um alles. Nichts, was ihn bewegte, war ihm zu klein oder zu unwichtig, um es seinem Heiland zu sagen. Er disputiere mit ihm, legte ihm seine eigenen Verheißungen vor, widerlegte sich selbst mit Gottes Wort. Das Ende war immer: »O mein Heiland! Ich bin nicht wert all deiner Liebe und Barmherzigkeit, die ich täglich erfahre.« Wir lachten oft herzlich in seiner Andacht, oft aber rannen einem auch die Tränen über die Wangen. Er war ein Mann der Tat, ohne sich viel zu besinnen griff er zu, wo es zu helfen gab. Wie manches Mal kam er von seinen Landfahrten, er war Kreisarzt, mit einem Kranken im Wagen heim. »Den müssen wir gesund pflegen«, sagte er dann zu den Seinen. »Das ist ein Familienvater oder eine Mutter. Zu Hause haben sie keine Pflege, sterben dürfen sie nicht, das geht nicht an!« Ob die Krankheit ansteckend war, ob die Pflege schwer, ob sie leicht war, danach fragte er nie, nur danach, ob Hilfe not tat. Eine arme Schwindsüchtige mit ihrer bösartigen Mutter lebte über ein Jahr in seinem Hause. »Sie soll in Ruhe sterben«, sagte Onkel, »die Mutter quält sie zu sehr, wenn man sie allein läßt. Wie soll sie da Gott finden?«
Und die Kranke starb nach langem Leiden, still und dankbar, das Haus segnend, wo sie Liebe höchster Art, Christentum in lebendigstem Leben geschaut hatte. Mit starker, mutiger Hand führte Onkel sie durchs dunkle Tal des Leidens und zeigte ihr den, der durch des Todes Türen träumend führen kann.
Er war oft derb. Formen konnten ihn reizen.« »Was da, Knixe hier und Verbeugungen dort! Ich bin der Doktor Hesse aus Weißenstein und damit basta!«
Und mit unbeschreiblich drolligem Ausdruck schob er seine Mütze in den Nacken, stemmte seine Arme in die Seiten, sah sich pfiffig um und ging in den Garten. Er scheute sich nie, selbst überall Hand anzulegen. Seinen Kranken brachte er oft gutes Essen aus seiner Küche in einem Töpfchen eigenhändig über die Straße. Einmal kam er von einem Krankenbesuch heim, als die Mittagssuppe dampfend in der großen Terrine auf den Tisch gestellt wurde. Das Tischgebet war gesprochen, da erhob sich Onkel, ergriff die Terrine und trug sie aus dem Zimmer. In der Tür drehte er sich nach seiner sprachlos ihm nachschauenden Familie um: »Ihr könnt heute mit einer Speise zufrieden sein,« sagte er ruhig. Und er trug die dampfende Terrine, so wie er ging und stand, über die Straße, ins Haus seiner armen Patienten.
Mit seinen Kranken ging er oft sehr kategorisch um; er machte nicht viel Umstände, und sie mußten blindlings gehorchen. Namentlich der Verkehr mit seinen Bauern war unbeschreiblich originell. Da er oft hitzig und eilig war, geschah es, daß er einem Bauern einen falschen Zahn gezogen hatte. Als er sein Versehen bemerkte, drückte er seinen Patienten, trotz dessen Geschrei, in seinen Stuhl zurück und zog ihm mit starker Hand, trotz wilder Gegenwehr, den zweiten heraus. Einem anderen Bauern, der sich nicht untersuchen lassen wollte, verabfolgte er eine tüchtige Ohrfeige. »Willst du nun gehorchen, mein Sohn?« fragte er dann milde, und der Bauer hielt still wie ein Lamm. »Der Doktor hat eine schnelle Hand,« sagten die Leute halb anerkennend, halb in Furcht.
Er war ein glänzender Chirurg; mit schneller Hand machte er, in den primitivsten Verhältnissen, die kühnsten Operationen. Um die neuen Errungenschaften auf wissenschaftlichem Gebiet kümmerte er sich nicht viel: »Ich bin nun einmal Bauerndoktor und kein gelehrtes Tier!« sagte er fröhlich. »Was ich gelernt habe, reicht für meine Bedürfnisse noch lange genug.«
Auf sein Äußeres gab er nicht viel, zum Beispiel trug er, zum Kummer seiner Frau, niemals einen Schlips. Allmählich schaffte er sogar seine Kragen ab, die ihn in der Gartenarbeit nur hinderten. Kaufte er einen Hering, so trug er ihn uneingewickelt, mit Daumen und Zeigefinger am Kopf haltend, über die Straße. Begegneten wir ihm und riefen entrüstet: »Aber Onkelchen, wie kannst du nur so über die Straße gehen!« dann schwenkte er lustig den Hering gegen uns hin, daß wir lachend zur Seite sprangen, um keine Spritzer auf unsere Kleider zu erhalten. Er konnte oft unduldsam sein, so konnte er manchmal namenlos zornig werden über Dinge, die diesen Zorn gar nicht verdienten. Zum Beispiel reizten ihn elegant gekleidete russische Beamte derartig, daß er, wenn er sie von fern über die Straße kommen sah, schnell in ein Haus hineinging, um ihnen nicht zu begegnen, und so lange die Türe geschlossen hielt, bis sie vorüber waren.
Eine Quelle des Zorns für ihn waren auch die Radfahrer. Er konnte sie nicht vertragen. »Kind, es ist gegen Gottes Ordnung, auf einem Rad durch die Welt zu fahren!« sagte er.
Wenn er krank wurde, brach er völlig zusammen, denn jede Krankheit überfiel ihn mit ganzer Macht. Rekonvaleszenzen aber konnte er nicht. Einmal, nach einer heftigen Erkrankung, überraschte er uns damit, daß er unerwartet, mit Wasserstiefeln angetan, mitten unter uns stand, die wir angstvoll beisammen saßen und nur flüsterten, um seinen Schlaf nicht zu stören.
»Macht keine so dummen Gesichter« sagte er lustig, »Gott schenkte mir einen schönen Schlaf, und nun bin ich gesund, noch sterbe ich lange nicht. Und wenn ein Livonus sagt: ›Ich bin gesund‹ so ist er's. Ich gehe auf den Kirchhof; wer kommt mit?«
Er war schon in den achtziger Jahren, als wir ihn zu unserem Entsetzen hoch oben im Gipfel eines Apfelbaumes entdeckten, wo er einen Ast absägte. Plötzlich ein Krachen, der Ast, auf dem er stand, brach, und er kam mit zwei Ästen unter dem Arm, die ihm als Fallschirm dienten, ganz sachte auf die Erde herab.
»Das tue ich nun nicht mehr« sagte er, als er, ein wenig blaß, zu uns trat, die wir wortlos vor Schrecken da standen. »Gott hat mir eben ein wenig auf die Finger geklopft!« Trotzdem wurde er noch einmal nach diesem Fall im Winter schneeschaufelnd auf dem Hausdach gefunden, wo er von der ganz aufgeregten Jenny herabgeholt werden mußte.
Furcht – dieses Wort gab es nicht in seinem Leben, weder physische noch moralische Furcht kannte er bis an seinen Tod.
Als er seinen Beruf aufgab, lebte er ganz für seine Gartenarbeit, er trug dabei einen Rock, den wir den »Ölrock« nannten. Er hatte ihn beim Anstreichen seiner Gartenbänke ganz mit Ölfarbe befleckt, aber die Flecken auszunehmen erlaubte er nicht. »Dummes Zeug! es ist keine Schande, wenn man sieht, daß ich arbeite.« Noch andere Spuren zeigte der Rock, an dem alles abgewischt wurde, was er in die Hand nahm; oft schielte er dabei mit schelmischem Ausdruck nach seiner vornehmen Frau hinüber. Ekel oder Grausen kannte er nicht. Als Kreisarzt mußte er bei aufgefundenen Leichen die Todesursache feststellen. So kam es, daß ihm im Winter kleine Kinderleichen ins Haus gebracht wurden. War es kalt, so kamen die Leichen steif gefroren an, und mußten zur Untersuchung erst auftauen. Zu dem Zweck stellte er sie am warmen Ofen auf, da hörte man, namentlich in der Stille der Nacht, manchmal einen klatschenden Laut, die kleine Leiche war aufgetaut und brach zusammen. Sprach einer von uns sein Grausen darüber aus, dann konnte er sehr heftig auffahren, denn dafür hatte er kein Verständnis.
Wir neckten ihn oft damit, daß er gar nicht nach seinem hohen Rang und seinen großen Orden sich zu betragen verstünde; dann sagte er: »Was sollen mir die elenden russischen Wladimirs! Ich bin Dorpater Student und Livone gewesen, und habe meine Doktordissertation aus Dorpat. Das ist alles tausendmal mehr wert, als der alberne russische Kram!« Er war deutsch wie wir alle, bis in jede Faser seiner alten Burschenseele hinein.
Als Gründer der Studenten-Verbindung Livonia ging ihm nichts über seine Livonen, denen er nur Bestes und Edelstes zutraute. Im Winter sollte das große fünfundsiebenzigjährige Jubiläum der Livonia gefeiert werden, die Korporation wollte ihn als einzigen lebenden Stifter dabei haben; man plante, ihn in einer Kutsche, sorgfältig behütet, nach Dorpat, der Universitätsstadt, zu bringen. Er war mit seinen 94 Jahren begeistert dabei, aber schon im November schloß er seine alten, lieben Augen.
Tante Adele war ganz anders geartet wie Onkel, und sowohl äußerlich wie innerlich konnte man keine größeren Gegensätze sehen wie die beiden. Er klein, etwas dick, gebeugt, sprühend lebendig, mit einem Gesicht voll strahlenden Lebens. Sie groß, schlank, sich sehr gerade haltend, in ihrer stolzen, vornehm liebenswürdigen Art. Sie war im adeligen Fräuleinstift in Petersburg erzogen, in allen weiblichen Künsten geschult. Sie malte, machte schöne Handarbeiten, deren Muster sie selbst entwarf. Sie dichtete, schrieb kleine anmutige Theaterstücke für uns, verstand glänzend zu repräsentieren, und war fein, verbindlich und liebenswürdig. Sich sehr gerade haltend, sehe ich sie immer an ihrem Nähtisch sitzend, mit einem Spitzenhäubchen auf dem dunkelblonden, gewellten Haar, freundlich nach uns hinschauend, wenn wir lachend und übermütig zu ihr hereinbrausten.
Es war ihr unser stürmisches Treiben gewiß nicht immer recht, jedenfalls war es anders, wie sie es in ihrer Jugend gewohnt war, aber mit großartiger Güte, mit feinem Takt und Humor fand sie sich in alles. Sie war voll feiner Klugheit und voll großer Liebe.
Kein ganz leichtes Erbe war es, was sie antrat, als sie Onkels dritte Frau wurde. Aber uns war sie eine geliebte Tante geworden, in deren Haus wir alle Liebe einer nahen Verwandten fanden. Und nun bleibt noch Jenny, von der ich erzählen will. Sie war eine Tochter aus Onkels erster Ehe. Außer Jenny waren noch drei Kinder da, zwei Töchter Gertrud und Marie und ein Sohn Johannes. Die beiden Töchter heirateten früh nach Kurland, ich habe sie in Weißenstein kaum gesehen, jedenfalls spielten sie in meinem Leben dort keine Rolle. Der Sohn Johannes wurde in ganz jungen Jahren Missionar in Indien. Ich lernte ihn erst in Deutschland viel später kennen, eine tiefe Freundschaft verband uns bis zu seinem Tode. Sein Sohn ist der Dichter Hermann Hesse. Wir liebten Jenny schon als Kinder schwärmerisch! Sie war immer fröhlich mit uns, verwöhnte uns namenlos, hatte das tiefste Interesse für alle unsere kleinen Freuden und Leiden! Immer steckte sie uns was Gutes zu und verwahrte Schokolade und Bonbons in ihrem Zimmer für uns.
Sie war klein, mit einem edlen, feinen Gesicht, dunklen Augen und krausem, schwarzem Haar. Klug, tatkräftig, mit schnellem, schlagfertigem Witz begabt, voller Humor, war sie in vielen Dingen die rechte Tochter ihres Vaters, von dem sie auch ein großes Stück Originalität geerbt hatte.
Sie führte den Hausstand; während wir fröhlich genossen, stand sie in der Küche und kochte und schmorte das Essen für die Unmenge von Gästen. Sie hatte ein schweres Los gehabt. Sie war verlobt mit dem Sohn des befreundeten Nachbarhauses. Schon als Knabe umgab er sie mit steter Sorgfalt und fast unterwürfiger Knabenschwärmerei. Als sie erwachsen waren, warb er um sie, sie wies ihn ab; denn seine sklavische Hingabe konnte in ihrer starken Natur keine Gegenliebe erwecken. Aber er ließ sich nicht irre machen, in nie wankender Treue, in unveränderter Liebe warb er Jahre um sie, bis er sie überwand; sie gewann ihn lieb und gab ihm ihr Jawort.
Aber seltsam, als er sein so glühend erstrebtes Ziel erreicht hatte, stellte sich bald bei ihm eine Art Ernüchterung ein, und kurz vor der Hochzeit löste er die Verlobung unter Umständen, die die Wunden, die er geschlagen, noch vergifteten.
Das alles hatte sie gelitten, und da sie ein starker Mensch war mit manchen Härten, litt sie bis zur Vernichtung. Aber sie war nicht nur stark, sie war auch fromm, und aus all den erlebten Bitterkeiten rettete sie sich ein Herz voll unerschöpflicher Liebe, Güte und Selbstlosigkeit. Jeder bekam den Segen dieser Liebe zu spüren, der in ihre Nähe kam. Sie hatte die seltene Fähigkeit, mit jedem Menschen die Sprache zu reden, die sein Herz verstand. Ob alt, ob jung, ob arm, ob reich, ob gebildet oder ungebildet, ob Mann oder Weib, jeder öffnete ihr sein Herz, und sie teilte Freuden und Leiden mit jedem, der zu ihr kam.
Wie begeistert nahm sie Anteil an unseren übermütigen Plänen und Unternehmungen, freilich nie jemals anders als aus der Ferne, denn sie machte nie Besuche, beteiligte sich nie an unsern Ausflügen. Da blieb sie eisern, auch gegen unser noch so stürmisches Bitten und Flehen.
Aber ebenso wie sie an unsern Freuden teilnahm, ja noch viel mehr teilte sie unsere Leiden. Man hatte nie Geheimnisse vor ihr, und keiner verstand so tröstend, so lindernd einen zu streicheln, wenn man betrübt war, wie sie.
Doch nicht nur für uns war sie da, sondern auch für jeden im kleinen Städtchen. Für die Kranken kochte sie Suppen, und brachte sie still und heimlich selbst hin. Niemand verstand so zu pflegen wie sie, und wenn es Krankheit unter den Freunden gab, wollte man nur sie zur Pflege haben. Ging es zum Sterben, da verstand niemand es besser als sie, die Angst und die Not zu lindern, mit weicher Hand glättete sie die Kissen, hielt angstvolle bebende Hände tröstend in den ihren, und drückte müde Augen zur letzten Ruhe zu.
Wir waren in unserem jugendlichen Egoismus oft empört, daß wir die so sehr Geliebte nicht ganz für uns hatten, daß wir sie mit jedem estnischen Bäckerweib, das an den Straßenecken Kringel verkaufte, teilen mußten; denn wir behaupteten, mit derselben Hingabe, demselben Eingehen könnte sie die Leidens- und Freudengeschichten der Estenweiber anhören, wie unsere Ergüsse.
Die Jahre kamen und gingen, so manches hatte sich ln unserem Leben verändert. Nur eins nicht, die begeisterte Liebe für dieses Stück Erde, für dieses geliebte Haus. Noch immer erklang heller Jubel, wenn es im Frühling hieß: »Im Sommer geht es wieder nach Weißenstein.« Nicht mehr im alten grünen Planwagen mit dem seltsamen Geruch nach Heukissen und altem Leder, wurden die hundert Werst von Pernau zurückgelegt.
Die Eisenbahn hatte sich auf fünfzig Werst dem Städtchen genähert, und im hohen Postwagen rasselte man über das holprige Straßenpflaster in die Stadt.
Und auf der Steintreppe standen wie immer die lieben Bewohner des Doktorhauses, mit offenen Armen und hellem Jubel uns grüßend.
Die Vettern waren herangewachsen, Hermann war ein ernsthafter Student der Theologie, Gustav Gymnasiast, Georg unser fröhlicher Hausgenosse in Riga.
Im Hause aber hatte sich nichts verändert, alles war noch ganz so, wie mir es als Kinder gekannt und geliebt. Ebenso hell strahlte die Sonne über dem schönen Garten in seiner Blütenpracht, fast noch froher flutete das Leben durchs Haus. Nur die alte Anna war allmählich ständig in den Ruhestand versetzt worden, nur noch zum Tassenwaschen war sie zu gebrauchen. Heiße Kämpfe hatte es gegeben, bis man ihr das Kaffeemachen entwunden.
Sie wollte dieses letzte Ehrenamt um keinen Preis aus der Hand geben, aber als einmal der Krahn der Kanne verstopft war und bei näherer Untersuchung das Hindernis als eine Menge Haare sich auswies, da erhoben die Vettern einen derartigen Höllenlärm, daß man ihr dieses Amt fast mit Gewalt nahm. Ich blicke weit zurück, die Jahre schwinden und ich sehe mein Leben dort wie in Bildern an mir vorüberziehen. Ein Bild nach dem andern steigt empor, alle voll Licht, voll Freude. Steigt empor voller Glanz, sinkt wieder nieder, der Glanz erlischt! –