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XIII.

Onkel Hermann und ich sind auf dem Kirchhof. Diesen Gang lieben wir beide. Wir gehen Hand in Hand von einem Grabe zum andern, lesen die Namen derer, die hier ruhen, lesen die Sprüche auf den Kreuzen. Onkel kennt sie alle, die hier liegen und weiß von jedem zu erzählen.

Wir stehen vor einem herrlich geschmückten Grabe, ein hohes Marmorkreuz mit einem Frauennamen erhebt sich auf der Grabstätte. Ein kostbares Gitter schließt sie ab, mit einer schön gearbeiteten Tür. Onkel lehnt sich schwer auf das Gitter. »Ja, ja!« sagt er dann nur auf meinen Ausruf der Bewunderung für diesen Platz, der sich seltsam von den schlichten Gräbern seiner Umgebung abhob. Er schweigt lange, und Trauer liegt auf seinem lieben alten Gesicht; dann erzählt er:

»Hier liegt eine Mutter, deren einziger Sohn ihr Herz brach. Er hat sie verlassen und einsam leben und sterben lassen, sie war zu einfach, er war reich und vornehm geworden. Und er heiratete eine stolze Dame da draußen in der Welt. Die Mutter hat sie nie gesehen, sie schlug sich einsam und dürftig genug hier durch. Ihre Armut grämte sie nicht, aber die Verleugnung ihres Sohnes, die grämte sie. Dann wurde ihm ein Sohn geboren, jeden Sommer wartete sie, daß er ihr das Enkelkind bringen würde; jeden Frühling sagte sie: ›Diesen Sommer kommen sie sicher!‹ Sie schmückte ihre kleine Wohnung, sie bepflanzte ihr winziges Gärtchen mit Dingen, die er gern hatte, sie wartete mit zäher, nie wankender Mutterliebe. Er kam nicht, es war wieder Vergebens, er schob sein Kommen immer wieder hinaus, unter den nichtigsten Vorwänden. Da wurde sie krank. Ich besuchte sie, ihr Herz war voll Bitterkeit. Ich schrieb ihm, es gehe zum Sterben, doch er fand noch immer keine Zeit, zu kommen. Ich habe oft mit ihr gebetet, Gott nahm ihr die Bitterkeit aus dem Herzen, sie konnte im Frieden sterben. Da kam der Sohn zur Beerdigung, ich ging zu ihm und sagte ihm alles. Er hat mir nicht viel erwidert. Am Beerdigungstage sah ich ihn am Grabe der Mutter, er sah nicht nach mir hin. Vor seiner Abreise sah ich ihn noch einmal hier sitzen, ganz still, er dachte, er sei allein, ich hörte ihn seufzen und murmeln: »Mutter, ach Mutter!« hörte ich ihn sagen. Ja, Gott redete mit ihm.

Nun bestellt er jedes Jahr etwas Neues für ihr Grab, dieses Jahr ist es das schöne Gitter gewesen. Von dem allen hat sie ja nun nichts, und sein Gewissen wird ihn nicht loslassen. Ach, Kind! Wollen wir uns lieben, solange es Zeit ist!« –

Wir gingen schwelgend weiter.

»Hier,« sagte er, »sieh dir dieses Grab an. hier liegt ein Mann, der seiner Frau viel Herzeleid bereitet hat. Sie hatten sich lieb, als sie sich heirateten. Dann fing er an zu trinken, verlor seine Stelle, sie erwarb mühselig für sich und ihr Kind, was sie brauchte, zuletzt arbeitete sie auch für ihn, denn er erwarb nichts. Nun ist er seit Jahren tot, ihr Sohn erwachsen, siehst du, wie schön gepflegt dieser Hügel ist? Sie hat Jahre gespart, gedarbt, bis sie ihm das Kreuz hat auf sein Grab setzen können. Lies, was auf dem Sockel des Kreuzes steht.« Ich beugte mich vor und las:

»Die Liebe höret nimmer auf.«

Ich aber fühlte keine Rührung, mein junges Herz war voller Empörung; ich schwieg.

»Das war eine Christin,« sagte er dann ernst, »und eine echte Frau!«

»Eine schwache Frau,« sage ich empört, mit der ganzen Strenge meiner ahnungslosen achtzehn Jahre.

»Mein goldnes Kind,« sagt Onkel, »möchte Gott dich einmal auch so lieben lehren. Das ist das Größte, was du lernen kannst!« »Aber lieben heißt doch, ehren und bewundern«, sage ich. »Davon sagt die Bibel nichts!« erwidert Onkel. »Lieben heißt lieben und damit Punktum. Lies doch mal im Korintherbrief nach, dann weißt du es.«

Wir gehen weiter, von jedem Grab weiß Onkel ein kurzes Wort zu sagen, und es ist das alte Gesetz, das gilt, so lange die Erde steht, vom Werden und Vergehn, vom Blühen und Sterben, was dieses Stückchen Erde predigt.

»Denn alles Fleisch, es ist wie Gras
Und alle Herrlichkeit des Menschen
Wie des Grases Blume.«

Jetzt sind wir vor unsere Gräber gekommen. Ich habe Blumen in der Hand, mit denen schmücke ich das Grab meiner Tante Lina, Onkels heißgeliebter zweiter Frau, die hell und strahlend wie ein Frühlingstraum durch sein Leben ging, wenige kurze Glücksjahre. Und während ich das Grab schmücke, sitzt Onkel nebenbei auf der Bank und erzählt von ihr und seinem Glück in seiner kurzen Ehe mit ihr.

Sie ersteht vor mir in ihrer ganzen fröhlichen Mädchenhaftigkeit, ich höre ihr silbernes Lachen, wie es durch sein Leben geklungen und ich höre von ihrer Sterbestunde und wie sie ihrem geliebten Mann beim Scheiden sagte: »Ich muß fort! Ich bin auf Erden zu glücklich gewesen!«

Ich sitze neben ihm und höre ihm zu, und sehe auf den kleinen grünen Hügel. Kann so viel Liebe, so viel holdes Leben unter einem kleinen Erdhügel enden?! Nein, ach nein! Das wird Gott aufnehmen und es wieder erstehen lassen, einstmals in seinem Reich, goldener, strahlender, sündenloser als hier auf Erden!

Vom nahen Felde jauchzen die Lerchen!

»Nun komm heim!« sagt Onkel, »es wird spät!«

Wir gehen über die einsamen Landstraßen, das Abendlicht liegt auf allen Wegen. Wir schweigen beide. Ich denke an die Stunde, wo Onkel diesen Weg ging, hinter ihrem Sarge, die er so sehr geliebt. Daheim in der Wiege lag ihr kleiner Sohn, nur wenige Tage alt.

Und nun war ihr Platz wieder ausgefüllt, das Haus wieder voller Lachen und voll jauchzenden Lebens, und die Wahrheit, daß sich jede Wunde auf Erden schließt, und daß jeder, jeder Schmerz ein Ende hat, griff an mein junges Herz.

Daß das ein Geschenk, ein großes, von Gott ist, fühlte ich damals nicht. Meine ganze Seele lehnte sich dagegen auf. Vergessen werden? Verwinden? Nein, wie konnte das nur sein! Ich wollte gewiß nie vergessen, nie verwinden, wenn ich einmal Schmerzen leiden müßte! Wir sind daheim und stehen an unserer Treppe. Onkel bricht das Schweigen: »Du lachst, wie sie lachte,« sagt er, »und das tut meinem alten Herzen wohl!«

Tante Adele steht in der Haustür.

»Nun,« sagt sie, »ich sah schon nach euch aus, wo wart ihr denn so lange?«

»Bei meiner Lina,« sagt Onkel.

Sie beugt sich zu ihrem Mann, mit gütigem Lächeln, er nimmt ihre Hand, drückt sie still und geht ins Haus.

Mir bricht es plötzlich aus der Seele, daß ich weinen muß, und ich schlinge die Arme um sie und lehne mich an ihre Schulter.

»Warum weinst du?« fragt sie mit leisem Staunen.

»Ach, daß alles auf Erden vergeht und nie, nie mehr wiederkehrt!« sage ich schluchzend, »und daß alle, auch die tiefsten Schmerzen vergessen werden können. Und daß die liebsten Menschen sterben und wir, wir können wieder glücklich sein!«


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