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Als Mick in Golders Green aus der Untergrundbahn stieg, zog er ein verdrücktes Paket billiger Zigaretten aus seiner schmutzigen blauen Weste und steckte ein Streichholz an. Die Mütze auf seinem Kopf war so alt und schmierig, daß sie jede Form verloren hatte. Ihre ursprüngliche Farbe konnte man kaum noch feststellen. Auch der Rock war abgetragen und ein wenig zu eng für Cardby. Die Ärmel kniffen unter den Achseln. Statt seiner eleganten Beinkleider trug er graue Flanellhosen, und um den Hals hatte er ein schwarzes Seidentuch gebunden. Die ganze Kluft hatte nicht mehr als vier Schilling gekostet, war aber in Wirklichkeit höchstens einen wert. Als Mick aus der Station trat, holte er tief Atem und sah sich um. Auf der anderen Seite der Brücke stand der Lastwagen mit dem Schild »E. Edwards, Gemüsehandlung, Hampstead.«
Der hintere Teil war offen, so das man hineinsehen konnte, aber ein großes Brett verhinderte das Herausfallen der verschiedenen Körbe und Säcke. Mick sah Kartoffelsäcke, Körbe mit Kohl, Früchten und allem, was ein Gemüsehändler braucht. Maddick hatte dafür gesorgt, daß die Aufmachung echt und natürlich wirkte.
Am Steuer saß ein kleiner, schmächtiger Mann, der näher an fünfzig als an vierzig sein mochte. Er hatte die Kappe zurückgeschoben und mußte sich mehrere Tage lang nicht rasiert haben. Mick redete ihn nicht an, als er sich neben ihn setzte. Der andere fuhr sofort an, und als er zu Mick sprach, schaute er geradeaus auf die Straße.
»Alles in Ordnung?«
»Keine Änderung im Plan?«
»Nein.«
»Dann übernehmen Sie jetzt das Steuer.«
Der Wagen hielt an der Seite der Straße an, und sie wechselten die Plätze. Nach fünf Minuten sprach der merkwürdig schweigsame Mann wieder.
»Fahren Sie rechts um die Ecke, dann die erste Querstraße links.«
Er hatte eine alte Pfeife im Mund, und ab und zu beugte er sich zur Seite und spuckte aus.
»Jetzt fahren Sie wieder rechts, dann die zweite Querstraße links.«
»Ist alles vorbereitet?« fragte Cardby und zeigte mit dem Kopf nach rückwärts.
»Ja. Er hat Platz genug hinter den Kartoffelsäcken.«
Wieder fuhren sie etwa vier- bis fünfhundert Meter schweigend weiter.
»Biegen Sie jetzt rechts in die Straße ein, dann halten Sie am vierten Laternenpfahl.«
Als der Wagen zum Stehen gekommen war, schlug eine Uhr in der Nähe zwei. Sie hatten reichlich Zeit. Cardby steckte sich eine Zigarette an und schaute sich um.
»Es wäre verflucht unangenehm, wenn im fraglichen Augenblick gerade ein Polizist um die Ecke käme – meinen Sie nicht auch?«
Der andere spuckte aufs neue und starrte geradeaus.
»Der Polyp, der hier Dienst tut, biegt erst um zwei Uhr einundzwanzig um die Ecke.«
Mick staunte. Maddick hatte die Sache wirklich bis ins letzte durchorganisiert. Der Motor lief so ruhig, daß Mick sich wunderte. Er hatte das bei einem einfachen Lastwagen nicht erwartet.
»Was ist das eigentlich für ein Motor? Er ist sehr gut.«
»Wir haben den alten herausgenommen und einen neuen eingesetzt. Mit einer Ladung, wie wir sie haben, kann man hundertundzehn und mehr Kilometer in der Stunde damit fahren. Wenn der Wagen leer ist, auch hundertunddreißig.«
»Das ist sehr nützlich. Sie kennen wahrscheinlich die Straßen hier in der Gegend wie Ihre eigene Tasche?«
»Ja, ich bin in der letzten Zeit mit dem Lastwagen zweimal am Tage hier herumgefahren, um mich selbst umzusehen und die Leute an den Anblick zu gewöhnen. Jetzt kennen sie mich, und kein Mensch schaut sich mehr nach mir um.«
Wieder folgte eine Pause. Beide schauten aufmerksam die Straße entlang.
»Da kommt er!« sagte Mick plötzlich und fuhr langsam an.
Hundert Meter vor ihnen bog ein Wagen in schnellster Fahrt um die Ecke. Er legte sich gefährlich zur Seite, richtete sich aber wieder auf, bevor er das Tempo verlangsamte. Mick sah einen Mann neben dem Fahrer; hinten saßen zwei andere Leute. Als die beiden Wagen aneinander vorüberfuhren, hatten sie kaum eine Geschwindigkeit von zehn Kilometern. Kurz darauf hörte Mick, daß der Motor des anderen Wagens wieder auf Touren kam. Sein Begleiter stieß ihn an.
»Alles in Ordnung, Weiter. Er ist drin.«
Sie waren kaum zwanzig bis dreißig Meter gefahren, als ein anderer Wagen scharf um die Ecke bog. Die Bremsen kreischten dicht neben ihnen.
»Ist eben ein Auto an Ihnen vorbeigekommen?« rief der Polizist, der auf dem Trittbrett neben dem Fahrer stand.
»Ja«, erwiderte Mick, »vor kaum zehn Sekunden. Er raste wie der Teufel geradeaus!«
Der Lastwagen fuhr langsam weiter. Bevor sie die nächste Ecke erreichten, kamen ihnen noch mehrere Autos mit Polizeibeamten entgegen. Allem Anschein nach waren alle Polizisten aus der Station geeilt und hatten die ersten Privatwagen requiriert, die sie fanden. Wieder wurde Mick gefragt, und wieder gab er dieselbe Antwort.
»Biegen Sie rechts ab«, sagte der Mann neben ihm, und gleich darauf befand sich Mick in einer ruhigen Nebenstraße. Einige Minuten fuhren sie weiter, ohne daß einer von beiden sprach. Mick wunderte sich, daß alles sich so einfach abgespielt hatte. An der nächsten Kreuzung hielt sie der Verkehrspolizist an.
»Haben Sie einen cremefarbenen, schwarzabgesetzten Wagen gesehen?«
»Ja«, antwortete Mick.« Vor etwa zehn Minuten. Mehrere Wagen mit Polizeibeamten jagten hinter ihm her. Der Fahrer bricht sich noch das Genick, bevor sie den einholen. Beinahe wäre er mit mir zusammengestoßen.«
»Schon gut. Wenn Sie ihn wiedersehen sollten, melden Sie es dem ersten Polizisten, den Sie treffen.«
Sie bogen in die Hampstead Road ein, ohne daß sich jemand um sie kümmerte, und kamen schließlich in die Nähe von Chalk Farm. Mick mußte wieder nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts abbiegen. Er fuhr verhältnismäßig langsam. Aus der Ferne hörten sie das dauernde schrille Läuten der Polizeiklingeln.
»Das Überfallkommando ist unterwegs«, sagte Mick.
»Biegen Sie links ab«, war die einzige Antwort.
Ein paar Minuten später gab ihm der Mann die letzte Weisung.
»Jetzt rechts, dann noch etwa hundert Meter weiter. Dort sehen Sie ein großes Schild mit der Aufschrift ›Mercy-Garage‹. Fahren Sie dort hinein. Dann sind wir, soviel ich weiß, am Ziel.«
»Die Sache war ja gerade nicht sehr aufregend.«
»Es hätte aber auch verdammt kitzlig werden können«, meinte der andere und spuckte noch einmal, als der Wagen von der Straße abbog und durch das große Doppeltor in die Garage einfuhr. Als der Lastwagen in der Mitte des Raumes stand, schoben zwei Männer, die schon bereitgestanden hatten, die großen Rolltüren zu. Dann wurde das Licht angedreht. Mick stieg vom Führersitz, reckte sich, fühlte nach seinen Zigaretten und sah sich um.
Aus dem hinteren Teil des Lastwagens kletterte ein Mann heraus und rieb sich die Hände. Mick betrachtete ihn neugierig. Das war also Tommy Kane, der beste Mann von Maddicks Leuten. Er war nicht allzu groß und schmächtig und glich mehr einem Jockei als einem Geldschrankknacker. Sein Gesicht war hager und bleich; er hatte eine gebogene Nase, dünne, blutlose Lippen und ein spitz vortretendes Kinn. Die blauen Augen schienen nicht besonders energisch zu sein, aber die schlanken, langen Hände verrieten große Feinfühligkeit.
»Ich danke Ihnen«, sagte Tommy. »Jetzt werden sie mich nicht so leicht wieder fassen.«
Während er in einem inneren Büro verschwand, setzte sich ein anderer Mann auf den Führersitz und wendete den Wagen in der Garage. Die Tore wurden wieder zurückgerollt, und das Lastauto fuhr auf die Straße hinaus.
Mick wußte nicht recht, was er nun unternehmen sollte. Sein schweigsamer Begleiter saß auf einem Ersatzrad und rauchte die alte Pfeife. In der Ecke stand eine große Limousine, und Mick betrachtete sie gerade, als er seinen Namen hörte.
Der Mann reichte ihm eine Chauffeuruniform mit Kappe und schwarzer Krawatte.
Fünf Minuten später, als Mick sich umgezogen hatte, erschien auch Kane wieder auf der Bildfläche, der sich inzwischen ebenfalls verwandelt hatte. Vorher hatte er einen blauen Anzug, einen grauen Filzhut, blaues Hemd und blauen Kragen gehabt, jetzt trug er schwarzen Rock, schwarze Weste, gestreifte Beinkleider, weißes Hemd, weißen Kragen, eine in Schwarz und Silbergrau gemusterte Krawatte und elegante Chamoishandschuhe. Ein weißseidenes Taschentuch schaute aus seiner Brusttasche und im Munde hatte er eine große Zigarre.
»Ihr Name ist jetzt Cardby«, erklärte er Mick grinsend. »Ich bin Mr. Raymond Perrin, ein Makler, und Sie sind mein Chauffeur. Ich wohne in der Villa Weißenburg zwischen High Ongar und Writtle, und dorthin bringen Sie mich jetzt. Wenn Sie den Weg nicht wissen sollten, sage ich Ihnen unterwegs schon Bescheid.«
Mick legte die Hand an die Mütze, während er Tommy Kane zuzwinkerte.
Es dauerte einige Zeit, bis er die große Limousine gewendet hatte, aber um halb vier waren sie unterwegs, und um vier hatten sie London hinter sich gelassen. Es dauerte nicht lange, bis sie durch High Ongar fuhren. Die Villa Weißenburg konnte man von der Straße aus nicht sehen. Als sie an das Tor kamen, stieg Mick ab und öffnete die gußeisernen Flügel. Rechts neben dem Eingang stand ein leeres Pförtnerhaus, und die Zufahrtstraße war lange nicht gepflegt worden Überall sproß das Unkraut, dicke Grasbüschel wuchsen auf dem Weg, und die Sträucher auf beiden Seiten waren verwildert, so daß die Zweige den Wagen streiften. Das Haus stand etwa dreihundert Meter von der Straße entfernt und war rings von Bäumen umgeben. Die geputzten Mauern zeigten schadhafte Stellen, und nur ein Anzeichen verriet, daß es bewohnt war: es stieg Rauch aus zwei Schornsteinen auf.
Als der Wagen zum Stehen kam, öffnete sich die eichene Haustür. Zu beiden Seiten des Vorbaues standen große Pfeiler, die einen Balkon trugen.
Die Person, welche die Tür geöffnet hatte, trat nicht in Erscheinung. Kane sprang aus dem Wagen und zeigte auf eine halbverfallene Garage am Ende des Fahrwegs.
»Stellen Sie den Wagen dort ein und folgen Sie mir dann ins Haus.«
Cardby tat, was ihm gesagt wurde, dann kam er langsam zurück und betrachtete das Gebäude näher. Es bestand aus zwei Geschossen und war groß und weiträumig. Vor der Haustür lag eine Rasenfläche mit rauhem, struppigem Gras. Auf beiden Seiten standen hohe Buchen, und nach der Straße zu sperrte eine doppelte Reihe von Tannen die Aussicht, die sich schwarz vom hellen Himmel abhoben.
Die Haustür stand noch offen, als Cardby die Stufen hinaufging und in die große Halle trat. Der Boden war blank, und es standen auch keine Möbel in dem Raum. Rechts sah Mick drei Türen, links zwei. Vor ihm lag eine breite Treppe, die nach oben führte.
Er sah sich um, ob er nicht ein Lebenszeichen entdecken könnte. Niemand war in Sicht. Mick steckte sich also eine Zigarette an und begann zu pfeifen. Eine Tür zu seiner Rechten öffnete sich eine Handbreit, und Mick trat ein.
Vier Leute befanden sich in dem Zimmer.
Tommy Kane stand vor dem Büfett und hielt ein Glas Whisky-Soda in der Hand. Mariel oder Eleanora saß in der Nähe des Kamins. Sie trug einen schweren Pelzmantel, und ihr Gesicht war bleich. Ihr gegenüber stand Clancy, und am oberen Ende des großen Eßtisches saß Alibi Delaney.
»Na, da wären wir ja wieder alle beisammen«, meinte Mick und warf die Lederhandschuhe auf die Tischplatte. »Wir sind ja alle gut Freund miteinander. Willkommen zu Hause, Mr. Thomas Kane. Wir freuen uns, daß Sie wieder bei uns in der Familie sind. Aber ich möchte doch wissen, ob Sie allein sich ein Glas Whisky-Soda leisten können?«
Mariel zeigte auf das Büfett, und Mick nahm sich eine Flasche Bier. Es herrschte eine sonderbar gespannte Stimmung in dem Raum.
Clancy füllte für jeden ein Glas, nur nicht für Mick.
»Auf den morgigen Erfolg!« sagte er.
Die fünf hoben ihre Gläser und tranken. Mick wußte nicht, worauf das ging, aber er würde es ja bald erfahren.
»Haben Sie Schwierigkeiten gehabt?« fragte Mariel.
»Nicht die geringsten. Alles ging wie geschmiert.«
»Ja, nicht das mindeste Hindernis«, pflichtete Tommy Kane bei.
Wieder folgte ein unangenehmes Schweigen, und alle fuhren unwillkürlich zusammen, als das Telephon läutete. Mariel erhob sich schnell und ging zu dem Apparat, der auf einem kleinen Tisch am Fenster stand.
»Hallo!« rief sie. »… Ja, selbst am Apparat … ja, er ist hier. – Tommy, kommen Sie her. Es ist der Boß.«
Die unheimliche Spannung löste sich, aber trotzdem sahen sie alle nicht sehr befriedigt aus. Selbst Kane schien plötzlich seine gleichgültige Ruhe verloren zu haben, als er den Hörer aufnahm.
»Hier ist Kane … ja, es ist alles in Ordnung … wollen Sie das … gut, dann werde ich Sie ja sprechen … das ist gut … ja, das ist alles, was ich brauche … was sagten Sie? … Ach, der! … Ja, der ist hier. Möchten Sie ihn sprechen? … Gut … Kommen Sie her und reden Sie mit dem Boß – ich meine Sie, Pete.«
Langsam ging Mick zu dem kleinen Tisch. Er wollte den anderen einmal zeigen, daß er vollkommen gelassen war und sich nicht fürchtete, daß er sich um keinen von ihnen kümmerte, nicht einmal um Maddick. Das würde ihm helfen, wenn er in Schwierigkeiten kam. Die anderen würden sich hüten, ihm zu widersprechen, wenn er sich selbst von Maddick nicht einschüchtern ließ.
»Hier ist Pete«, meldete er sich.
»Gut, mein Junge. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie die Sache fein gemacht haben. Jetzt haben Sie eine gute Zeit vor sich, Borden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Werden Sie bloß nicht ungeduldig. Wenn erst noch der morgige Tag vorüber ist, haben Sie es fein. Das sagte ich Ihnen ja schon vorher. Also, bleiben Sie ruhig dort in dem Haus, bis Sie weiter von mir hören.«
»Aber zum Donnerwetter, das ist recht unangenehm für mich. Nun habe ich doch eben erst diese Sache für Sie durchgeführt. Hier im Hause ist es gerade wie in einer Leichenkammer, und meine Kameraden hier lassen auch alle die Köpfe hängen. Wie wäre es, wenn Sie mir heute abend einmal Urlaub gäben?«
»Damit Sie sich die Hucke vollsaufen, dann mit irgendeiner Karline losziehen und womöglich in Schwierigkeiten kommen? Nein, mein Junge, das gibt es nicht. Bleiben Sie, wo Sie sind.«
»Aber hören Sie doch, Maddick, Sie haben mich nur geliehen, das wissen Sie sehr gut. Ich habe auch noch mitzureden. Ich werde verdreht im Kopf, wenn ich noch länger hier sitzen und warten soll, bis etwas geschieht. Und dann werde ich am Ende nervös, und das hilft Ihnen doch auch nicht.«
»Ich habe Ihnen schon erklärt, daß Sie dort bleiben müssen, Borden. Und was ich sage, das geschieht. Haben Sie das verstanden?«
»Es ist noch ein großer Unterschied zwischen Verstehen und Einverstandensein. Es wäre doch toll, wenn ich hier als Einsiedler den Abend zubringen sollte.«
»Ach so, Sie wollen heute abend mal über die Stränge schlagen? Aber das gibt es nicht! Ich komme heute abend selbst hin, und Sie müssen alle im Hause sein. Wenn einer fehlt, geht es ihm schlecht. Aber ich will Ihnen etwas anderes sagen, um Sie ein wenig aufzuheitern, Borden. Ich bringe jemand mit, der Ihnen Gesellschaft leisten kann. Also, machen Sie kein trauriges Gesicht, mein Junge. Wenn Sie Ihren neuen Spielkameraden erst sehen, werden Sie froh sein, daß Sie dort geblieben sind. Sollten Sie aber trotzdem fortgehen, so ist Schluß mit Ihnen, wenn ich Sie finde. Ungefähr um sieben Uhr bin ich dort. Und trinken Sie nicht zuviel. Sie müssen morgen auf dem Posten sein.«
Mick wartete, bis er hörte, daß Maddick eingehängt hatte, dann sagte er ärgerlich:
»Das ist ja alles gut und schön, Maddick, und im Augenblick will ich schließlich tun, was Sie sagen. Aber Sie müssen nicht glauben, daß ich an Ihren Rockschößen hänge.«
Er legte den Hörer auf die Gabel, dann wandte er sich nach den anderen um. Sie waren alle starr, selbst Mariel staunte ihn an.
»Das geht ja wirklich über die Hutschnur«, rief Clancy. »Ich hätte niemals gedacht, daß jemand dem Boß derartig widerspricht.«
»Zum Teufel auch«, erwiderte Mick, »wenn Sie statt der erbärmlichen Imitation eines Mannes ein richtiger Kerl wären, würden Sie ihm gelegentlich auch einmal die Meinung sagen, statt immer nur Ja zu flöten!«
»Vielleicht haben wir mehr Verstand als Sie«, meinte Delaney.
»Oder weniger Mut«, entgegnete Dick. Er war nicht ärgerlich auf die anderen, aber er wollte ihnen doch zeigen, daß sie nichts zu sagen hatten.
Alibi erhob sich und kam näher. Seine mächtigen Arme hingen zu beiden Seiten herunter. Er hatte sich vorgeneigt und balancierte auf den Fußballen. Mick hatte diese Haltung zu oft gesehen, als daß er nicht wußte, was sie bedeutete. Fragend sah er Delaney an, während er die Zigarette noch im Munde hatte.
»Wollen Sie mir damit etwa sagen, daß ich keinen Mut habe?«
Alibi hatte nicht allzu laut gesprochen.
Mick stemmte eine Hand auf die Hüfte, mit der anderen stützte er sich auf die Tischkante. Die beiden schauten sich scharf an.
»Das gerade nicht, Delaney. Ich wollte nur feststellen, daß Sie sich nicht dauernd unter die Füße treten lassen würden, wenn Sie ein bißchen Verstand und Selbstachtung hätten.«
Alibi holte in weitem Bogen mit der rechten Faust aus, dann schob er die Schulter vor, um dem Stoß Nachdruck zu geben. Cardby bog nur leicht den Kopf zur Seite. Es schien eine langsame Bewegung zu sein, aber sie war doch schnell genug, so daß die knochige Faust dicht an seinem Gesicht vorbeischoß. Dann stieß er mit der eigenen Faust von unten nach oben. Delaney merkte es zu spät und wurde mit voller Wucht unter das Kinn getroffen. Es wurde ihm rot vor den Augen, dann sah er sprühende Sterne und verlor die Besinnung.
Die anderen hatten sich währenddessen nicht gerührt. Mick hielt die Knöchel seiner Hand gegen den Mund, dann trat er vor und hob Delaney auf, der mit dem Kopf gegen die Scheuerleiste gefallen war. Er trug ihn zu einem Sessel, setzte ihn hinein, dann goß er etwas Sodawasser über seine Hände und rieb ihm damit das Gesicht. Alibis Augen blinzelten, und ein Zittern lief durch seinen Körper.
»Tut mir leid, daß ich Sie getroffen habe«, sagte Mick, »Aber ich dachte nicht, daß Sie so leicht aus der Haut fahren würden. Fühlen Sie sich jetzt besser?«
Delaney richtete sich auf und starrte ihn an.
»Den Kinnhaken werde ich Ihnen ankreiden! Sie sollen noch traurig sein, daß Sie Fäuste haben.«
»Nun, darauf kann ich ja warten. Wir wollen uns nicht länger zanken und über vernünftige Dinge reden. Haben Sie etwas zu essen im Hause, oder gibt es hier nur alte Möbel?«
»Wenn Sie etwas haben wollen, dann müssen Sie es sich holen«, sagte Clancy.
»Na, Sie sind gerade nicht sehr entgegenkommend«, erwiderte Mick, leerte sein Glas Bier und verließ das Zimmer.
»Ich dachte immer, Sie wären so ein starker Athlet, Delaney«, sagte Tommy Kane ironisch.
»Ich wußte nicht, daß er mir so unversehens eins auswischen würde.«
»Warum denn nicht? Sie haben doch zuerst zugestoßen. Er wußte jedenfalls ganz genau, was Sie wollten. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich den Jungen in Ruhe lassen. Der ist zu gerissen für Sie. Sie sollten sich auch noch etwas anderes überlegen. Pete ist bei Maddick sehr gut angeschrieben. Sie könnten sich eine schöne Suppe einbrocken, wenn Sie sich mit dem verkrachen.«
Cardby hatte inzwischen den Eingang zu den Räumen der Dienstboten gefunden und ging von einem Zimmer zum anderen. Das Haus mußte lange leergestanden haben. Vergeblich sah er sich in der Küche nach der Speisekammer um. Er bemerkte aber in einer Ecke eine Tür, die verriegelt war. Daneben lag auf einem Wandbrett eine starke elektrische Lampe. Neugierig zog er den Riegel zurück und öffnete die Tür. Eine Flucht von Stufen lag vor ihm, aber er konnte nur die obersten sehen, die anderen verschwanden in der Dunkelheit.
Mick nahm die Lampe, schaltete sie ein und machte sich auf den Weg. Er wollte einmal nachsehen, was er dort unten finden würde. Wenn sie ihn dabei überraschten, konnte er ja sagen, daß er ebenso gut im Hause umhergehen könne wie die anderen auch.
Zu beiden Seiten der Stufen sah er weißgeputzte Wände. In den Ecken hingen Spinnweben. Nach kurzer Zeit machte die Treppe eine Biegung nach links und endete in einem langen Gang. Cardby leuchtete die Wände ab. Er bemerkte vier Türen, zwei an jeder Seite. Die beiden, die ihm am nächsten waren, standen offen. Er schaute hinein, aber die großen Kellerräume waren leer.
Die eine Tür zur Rechten war zugeklinkt, aber nicht verschlossen, und Cardby öffnete sie. Auch diesen Raum fand er leer, nur ein paar Ratten sprangen zur Seite, als der Schein der Lampe auf Wände und Decke fiel. Nirgends war ein Fenster angebracht, es war auch keine Lüftung vorhanden. Der Boden war schimmlig und feucht, die Luft dumpf und stickig.
Mick ging über den schmalen Gang und stand nun vor der vierten Tür. Ein großer Schlüssel steckte im Schloß.
Nur mit Mühe konnte Cardby ihn umdrehen. Das Schloß war alt und wahrscheinlich durch die Feuchtigkeit verrostet. Er leuchtete nach innen, sah aber nichts. Dies schien der kleinste Raum von allen zu sein. Er wollte schon wieder fortgehen, als er ein Geräusch hörte. Rasch zog er die Pistole aus der Tasche und trat durch die Tür. Dann leuchtete er den Boden noch einmal langsam ab, und plötzlich hielt er inne, als er in dem gelben Lichtkegel etwas entdeckte.
Als er nähertrat, hörte er ein Stöhnen, und nun sah er, daß ein Mann auf den Steinfliesen lag! Mick beugte sich nieder und berührte ihn an der Schulter. Der andere bewegte sich und stöhnte aufs neue. Mick leuchtete ihm ins Gesicht und fuhr schaudernd zusammen. Das Haar war lang und feucht und fiel in Strähnen über die Stirn, das Gesicht hatte eine gespenstische Blässe, und die Wangen waren eingesunken. Einmal öffnete der Mann die Augen, und in seinem Blick zeigte sich Schrecken und Entsetzen. Eine schwarze Stelle über dem rechten Auge mußte von einem Schlag herrühren.
Als Mick die Gestalt weiter ableuchtete, sah er, daß der Mann mit Handschellen gefesselt war. Diese waren an einer Kette befestigt, und die Kette hing von einem Ring an der Wand herab. Ebenso waren die Beine gefesselt.
»Wer sind Sie?« fragte Mick und schüttelte ihn leicht an der Schulter.
Der Gefangene blinzelte.
»Wer sind Sie, und wie heißen Sie?« drängte Mick.
Der andere konnte nur leise sprechen, und seine Stimme zitterte. Er war so erschöpft, daß selbst wenige Worte ihm große Mühe machten.
»Ich – ich bin – Caudry – Detektiv von Scotland Yard.«
Mick wurde von einem Schauder gepackt, und Tränen traten in seine Augen, als er dem Gefangenen auf die Schulter klopfte.