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I.
Eiliger Besuch

Die bleiche Sonne kämpfte gegen graue Wolkenmassen an, als gegen halb elf Uhr die Old Bond Street in London allmählich erwachte.

Zwei junge Leute saßen in einem eleganten Luxuswagen, der an einer Ecke des Berkeley Square hielt. Der Mann am Steuer warf das Ende seiner Zigarette aus dem Fenster und sah kurz auf seine goldene Armbanduhr, dann berührte er den Schalthebel, während er zu gleicher Zeit mit der Linken auf den Anlasser drückte.

»Wir wollen losfahren«, sagte er zu seinem Begleiter.

»Ist mir recht. Geben Sie nur Gas. Viel Glück.«

Leise surrend glitt der Wagen auf die Fahrbahn, und der Mann am Steuer drehte das Rad nach rechts. Langsam ging es die Bruton Street hinunter, an deren Ende sie zwei bis drei Minuten warten mußten, bevor sie in die Old Bond Street einbiegen konnten. Etwa hundert Meter weiter die Straße entlang hielt der Wagen vor einem kleinen Laden mit vergitterten Fenstern. Über dem Schaufenster stand in goldenen Buchstaben: »Gebrüder Curtis, Juweliere.«

Der Fahrer schätzte den Abstand zwischen seinem Auto und dem anderen, das vor ihm stand, dann warf er einen Blick nach rückwärts, um die Straße zu übersehen.

»Alles klar. Beeilen Sie sich.«

»Es dauert höchstens zwei Minuten.«

Als die Ladentür sich öffnete, schaute Mr. Nicholas Proddy auf und lächelte. Das Geschäft ging in der letzten Zeit nicht gerade glänzend, und ein früher Kunde war daher willkommen. Mit scharfem, fachmännischen Blick musterte er den Mann, der auf ihn zukam. Der Fremde mochte vierundzwanzig sein. Wahrscheinlich wollte er einen Verlobungsring kaufen. Er trug einen blauen tadellos sitzenden Anzug aus bestem Stoff. Kostete mindestens fünfzehn bis achtzehn Pfund. Das weiße Hemd und der Kragen waren aus Seide, der Filzhut hatte die neueste Form. Proddy stellte Vermutungen an. Vielleicht legte dieser Kunde zwei- bis dreihundert Pfund für das gewünschte Schmuckstück an. Und man würde schon dafür sorgen, daß der Mann auch das erhielt, was er suchte. Das gehörte ja zum Geschäft.

»Guten Morgen, mein Herr«, sagte Proddy mit wohlwollendem Lächeln.

»Guten Morgen«, wiederholte der junge Mann. Die Stimme klang kultiviert, der Ton entschieden. »Sie haben einen Diamantanhänger im Fenster. Könnte ich den einmal sehen?«

»Das Stück ist mit vierzehntausend Pfund ausgezeichnet.«

»Allerdings etwas hoch. Aber ich kann meiner Braut dann wenigstens sagen, daß ich es mir angesehen, wenn auch nicht gekauft habe. Nehmen Sie es doch einmal für mich heraus.«

Proddy ging langsam zum Fenster, zog die schweren Gitter zurück und reichte nach dem schwarzen Samtkissen. Aber als er sich dann wieder zum Ladentisch wandte, hätte er den Schmuck beinahe fallen lassen. Sein Kinn sank herab, seine Knie zitterten. Der vermeintliche Kunde hielt plötzlich einen Revolver in der Hand, dessen Mündung direkt auf Proddys Herz zeigte. Einen kurzen Augenblick starrten sich die beiden Männer an, dann trat der Fremde mit ein paar schnellen Schritten näher. Mit der Linken riß er das glitzernde Schmuckstück von dem Samtpolster. Proddy brachte vor Schrecken und Bestürzung kein Wort hervor.

»Wenn Sie schreien oder sich rühren, jage ich Ihnen eine blaue Bohne zwischen die Rippen. Und warten Sie eine Minute, nachdem ich den Laden verlassen habe. Wenn Sie vorher hinausgehen, knallt mein Freund auf der Straße Sie nieder. Nach dieser Minute können Sie machen, was Sie wollen. Aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, halten Sie sich an das, was ich Ihnen eben gesagt habe. Guten Morgen.«

Der junge Mann ließ den Anhänger in die linke Tasche gleiten und steckte den Revolver in die rechte, behielt aber den Finger am Abzug. Verzweifelt starrte Mr. Proddy auf die bauschige Ausbuchtung des Rockes, während der Verbrecher vorsichtig rückwärts zur Tür ging und die linke Hand auf die Klinke legte.

»Wenn Sie mir folgen«, warnte er den anderen zum letztenmal, »sind Sie ein toter Mann! Mein Freund fehlt niemals.«

Die Tür schloß sich. Im nächsten Augenblick drückte Proddy auf die Klingel unter dem Ladentisch, worauf sofort ein Verkäufer in den Laden stürzte. Dann sprang er ans Telephon, ließ sich mit Scotland Yard verbinden und berichtete von dem frechen Überfall. Das war der vierte tollkühne Raub, der in einer Woche in West End begangen worden war. Während der Verkäufer aus dem Laden eilte, um die Verbrecher zu verfolgen, gab Proddy dem Beamten am Telephon eine Beschreibung des Mannes und des gestohlenen Schmuckstücks. Ein paar Sekunden später wurde diese Nachricht auf drahtlosem Wege allen Wagen des Überfallkommandos mitgeteilt, die in der weitausgedehnten Hauptstadt auf Patrouillenfahrt waren.

In dem Augenblick, als der Bandit die Ladentür hinter sich schloß, glitt der Wagen von der Bordschwelle fort, und als dieser an dem anderen Auto vorbeifuhr, kletterte der Räuber durch die offene Tür auf seinen Sitz.

»Alles in Ordnung, Kelly«, sagte er. »Nun los! Ich habe die Brillanten.«

Bevor der Verkäufer auf dem Gehsteig erschien, war der Wagen bereits in der Grafton Street verschwunden. Dort trat der Fahrer auf den Gashebel, und als er in scharfer Kurve in die Albemarle Street fuhr, rutschten die Räder zur Seite. Kurz darauf bog der große Wagen in die Dover Street ein. Obwohl seit dem Überfall kaum eine Minute vergangen war, hatte der junge Mann sich bereits weiter betätigt. Aus der Tasche an der Wagentür nahm er einen großen Briefumschlag, der innen mit Leinen gefüttert war. Die Adresse lautete: »Ernest Reames bei F. W. Jackson, 434 Stanhope Street, London N.« Erst steckte er das Schmuckstück in ein kleines Kuvert und schob es dann in das größere. Das Auto fuhr langsamer, der Mann sprang heraus, schlenderte anscheinend gleichgültig zum nächsten Postkasten und warf den Brief ein. Dann kehrte er ebenso gelassen zurück. Wieder drehte der Fahrer das Steuerrad und bog in die Berkeley Street ein. Dort bremste er, brachte den Wagen zum Stehen und verließ ihn mit seinem Begleiter.

Ein paar Schritte von Piccadilly entfernt stand ein zweisitziger Sportwagen. Sie stiegen ein, und der eine ließ den Motor an. Als sie durch die bekannte Straße fuhren, hörten sie in der Ferne den scharfen Ton einer Glocke. Das Überfallkommando war bereits in der Old Bond Street!

Die beiden rauchten und unterhielten sich gleichgültig, während sie in dem endlosen Verkehrsstrom weiterfuhren. An der Stelle, wo die Albemarle Street und die St. James Street sich gegenüberliegen, wurde der Verkehr plötzlich angehalten. In der Ferne klang die Alarmglocke, und sofort stoppte ein Polizist die Wagen. Ein geschlossenes Auto, das in leuchtendblauer Schrift die Buchstaben »M. P. (Londoner Polizei) trug, streifte beinahe die Bordschwelle, als es mit rücksichtsloser Geschwindigkeit aus der King Street raste. Im nächsten Augenblick hatte es Piccadilly überquert und war auf dem Weg nach der Old Bond Street.

In der vordersten Reihe der haltenden Autos saßen die beiden Männer in ihrem Sportwagen. Ein paar Meter entfernt waren die Leute des Überfallkommandos an ihnen vorübergefahren! Als der Polizeiwagen um die Ecke der Albemarle Street verschwand und der Verkehrspolizist das Zeichen zur Weiterfahrt gab, grinsten die beiden sich an.

Auf dem Piccadilly-Platz ließen sie den Wagen vor dem Corner House stehen, gingen durch die Schwingtüren, sahen sich die ausgestellten Anzüge kurze Zeit an und verließen das Geschäft dann auf der anderen Seite, ohne etwas zu kaufen. In der Great Windmill Street winkten sie einem Taxi.

»Charing Cross«, sagte Kelly kurz.

»Südbahn oder Untergrund?« fragte der Chauffeur.

»Südbahn.«

Nachdem sie schnell noch ein Glas an dem Verkaufsstand auf dem Bahnsteig getrunken hatten, verließen sie den Bahnhof und nahmen einen Autobus nach Osten. Kelly kaufte sich einen Fahrschein nach Aldgate, der andere gab dem Schaffner einen Penny für die Kurzstrecke nach Ludgate Circus. Ohne ein Wort und ohne einen Händedruck trennten sie sich.

Es bestanden keine freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen, denn sie hatten sich vor diesem Morgen noch nie getroffen. Keiner kannte den Namen des anderen. Sie hatten nur wie Automaten gehandelt und ihre Anweisungen bis auf den letzten Buchstaben genau ausgeführt. Und keiner von beiden wußte, von wem diese Anweisungen stammten!

Der eine trug eine maschinengeschriebene Mitteilung in der Tasche. Sie war mit »Maddick« unterzeichnet und durch einen Boten in seiner Wohnung abgegeben worden. Der Inhalt lautete:

»An der Kreuzung der Saville Row und der Burlington Street finden Sie morgen vormittag um zehn eine Delage-Limousine. Fahren Sie damit nach dem Berkeley Square. Dort werden Sie einen blonden jungen Mann in blauem Anzug treffen. Nennen Sie ihn Mullens. Er wird Sie mit Kelly anreden. Bringen Sie ihn nach dem Juwelengeschäft von Gebrüder Curtis in der Old Bond Street. Warten Sie vor dem Laden auf ihn. Nachher fahren Sie die Grafton Street hinunter, biegen in die Albemarle Street ein, darauf weiter durch die Dover Street. Warten Sie dort, während Mullens einen Brief in den Kasten wirft. Nachher fahren Sie in die Berkeley Street. Dort finden Sie, ein paar Schritte von Piccadilly entfernt, einen zweisitzigen Sportwagen. Lassen Sie den Delage stehen und fahren Sie mit dem Zweisitzer Piccadilly hinunter. Verlassen Sie ihn vor dem Corner House am Piccadilly Platz. Nehmen Sie ein Taxi nach dem Bahnhof Charing Cross, später steigen Sie auf einen Autobus nach Osten und lösen einen Fahrschein nach Aldgate. Mullens wird sich am Ludgate Circus von Ihnen trennen. Sobald Sie den Auftrag erledigt haben, vernichten Sie diese Mitteilung. Sprechen Sie unter keinen Umständen mit Mullens darüber. Er hat seine eigenen Anweisungen.«

Das stimmte auch. Und sie waren ebenso kurz und treffend:

»Morgen, um 10 Uhr 15, müssen Sie am Berkeley Square sein. Dort treffen Sie einen kleinen dunklen Mann, der am Steuer eines Delage-Wagens sitzt. Er heißt Kelly und wird Sie zu einem Juweliergeschäft fahren. Bitten Sie den Mann im Laden, daß er Ihnen den Diamantanhänger zeigt, der im Schaufenster liegt. Ziehen Sie einen Revolver und halten Sie ihn damit in Schach. Nehmen Sie den Anhänger und kehren Sie zu dem Wagen zurück. Das Schmuckstück stecken Sie in die beigefügten Umschläge und werfen es in den Briefkasten in der Dover Street. Kelly hat weitere Anweisungen über den Weg, den Sie danach zurücklegen, bis Sie nach Ludgate Circus kommen. Dort verlassen Sie ihn. Sprechen Sie mit ihm nicht über Dinge, die ihn nichts angehen.«

Noch zwei andere Leute hatten sich an dem Raub beteiligt, ohne es zu wissen. Der eine trank ein Glas Bier in einer Kneipe in der Villiers Street, als sich die beiden am Ludgate Circus trennten. Er war fünfzig Meter von ihnen entfernt gewesen. Am vergangenen Tag hatte er eine Aufforderung erhalten.

»Vor dem Hause von Sir Ernest Whiteman in der Curzon Street Nr. 23 a finden Sie einen Delage-Wagen. Bringen Sie den zur Kreuzung der Saville Row und der Burlington Street. Dort lassen Sie ihn stehen. Morgen vormittag fünf Minuten vor zehn müssen Sie an der Stelle ankommen. Machen Sie keinen Fehler. Maddick.«

Der andere Mann las eine Rennzeitung in einer Straße hinter dem Euston-Bahnhof. Auch er hatte seine einfache Anweisung ausgeführt:

»Vor dem Hause Lincoln's Inn Fields Nr. 361 finden Sie einen zweisitzigen Sportwagen. Fahren Sie ihn nach der Berkeley Street und lassen Sie ihn dort an der linken Straßenseite ein paar Schritte von Piccadilly entfernt stehen. Um zehn Uhr zwanzig muß das Auto dort sein. Machen Sie keinen Fehler. Maddick.«

Zwei Tage später öffneten die vier verschiedenen Leute ihre Morgenpost und lächelten. Zwei erhielten je einen gelbbraunen Briefumschlag. Mitteilungen befanden sich nicht darin, nur dreißig Pfund in einzelnen Banknoten. Die beiden Männer hielten das für eine glänzende Bezahlung. Hatten sie doch nur für ein paar Minuten einen Wagen »geliehen«! Auch Mullins und Kelly waren zufrieden. Der Postbote brachte jedem ein kleines Paket. Mullens erhielt zweihundertfünfzig Pfund in Einpfundnoten, und Kelly rieb sich die Hände, als er seine Prämie von zweihundert Pfund nachzählte.

Wer Maddick auch sein mochte, er zahlte pünktlich und gut!


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