Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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Sechstes Buch.

1. Unparteiischer Blick auf den alten Richterstand.

Eine vom Glücke sehr begünstigte Person war im Jahre der Gnade 1482 der Edelmann Robert von Estouteville, Ritter, Herr auf Beyne, Baron von Ivry und Saint-Andry in der Marche, Rath und Kammerherr des Königs und Vorsteher des Gerichtsamtes von Paris. Vor schon fast siebzehn Jahren, am 7. November 1465, im Kometenjahre,Dieser Komet, gegen welchen Papst Calixt, ein Onkel Borgia's, öffentliche Gebete anordnete, ist der nämliche, welcher im Jahre 1835 wieder erschien. Anm. d. Verf. hatte er vom Könige diese schöne Stellung im Gerichtsamte von Paris erlangt, die eher für eine Lehnsherrlichkeit, als für ein Amt gehalten wurde. »Dignitas« sagt Johannes Loemnoeus, »quae cum non exigua potestate politiam concernente, atque praerogativis multis et juribus conjuncta est.«Lateinisch: Eine Würde, die mit nicht geringer, die Sicherheit betreffender Macht und mit vielen Vorrechten und Rechten ausgestattet ist. Anm. d. Uebers. Wunderbar war es, daß im Jahre 1482 ein Edelmann ein Amt des Königs innehatte, über welches die Bestallungsurkunde bis zur Zeit der Verheirathung der natürlichen Tochter Ludwigs des Elften mit dem Herrn Bastard von Bourbon zurückdatirte. Am selben Tage, an welchem Robert von Estouteville den Jacob von Villiers beim Gerichtsamte von Paris ersetzt hatte, trat Johann Dauvet für den gestrengen Herrn Hélye von Thorlettes in das Amt des Oberpräsidenten beim Parlamentsgerichtshofe ein, verdrängte Johann Jouvenel-des-Ursins den Peter von Morvilliers aus dem Kanzleramte von Frankreich, entfernte Regnault-des-Dormans den Peter Puy aus seinem Amte als Chef der Bittschriftenkanzlei im königlichen Palaste. Nun! über wie viele Häupter waren das Präsidentenamt, die Kanzlerwürde und der Requêtenmeisterposten hinweggegangen, seitdem Robert von Estouteville seine Pariser Gerichtsamtswürde innehatte! Sie war ihm »in Obhut gegeben worden«, wie der Bestallungsbrief besagte; und gewiß, er nahm sie in gute Obhut. Er hatte sich an sie geklammert, war mit ihr verkörpert, war so vollkommen mit ihr eins geworden, daß er jener Veränderungswuth entgangen war, die Ludwig der Elfte, der mißtrauische, geizige, arbeitsame König besaß, welcher durch häufige Anstellungen und Abberufungen die Willkür seiner Macht dauernd zu erhalten bedacht war. Noch mehr: der tapfere Ritter hatte für seinen Sohn die Anwartschaft auf sein Amt erhalten, und schon seit zwei Jahren prangte der Name des edeln Herrn Jacob von Estouteville, des Junkers, neben dem seinigen am Kopfe des Civilregisters des Pariser Gerichtsamtes. Gewiß eine seltene und ungewöhnliche Gunst! Wahr ist, daß Robert von Estouteville ein guter Soldat war, daß er königlich gesinnt das Banner gegen »die Liga des Volkswohles«Die sogenannte »Liga des Volkswohles« wurde im Jahre 1465 von französischen Fürsten und Herren gegen Ludwig den Elften gestiftet. Anm. d. Uebers. erhoben, und der Königin am Tage ihres Einzuges in Paris im Jahre 14.. einen höchst wundervollen Hirsch aus Confect überreicht hatte. Ferner stand er mit Herrn Tristan l'Hermite, dem Obersten der Wache des königlichen Schlosses auf einem freundschaftlichen Fuße. Es war also eine recht angenehme und bequeme Stellung – diejenige des gestrengen Herrn Robert. Einmal hatte er sehr gute Besoldung, mit der, wie Trauben extra in seinem Weinberge, die Sporteln der Civil- und Criminalkanzleien des Gerichtsamtes, ferner die Sporteln der Civil- und Criminalkammern von Embas-du-Châtelet verbunden waren und von ihr abhingen, manchen kleinen Zoll von den Brücken zu Mantes und zu Corbeil, und die Einnahmen aus der Abgabe auf die Pariser Samenhändler, auf die Holz- und Salzmesser gar nicht zu rechnen. Dazu denke man sich das Vergnügen, bei Amtsritten durch die Stadt sich zu zeigen, und über die halb rothen, halb lohfarbenen Röcke der Schöffen und Viertelsmeister sein schönes Kriegsgewand hinleuchten zu lassen, das man heute noch in Stein gemeißelt auf seinem Grabmale in der Abtei Valmont in der Normandie, wie seine Pickelhaube in ganz getriebener Arbeit zu Montlhéry bewundern kann. Und dann, war es etwa nichts, über etwa ein Dutzend Gerichtsdiener, über den Schloßvogt und Commandanten vom Châtelet, über die zwei Gerichtsbeisitzer des Châtelet (auditores Castelleti), über die sechzehn Polizeicommissäre der sechzehn Quartiere, den Kerkermeister des Châtelet, die vier Lehnspolizeidiener, über die hundertundzwanzig berittenen und die hundertundzwanzig stocktragenden Gerichtsdiener, über den Commandanten der Scharwache mit seiner Wachrunde, seiner Unterwache, seiner Gegen- und Nachrunde jede Gewalt zu besitzen? War es nichts, höhere und niedere Gerichtsbarkeit auszuüben, war es nichts, daß er die Macht besaß, Pranger stehen, hängen und schleifen zu lassen, ganz zu geschweigen von der niedern Rechtspflege in erster Instanz (in prima instancia, wie die Urkunden sagen) über den ganzen Amtsgerichtsbezirk von Paris, der so würdig mit dem Einkommen von sieben adligen Bailliagen ausgestattet war? Kann man sich wohl etwas Angenehmeres denken, als Haftsbefehle und Urtheile zu erlassen, wie der gestrenge Herr Robert von Estouteville in Groß-Châtelet unter dem weiten und flachen Gewölbebaue Philipp Augusts alle Tage that? Und, wie er gewohnheitsgemäß jeden Abend pflegte, in jenes hübsche Haus in der Rue Galilée, im Bezirke des Königspalastes, heimzukehren, welches er als Ehegespons seiner Gemahlin, der Frau Ambroise von Loré, besaß, und von der Anstrengung auszuruhen, irgend einen armen Teufel seinerseits die Nacht »in jenem kleinen Zellchen der Rue-de-l'Escorcherie zubringen zu lassen, in welcher die Richter und Schöffen von Paris ihr Gefängnis herrichten wollten; welches besagte Zellchen elf Fuß in der Länge, sieben Fuß und vier Zoll in der Breite und elf Fuß in der Höhe maß?«Rechnungsbücher der Krone 1383. Anm. d. Autors.

Und nicht nur besaß der gestrenge Herr Robert von Estouteville seine eigene Justizpflege als Amtsrichter und Gerichtsverwalter von Paris, sondern er hatte auch Sitz und Gewalt über Tod und Leben im hohen Gerichtshofe des Königs. Es gab kein irgendwie stolzes Haupt, das ihm nicht durch die Hände gegangen wäre, ehe es dem Henker zufiel. Er war es gewesen, der den Herrn von Nemours aus der Bastille Saint-Antoine abholte, um ihn nach den Hallen zu geleiten; der den Herrn von Saint-Pol nach dem Grèveplatz brachte, welcher heulte und schrie zur großen Freude des Herrn Oberrichters, der dem Herrn Connetable nicht gewogen war.

Das alles betrachtet, fürwahr, was bedurfte es mehr, um ein glückliches und glänzendes Leben zu führen, und um eines Tages eine bemerkenswerthe Stelle in jener interessanten Geschichte der Oberrichter von Paris einzunehmen, aus der man erfährt, daß Oudard von Villeneuve ein Haus in der Rue-des-Boucheries besaß, daß Wilhelm von Hangest das große und kleine Savoyerhaus kaufte, daß Wilhelm Thiboust den Nonnen der heiligen Genoveva seine Häuser in der Rue Clopin schenkte, daß Hugo Aubriot im Palaste von Porc-Epic wohnte, und andere Familienverhältnisse mehr?

Gleichwohl, und bei so viel Veranlassungen, sein Leben in Ruhe und Freude zu genießen, war der gestrenge Herr Robert von Estouteville am Morgen des 7. Januar 1482 sehr mürrisch und mit einem wahren Teufelshumor erwacht. Woher kam diese Stimmung? Das hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht deshalb, weil der Himmel trübe war? Weil die Schnalle seines alten Degenkoppels (wie in Montlhéry zu sehen) schlecht geschnallt war und seien Oberrichterbauch zu soldatisch zusammenschnürte? Weil er auf der Straße unter seinem Fenster liederliche Gesellen, die ihn verhöhnten, vier Mann hoch, im Wamms ohne Hemde, in ganz zerrissenen Hüten, mit Quersack und Flasche an der Seite hatte vorübergehen sehen? War es das dunkle Vorgefühl vom Verluste der dreihundertundsiebzig Livres sechzehn Sols und acht Heller, um welche der künftige König Karl der Achte im nächsten Jahre die Einnahmen des Oberrichteramtes beschneiden sollte?

Der Leser hat die Wahl; was uns anbelangt, so möchten wir uns ganz einfach zu dem Glauben bekennen, daß er schlechte Laune hatte, eben weil er schlechte Laune hatte.

Uebrigens war es der Tag nach einem Feste, ein Tag voll Langeweile für jedermann, und namentlich für die Behörde, deren Aufgabe es im eigentlichen wie bildlichen Sinne war, alle den Schmutz bei Seite zu schaffen, den ein Fest in Paris verursacht. Und dann sollte er in Groß-Châtelet Sitzung abhalten. Nun hat man bemerkt, daß die Richter sich gewöhnlich so einrichten, daß ihr Sitzungstag auch der Tag ihrer schlechten Laune ist, damit sie immer jemanden haben, an welchem sie diese mit aller Bequemlichkeit im Namen des Königs, des Gesetzes und der Gerechtigkeit ausüben können.

Indessen hatte die Sitzung ohne ihn begonnen. Seine Beisitzer für Civil-, Straf- und Privatstreitfälle versahen, dem Gebrauche gemäß, sein Amt; und von acht Uhr des Morgens an wohnten etliche Dutzend Bürger und Bürgerinnen, die in einem dunkeln Winkel des Gerichtssaales im Erdgeschosse Châtelet zwischen einer starken eichenen Schranke und der Mauer zusammengedrängt und eingepfercht standen, mit Genugthuung dem wechselnden und unterhaltenden Schauspiele der Civil- und Criminalrechtspflege bei, welche von Meister Florian Barbedienne, dem Untersuchungsrichter im Châtelet und Beisitzer des Herrn Oberrichters, ein wenig bunt durch einander und ganz aufs Gerathewohl abgehalten wurde.

Der Saal war klein, niedrig und gewölbt. Im Hintergrunde befand sich ein mit LilienAnspielung auf das Wappen der ehemaligen französischen Könige, welches Lilien im Schilde hatte. Anm. d. Uebers. geschmückter Tisch, nebst einem großen hölzernen Lehnstuhle aus geschnitztem Eichenholze, der leer war und dem Oberrichter gehörte, zur Linken ein Schemel für den Untersuchungsrichter Meister Florian. Untenan befand sich der Gerichtsschreiber, welcher schrieb. Gegenüber aber stand das Volk; und vor der Thüre, und vor dem Tische eine große Zahl Gerichtsdiener des Obergerichtsamtes, in Röcken aus violettem Wollenstoffe mit weißen Kreuzen. Zwei Diener des Rathszimmers für die Bürgerschaft, in ihre Jacken des Allerheiligenfestes, halb roth und halb blau gekleidet, hielten Wache vor einer niedrigen verschlossenen Thüre, die man hinter dem Tische in der Wand bemerkte. Ein einziges Spitzbogenfenster, das schmal in die dicke Mauer eingezwängt war, beleuchtete mit dem bleichen Scheine eines Januartages zwei wunderliche Gestalten: den phantastischen Teufel aus Stein, der als Deckenzierat in den Schlußstein des Gewölbes gemeißelt war, und den Richter, der im Hintergrunde des Saales bei den Lilien saß.

In Wirklichkeit denke man sich am Oberrichtertische, zwischen zwei Aktenstößen, Meister Florian Barbedienne, den Untersuchungsrichter im Châtelet, auf seine Ellbogen gestützt, den Fuß auf der Schleppe seines Kleides aus glattem, braunen Stoffe ruhend, in der Schaube aus weißem Lämmerfelle das rothe widerwärtige Gesicht, dessen Brauen ausgerissen schienen, wie er mit dem Auge zwinkert und würdevoll seine fetten Backen herauspreßt, die sich unter dem Kinne zusammenwulsteten.

Nun war der Untersuchungsrichter aber taub, – ein unbedeutender Fehler für einen Untersuchungsrichter. Meister Florian fällte deswegen nichts desto weniger seine Urtheile sehr angemessen und in letzter Instanz. Sicherlich genügt es, wenn ein Richter Miene macht, die Parteien anzuhören; und der ehrenwerthe Untersuchungsrichter erfüllte diese Bedingung, die einzige wesentliche bei einer guten Justizpflege um so besser, als seine Aufmerksamkeit von keiner Störung abgelenkt werden konnte.

Uebrigens hatte er im Gerichtssaale einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Bewegungen in der Person unseres Freundes Johann Frollo du Moulin, jenes kleinen Studenten von gestern, jenes »Herumstreichers«, den man sicher war, immer und überall in Paris zu treffen, nur nicht vor dem Katheder der Professoren.

»Halt,« sagte er ganz leise zu seinem Kameraden Robin Poussepain, der neben ihm kicherte, während daß er allerlei Glossen zu den Scenen machte, die sich unter ihren Augen abspielten, »da ist ja Hannchen du Buisson, die Tochter des Tagediebes auf dem Marché-Neuf! – Bei meiner Seele, er verurtheilt sie, der Alte! Er hat also ebenso wenig Augen, als Ohren. Fünfzehn Sols vier Deniers Pariser Münze dafür, daß sie zwei Gebetsrosenkränze getragen hat! Das ist ein wenig theuer. Lex duri carminisLateinisch: Ein Gesetz von hartem Inhalte. – Wer ist das da? Robin Chief de Ville, der Panzerlehnträger! – Damit er Meister geworden und als solcher in genanntes Handwerk aufgenommen worden ist? – Das ist sein Antrittsgeld. – Ei! zwei Edelleute unter diesen Schuften! Aiglet von Soins, Hutin von Mailly. Zwei Junker, corpus Christi!Lateinisch: Beim Leibe Christi. Aha! sie haben Würfel gespielt. Wann werde ich hier einmal unsern Rector sehen? Hundert Livres Pariser Münze als Buße an den König! Der Barbedienne schlägt drauf los wie ein Tauber – was er auch ist! – Ich will mein Bruder, der Archidiaconus, sein, wenn mich das irgendwie zu spielen hindert, zu spielen am Tage, zu spielen des Nachts, für das Spiel zu leben, für das Spiel zu sterben und meine Seele nach meinem Hemde zu verspielen! – Heilige Jungfrau, wie viel Mädchen sind das! Eine nach der andern, meine Schäfchen! Ambroise Lécuyère! Isabeau La Paynette! Bérarde Gironin! Ich kenne sie alle, bei Gott! Zur Geldstrafe verurtheilt! Zur Geldbuße! Da ist er, der euch lehren wird, vergoldete Gürtel zu tragen! Zehn Sols Pariser Münze, ihr Gefallsüchtigen! – Oh! die alte Fratze von Richter, taub und dumm! Oh! der Tölpel Florian! Oh! der Klotz Barbedienne! Seht ihn nur am Tische! Er zehrt vom Kläger, er zehrt vom Processe, er zehrt, er kaut, er mästet sich, er füllt sich den Bauch. Geldbußen, herrenlose Güter, Taxen, Kosten, gesetzmäßige Gebühren, Löhne, Schadenersätze und Zinsen, Tortur und Gefängnis, Stockhaus und Fesseln mit Verlusten am Vermögen – das sind für ihn Weihnachtsstollen und Johannisfestmarzipan! Sieh ihn nur an, das Schwein! – Sieh da! vortrefflich! noch ein verliebtes Frauenzimmer! Thibaud la Thibaude nicht mehr und nicht weniger! – Dafür daß sie die Rue Glatigny verlassen hat! – Wer ist jener Bursche? Gieffroy Mabonne, der Rottenführer bei den Handbogenschützen. Er hat den Namen Gottes gelästert. – Zur Geldstrafe die Thibaude, zur Buße den Gieffroy verdammt! Zur Buße alle beide! Der alte taube Schuft! er hat beide Fälle unter einander werfen müssen! Zehn gegen eins, daß er dem Mädchen die Lästerung und dem Gendarmen die Liebesbrunst entgelten läßt! – Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen werden sie jetzt hereintransportiren? Sieh nur die zahlreichen Gerichtsdiener! Beim Jupiter! alle Fanghunde von der Meute sind dabei. Das muß der Hauptfang von der Jagd sein. Ein Wildschwein. – Es ist eins, Robin, es ist eins. Und ein schönes dazu! – Hercle!Lateinisch: Beim Herkules! es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpapst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unsere Fratze von Menschen! Es ist Quasimodo! . . .« Nichts Geringeres, als er war es.

Es war Quasimodo, zusammengeschnürt, mit Stricken umwunden, gefesselt und mit gebundenen Händen, unter starker Bewachung. Der Trupp Gerichtsdiener, welcher ihn umringte, erschien unter persönlicher Führung des Hauptmanns von der Scharwache, der das gestickte Wappen von Frankreich auf der Brust und dasjenige der Stadt Paris auf dem Rücken trug. Uebrigens war an Quasimodo, seine Mißgestalt abgerechnet, gar nichts zu bemerken, was diesen Aufwand von Hellebarden und Hakenbüchsen rechtfertigen konnte; er war finster, schweigsam und ruhig. Kaum warf sein einziges Auge von Zeit zu Zeit einen tückischen und zornigen Blick auf die Fesseln, welche ihn belasteten. Den nämlichen Blick ließ er, aber so erloschen und schläfrig, über seine Umgebung gleiten, daß die Weiber nur mit dem Finger auf ihn hinwiesen, um ihn auszulachen.

Unterdessen durchblätterte Meister Florian, der Untersuchungsrichter, die Akten der gegen Quasimodo gerichteten Anklage, die ihm der Gerichtsschreiber überreichte; und als er einen Blick hineingeworfen, schien er einen Augenblick mit sich zu Rathe zu gehen. Dank dieser Vorsicht, welche er stets Sorge getragen hatte zu beobachten, ehe er an ein Verhör ging, wußte er zum voraus Namen, Verhältnisse und Vergehen des Angeklagten, machte vorherbedachte Einwürfe auf vorausgesehene Antworten, und verstand es, sich aus allen Windungen des Verhöres herauszuziehen, ohne seine Taubheit allzusehr errathen zu lassen. Die Proceßakten waren für ihn der Hund des Blinden. Wenn es ja zufällig geschah, daß sein Gebrechen sich hier und da durch irgend eine Anrede außer dem Zusammenhange, oder durch eine unverständliche Frage verrieth, so galt das für tiefe Weisheit bei den einen, oder für Geistesschwäche bei den andern. In beiden Fällen erlitt die Ehre des Richterstandes keine Beeinträchtigung; denn es ist immer noch besser, daß ein Richter für dumm oder tiefsinnig, als für taub gehalten wird. Er wandte daher große Sorgfalt an, den Augen aller seine Taubheit zu verbergen; und es gelang ihm dieses für gewöhnlich so gut, daß er dahin gekommen war, sich selbst Täuschung zu bereiten; was übrigens leichter ist, als man glauben will. Alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte einher, alle Stotterer sprechen viel und laut, und alle Tauben sprechen leise. Was ihn betraf, so hielt er sein Gehör höchstens für ein wenig hart. Das war das einzige Zugeständnis, welches er nach dieser Seite hin, in Augenblicken von Offenherzigkeit und Gewissensprüfung der öffentlichen Meinung machte.

Nachdem er also die Angelegenheit Quasimodo's hinlänglich erwogen hatte, warf er den Kopf in den Nacken und schloß, um würdevoller und unparteiischer zu erscheinen, die Augen zur Hälfte, was ihm so gut gelang, daß er in diesem Augenblicke taub und blind zugleich war – ein zwiefaches Erfordernis, ohne das kein vollkommener Richter existirt. In dieser gebieterischen Haltung begann er nun das Verhör.

»Euer Name?«

Nun aber lag hier ein Fall vor, welcher »im Gesetze nicht vorhergesehen« war: nämlich derjenige, daß ein Tauber in die Lage kommen könne, einen Tauben zu verhören. Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage vernahm, sah den Richter immer starr an und gab keine Antwort. Der taube Richter, den auch niemand auf die Taubheit des Angeklagten aufmerksam machte, glaubte, daß dieser, wie alle Angeklagten gewöhnlich thaten, geantwortet hätte, und fuhr in seiner gedankenlosen und albernen Zuversicht fort:

»Gut. Euer Alter?«

Quasimodo antwortete ebenso wenig auf diese Frage. Der Richter hielt sie für beantwortet und fuhr fort:

»Und nun Euer Stand?«

Immer das nämliche Schweigen. Die Zuhörer begannen indessen zu zischeln und sich unter einander anzusehen.

»Es ist genug,« fuhr der Richter ohne Beirrung fort, da er annahm, daß der Angeklagte seine dritte Antwort beendet hätte. »Ihr seid bei Uns verklagt: primo, wegen nächtlicher Ruhestörung; secundo, wegen unsittlicher Angriffe auf eine liederliche Dirne, in präjudicium meretricis;Lateinisch: Zum Nachtheil eines Freudenmädchens. Anm. d. Uebers. tertio, wegen Widerstandes und Unehrerbietigkeit gegen die Häscher von der Ordonnanz Seiner Majestät des Königs, unseres gnädigen Herrn. Aeußert Euch über alle diese Punkte. – Schreiber, habt Ihr das, was der Angeklagte bis jetzt ausgesagt hat, niedergeschrieben?«

Bei dieser unglücklichen Frage erhob sich vom Platze des Schreibers an bis zur Zuhörerschaft hin ein so lautes, unmäßiges, ansteckendes und allgemeines Gelächter, daß es selbst die beiden Tauben bemerken mußten. Quasimodo wandte sich verächtlich um und zog seinen Buckel in die Höhe, während daß Meister Florian, der wie jener erstaunt und in der Meinung war, daß das Gelächter der Zuhörer durch irgend welche ehrerbietungslose Antwort des Angeklagten, die er aus dessen Achselzucken ersah, hervorgerufen worden wäre, ihn entrüstet anfuhr:

»Schlingel, Ihr habt mir da eine Antwort gegeben, welche jedenfalls den Strick verdienen dürfte! Wißt Ihr, mit wem Ihr redet?«

Dieser Zornausbruch war nicht dazu angethan, das Losbrechen allgemeiner Heiterkeit zu verhindern. Er erschien allen so seltsam und närrisch, daß das unbändige Gelächter sogar im Rathszimmer für die Bürgerschaft die Gerichtsdiener ergriff, eine Sorte von Piekenträgern, bei denen der Stumpfsinn doch zur Uniform gehörte. Quasimodo allein bewahrte seinen Ernst, und mit gutem Grunde; denn er begriff nichts von dem, was sich rings um ihn herum ereignete. Der Richter, welcher immer gereizter wurde, glaubte in demselben Tone fortfahren zu müssen, und hoffte damit den Angeklagten in solchen Schrecken zu versetzen, daß dieser auf die Zuhörerschaft zurückwirken und sie wieder zur Ehrfurcht bringen würde.

»Ich muß Euch begreiflich machen, Ihr Schelm und Spitzbube, daß Ihr Euch erlaubt, es am schuldigen Respect fehlen zu lassen gegen den Untersuchungsrichter beim Châtelet, gegen einen Beamten, der mit dem öffentlichen Sicherheitsdienste von Paris betraut ist, der die Obliegenheit hat, nach Verbrechen, Vergehen und schlechtem Gesindel zu forschen; alle Erwerbszweige zu beaufsichtigen und jedes Vorrecht zu verbieten; der das Straßenpflaster zu unterhalten hat; der die Hökereien mit Federvieh, Geflügel und Wildpret verhindern muß; der das Brennholz und andere Holzsorten messen, die Stadt vom Unrath und die Luft von ansteckenden Krankheitsstoffen reinigen zu lassen hat; der sich unausgesetzt dem öffentlichen Wohle widmen muß – kurz alles ohne Gehalt und Aussichten auf Belohnung! Wißt Ihr, daß ich Florian Barbedienne heiße, wirklicher Stellvertreter des Herrn Oberrichters, außerdem Bevollmächtigter, Untersuchungsbeamter, Oberaufseher und Prüfungsbeamter mit gleicher Machtbefugnis beim Gerichtsamte, Amtsbezirke, Verwaltungsamte und beim Obergerichte bin! . . .«

Spricht ein Tauber zu einem Tauben, so ist kein Grund vorhanden, daß er in seiner Rede innehält. Gott weiß, wo oder wann Meister Florian, nachdem er einmal mit allen Segeln auf das Gebiet der hohen Beredtsamkeit hinausgesteuert war, gelandet sein würde, wenn die niedrige Pforte im Hintergrunde sich nicht plötzlich geöffnet und dem Herrn Oberrichter in eigener Person nicht Zutritt gegeben hätte.

Bei seinem Eintritte blieb Meister Florian nicht stecken, sondern machte auf seinen Hacken eine Wendung zur Seite und richtete die Anrede, mit der er einen Augenblick zuvor Quasimodo angedonnert hatte, ganz unerwartet an den Oberrichter: »Gnädiger Herr,« sagte er, »ich beantrage eine so schwere Strafe, wie es in Eurem Belieben liegen wird, gegen den hier anwesenden Angeklagten wegen schweren und unerhörten Vergehens gegen die Obrigkeit.« Darauf setzte er sich ganz außer Athem nieder und trocknete große Schweißtropfen ab, die von seiner Stirne herabfielen und wie Thränen die vor ihm ausgebreiteten Pergamentrollen anfeuchteten. Der gestrenge Herr Robert von Estouteville runzelte die Stirn und machte Quasimodo eine dermaßen befehlende und ausdrucksvolle Geberde, aufzumerken, daß der Taube etwas von dem, worum es sich handelte, begriff.

Der Oberrichter richtete mit Härte das Wort an ihn: »Was hast du, Schurke, verbrochen, daß du hier bist?«

Der arme Teufel, welcher vermeinte, daß der Oberrichter ihn nach seinem Namen fragte, brach das Schweigen, welches er gewöhnlich beobachtete, und antwortete mit rauher Kehlstimme:

»Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig zur Frage, daß das tolle Gelächter sich wieder zu erneuern begann, und Herr Roberts roth vor Zorn, ausrief:

»Höhnst du auch mich, du Erzschlingel?«

»Glöckner in Notre-Dame,« antwortete Quasimodo, der da glaubte, es handelte sich darum, dem Richter auseinanderzusetzen, wer er wäre.

»Glöckner!« entgegnete der Oberrichter, der, wie wir erzählt haben, am Morgen mit gerade schlechtem Humor genug erwacht war, als daß seine Wuth durch so ungehörige Antworten noch gereizt zu werden brauchte. »Glöckner! Ich werde dir an den Straßenecken von Paris ein Geläute mit Gerten auf den Rücken schreiben lassen. Hörst du, Schurke?«

»Wenn es mein Alter ist, was Ihr zu wissen wünscht,« sagte Quasimodo, »so glaube ich, daß ich am Sanct-Martinstage zwanzig Jahre alt sein werde.«

In der That das war zu viel; der Oberrichter vermochte nicht an sich zu halten.

»Ha! du verhöhnst den Gerichtshof, Elender! Stockmeister, Ihr werdet mir diesen Schurken zum Schandpfahl auf dem Grèveplatz führen, werdet ihn aushauen und eine Stunde lang auf dem Rade drehen. Er soll es mir büßen, beim Haupte unseres Heilandes! und ich will, daß gegenwärtiges Urtheil unter Beistand von vier vereideten Trompetern in den sieben Bezirken des Amtsgerichtssprengels von Paris öffentlich ausgerufen werde.«

Der Gerichtsschreiber schickte sich an, das Urtheil unverzüglich zu Papier zu bringen.

»Alle Wetter, das nenne ich mir da ein gutes Urtheil gefällt haben!« rief aus seiner Ecke der kleine Studiosus Johann Frollo du Moulin.

Der Oberrichter wandte sich um und heftete von neuem seine funkelnden Blicke auf Quasimodo. »Ich glaube gar, der Schurke hat gerufen ›alle Wetter!‹ Gerichtsschreiber, setzt zwölf Heller Pariser Münze als Buße für sein Fluchen hinzu, und daß das Kirchenvermögen von Saint-Eustache die Hälfte davon erhalten soll. Ich besitze eine besondere Verehrung für den heiligen Eustache.«

In wenigen Minuten war das Urtheil fertig. Sein Wortlaut war einfach und kurz. Das Rechtsverfahren des Bezirks- und Amtsgerichtssprengels von Paris war noch nicht vom Präsidenten Thibaut Baillet und von Roger Barmne, dem Advokaten des Hofes, ausgearbeitet worden; es war damals nicht von jenem undurchdringlichen Dickicht von Kniffen und Instanzenwegen überwuchert, welches diese beiden Rechtsgelehrten im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts auf dasselbe pfropften. Alles war in ihm klar, rasch und deutlich. Man ging darin gerade auf das Ziel los, und man bemerkte am Ende jedes Rechtsweges, unversteckt und ohne Windung, Rad, Galgen oder Schandpfahl. Man wußte wenigstens, wohin man gelangte.

Der Schreiber überreichte dem Oberrichter das Urtheil, welcher sein Siegel daruntersetzte und davonging, um durch die Gerichtssäle seinen Rundgang in einer Gemüthsstimmung fortzusetzen, welche heute alle Gefängnisse von Paris bevölkern mußte. Johann Frollo und Robin Poussepain lachten ins Fäustchen. Quasimodo sah allem mit gleichgültiger und erstaunter Miene zu. Gleichwohl fühlte der Gerichtsschreiber im Augenblicke, wo Meister Florian Barbedienne seinerseits das Urtheil durchlas, um es zu unterzeichnen, sich von Mitleid für den armen Teufel von Verurtheilten bewegt, und in der Hoffnung, eine kleine Herabsetzung der Strafe zu erlangen, näherte er sich so viel er konnte dem Ohre des Untersuchungsrichters und sagte zu ihm, während er auf Quasimodo hindeutete: »Dieser Mensch ist taub.« Er hoffte, daß dieses gemeinschaftliche Gebrechen das Interesse Meister Florians für den Verurtheilten erwecken würde. Aber einmal haben wir schon bemerkt, daß Meister Florian sich nichts daraus machte, daß man seine Taubheit merkte. Dann aber war er so harthörig, daß er kein Wort von dem vernahm, was der Gerichtsschreiber zu ihm sagte; dennoch wollte er sich das Ansehen geben, als ob er höre, und antwortete: »Ach! ach! das ist etwas Anderes; ich wußte das nicht. In diesem Falle eine Stunde Pranger mehr.«

Und er unterzeichnete das so abgeänderte Urtheil«

»Das ist wohlgethan,« sagte Robin Poussepain, welcher einen Zahn auf Quasimodo hatte; »das wird ihn lehren, den Leuten grob zu begegnen.«


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