Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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6. Der zerbrochene Krug.

Nachdem er eine Zeit lang aus allen Leibeskräften gelaufen war, ohne zu wissen wohin, mit dem Kopfe an manche Straßenecke angerannt, über manchen Rinnstein gesprungen war, manches Gäßchen, manche Sackgasse und manchen Kreuzweg durchschritten hatte, Flucht und Durchgang durch alle Windungen der alten Hallenstraße gesucht, in seiner panischen Furcht alles das erspähet, was das schöne Urkundenlatein »tota via, cheminum et viaria«Lateinisch: Jeden Weg, Steg und alle Straßen. Anm. d. Uebers. nennt, blieb unser Dichter plötzlich stehn, zuerst aus Athemlosigkeit, dann von einem Dilemma, welches soeben in seinem Geiste aufgestiegen war, gewissermaßen am Kragen festgehalten. »Es scheint mir, Meister Peter Gringoire,« sagte er zu sich selbst, wobei er den Finger auf die Stirn setzte, »daß Ihr da wie ein Kopfloser rennt. Die kleinen Taugenichtse haben nicht weniger Furcht vor Euch, als Ihr vor ihnen gehabt. Es scheint mir, sage ich Euch, daß Ihr das Getöse ihrer Holzschuhe gehört habt, welches sich nach Süden verlor, während Ihr nach Norden floht. Nun ist von zwei Fällen einer gewiß: sie haben entweder die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken vergessen haben müssen, gerade das gastliche Lager, nach welchem Ihr seit heute Morgen gelaufen seid, und welches Euch die heilige Jungfrau wunderbarerweise geschickt hat, um Euch dafür zu entschädigen, daß Ihr zu ihrer Ehre ein mit Aufzügen und Mummereien ausgestattetes Schauspiel gemacht habt; oder die Knaben haben die Flucht nicht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Brand an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das treffliche Feuer, welches Ihr nöthig habt, um Euch zu ergötzen, zu trocknen und wieder zu wärmen. In beiden Fällen, sei es ein gutes Feuer oder gutes Lager, ist der Strohsack ein Geschenk des Himmels. Die gesegnete Jungfrau Maria an der Ecke der Straße Mauconseil hat vielleicht den Johann Moubon deshalb sterben lassen; und es ist eine Thorheit von Euch, so in toller Flucht davonzulaufen, wie ein Picarde vor einem Franzosen und hinter Euch zu lassen, was Ihr vorn suchet; und Ihr seid ein Narr!« –

Darauf kehrte er auf demselben Wege zurück und bemühte sich, während er nach der Himmelsgegend ausschaute und mit Nase und Ohr herumspionirte, den köstlichen Strohsack wiederzufinden, doch vergebens. Nichts als Häuserdurchschnitte, Sackgassen, Straßenmündungen waren es, zwischen denen er zaudernd stand und beständig überlegte, und in diesem Wirrsal dunkler Gäßchen mehr behindert und aufgehalten, als er selbst im Irrgange des Parlamentsgerichtspalastes gewesen wäre. Endlich verlor er die Geduld und rief feierlich aus: »Verdammt seien die Gassen! Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner Ofengabel gemacht!«

Dieser Fluch erleichterte sein Herz ein wenig, und ein gewisser röthlicher Schimmer, den er in diesem Augenblicke am Ende einer langen und engen Gasse bemerkte, weckte schließlich seine Lebensgeister wieder. »Gott sei gelobt!« sagte er, »da unten ist's! Das ist mein Strohsack, der brennt!« Und sich mit dem Steuermanne vergleichend, welcher nachts umschlägt, setzte er fromm hinzu: »Salve, salve, maris stella!«Lateinisch: Sei gegrüßt, gegrüßt mir, Stern des Meeres! (Anfang eines lateinischen Hymnus auf die Mutter Gottes) (Anm. d. Uebers.) Richtete er dieses Litanei-Fragment an die heilige Jungfrau oder an den Strohsack? Wir wissen es nicht sicher.

Kaum hatte er einige Schritte in der langen Straße gethan, welche sich senkte, nicht gepflastert war und immer kothiger und abschüssiger wurde, als er etwas recht Sonderbares bemerkte. Sie war nicht öde: hier und da krochen einzelne und unförmliche Klumpen der Länge der Straße nach, und richteten sich nach dem Schimmer hin, welcher am Ende derselben zitterte, gleich jenen plumpen Insecten, die nachts von Grashalm zu Grashalm auf das Feuer eines Hirten zukriechen. Nichts macht den Menschen waghalsiger, als eine leere Tasche. Gringoire ging darauf los und hatte bald dasjenige dieser Gespenster eingeholt, welches sich am langsamsten hinter den andern dreinbewegte. Als er näher herankam, sah er, daß es nichts anderes als ein elender Krüppel war, welcher auf seinen beiden Händen fortkroch, wie eine verwundete Weberspinne, welche nur noch zwei Beine hat. In dem Augenblicke als er an dieser Art Spinne mit Menschengesicht vorbeikam, erhob sie ihre klägliche Stimme: »La buona mancia, signor! la buona mancia!«Italienisch: Ein gutes Trinkgeld, Herr! ein gutes Trinkgeld!

»Hole dich der Teufel!« sagte Gringoire, »und mich dazu, wenn ich verstehe, was du sagen willst!«

Und er ging weiter.

Er holte einen andern dieser wandelnden Klumpen ein und betrachtete ihn. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig zugleich, und zwar derartig, daß die verwickelte Zusammenfügung von Krücken und Holzbeinen, auf welche er sich stützte, ihm das Ansehen eines wandelnden Mauergerüstes gaben. Gringoire, welcher die edlen und klassischen Vergleiche liebte, verglich ihn in Gedanken mit dem lebenden Dreifuß des Vulkan.

Dieser lebende Dreifuß grüßte ihn im Vorbeigehen, wobei er seinen Hut wie ein Barbierbecken unter Gringoire's Kinn hielt und ihm in die Ohren schrie: »Señor caballero, para comprar un pedazo de pan!«Spanisch: Gnädiger Herr, gebt mir etwas zu einem Stück Brot!

»Es scheint,« sagte Gringoire, »daß der auch spricht; aber es ist eine rohe Sprache, und er ist glücklicher als ich, wenn er sie versteht.«

Dann griff er sich, infolge eines plötzlichen Ideentausches, an die Stirn: »Da fällt mir ein – was der Teufel wollten die heute Morgen mit ihrer ›Esmeralda‹ sagen?«

Er wollte seine Schritte verdoppeln, aber zum dritten Male versperrte ihm wieder etwas den Weg. Dieses Etwas, oder vielmehr dieser Jemand, war ein kleiner Blinder mit jüdischem, bärtigen Gesichte, welcher den Ort rings um sich her mit einem Stocke betastete und von einem großen Hunde gezogen, ihm mit ungarischem Accente zunäselte: »Facitote caritatem!«Lateinisch: Gebt ein Almosen! Anm. d. Uebers

»Gott sei Dank!« sagte Peter Gringoire, »da ist doch endlich jemand, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß wohl recht wie Almosengeben aussehen, daß man mich bei dem mageren Zustande, in dem sich meine Börse befindet, so um ein Almosen bittet«

»Mein Freund (er wandte sich an den Blinden), ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft; das heißt, weil Ihr nur die Sprache Cicero's versteht: Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.«

Nach diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Aber der Blinde begann zu gleicher Zeit, wie er, seine Schritte zu verdoppeln; und auch der Lahme und der Krüppel machten sich ihrerseits mit großer Hast und lautem Napf- und Krückengeklapper auf dem Pflaster hinter ihm her. Dann schrien alle drei zugleich hinter dem armen Gringoire her, jeder sein Lamento.

»Caritatem!«Lateinisch: Ein Almosen! Anm. d. Übers. heulte der Blinde.

»La buona mancia!« heulte der Krüppel

Und der Lahme vollendete den Singsang, indem er wiederholte:

»Un pedazo de pan

Gringoire hielt sich die Ohren zu: »O Thurm zu Babel!« rief er.

Er fing an zu laufen. Der Blinde, der Lahme, der Krüppel jagten hinter ihm her. Und je weiter er in die Straße hineindrang, vermehrten sich Krüppel, Blinde, Lahme um ihn her, und Einarmige, Einäugige, Aussätzige mit ihren Wunden kamen aus den Häusern, aus den kleinen Straßen nebenan, aus den Kellerthüren, heulend, brüllend, kreischend, alle humpelnd, mühevoll, nach dem Lichte zu eilend und im Kothe sich wälzend wie Schnecken nach dem Regen.

Gringoire, immer von seinen drei Verfolgern begleitet, wußte nicht recht, was daraus werden sollte, und lief bestürzt mitten unter den andern, stieß die Lahmen bei Seite, stolperte über die Krüppel, die Füße in den Haufen der Hinkenden verwickelt, wie jener englische Kapitän, der in einen Haufen Seekrabben hineingerieth.

Er kam auf den Gedanken, den Versuch zu machen, wieder umzukehren. Aber es war zu spät. Das ganze Heer hatte sich hinter ihm geschlossen, und seine drei Bettler hielten ihn fest. Er ging also vorwärts, zugleich von dieser unwiderstehlichen Flut, von der Furcht und von einem Schwindel getrieben, der ihm alles ringsum wie einen entsetzlichen Traum darstellte.

Endlich erreichte er das Ende der Straße. Sie mündete auf einen ungeheuern Platz, wo zahllose zerstreute Lichter im wankenden Nachtnebel zitterten. Gringoire warf sich dorthin, in der Hoffnung, durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei gebrechlichen Gespenstern zu entgehen, die sich an ihn geklammert hatten.

»Onde vas, hombre?«Spanisch: Mensch, wohin gehst du? schrie der Lahme, indem er dabei seine Krücken wegwarf und mit den zwei gesundesten Beinen, die jemals einen festen Schritt über das Pariser Pflaster gemacht haben, hinter ihm herlief.

Währenddessen deckte der Krüppel, der kerzengerade auf seinen Beinen stand, Gringoire seinen großen eisernen Napf über den Kopf, und der Blinde sah ihm mit flammenden Augen in das Gesicht.

»Wo bin ich?« sagte der entsetzte Dichter.

»Im Wunderhofe,«Der »Wunderhof« war im mittelalterlichen Paris eine Freistätte der Gauner und Bettler, wo die Lahmen gehend, die Blinden sehend waren. Anm. d. Uebers. erwiderte ein viertes Gespenst, welches sich zu ihnen gesellt hatte.

»Bei meiner Seele,« entgegnete Gringoire, »ich sehe wohl, daß die Blinden sehen und die Lahmen gehen; aber wo ist der Heiland?«

Sie antworteten mit lautem, unheimlichen Gelächter.

Der arme Dichter warf die Blicke um sich her. Er war in der That in diesem furchtbaren Wunderhofe, wohin niemals ein rechtschaffener Mensch zu solcher Stunde gedrungen war; im Zauberkreise, wo die Diener des Obergerichtes und Polizeisergeanten, welche sich hineinwagten, spurlos verschwanden; in der Stadt der Diebe; im Schandflecke des Antlitzes von Paris; in der Kloake, wo diese Woge von Lastern, Bettler- und Vagabundenthum, wie sie immer in den Straßen der Hauptstädte überschäumt, am Morgen herausströmte und abends pesthauchend zurückfloß; es war der ungeheuerliche Bienenstock, wohin abends alle Drohnen der menschlichen Gesellschaft mit ihrer Beute heimkehrten; das verfängliche Spital, wo der Zigeuner, der entsprungene Mönch, der verdorbene Student, die Taugenichtse aller Nationen: Spanier, Italiener, Deutsche, aller Glaubensbekenntnisse: Juden, Christen, Muhamedaner, Heiden, mit falschen Wunden Bedeckte, am Tage Bettler, sich nachts in Raubmörder verwandelten; – mit einem Worte: es war das ungeheure Garderobezimmer, wo sich in jener Zeit alle Darsteller des ewigen Schauspieles an- und auskleideten, welches Diebstahl, Prostitution und Mord auf dem Pflaster von Paris aufführen.

Es war ein großer, unregelmäßiger und schlecht gepflasterter Platz, wie alle Plätze des alten Paris. Hier und da leuchteten Feuer, um welche herum seltsame Gruppen wimmelten. Alles ging, kam, schrie. Man hörte helles Lachen, Kindergeschrei, Frauenstimmen. Die dunkeln Hände und Köpfe dieser Menge warfen auf dem leuchtenden Hintergrunde ihre Schatten in tausendfachen, bizarren Bewegungen. Manchmal konnte man auf dem Boden, wo der Glanz des Feuers mit großen, undeutlichen Schatten vermengt zitterte, einen Hund vorbeilaufen sehen, der einem Menschen glich, und umgekehrt. Alle Rassen und Gattungsunterschiede schienen sich an diesem Orte, wie bei einem Hexensabbath, zu verwischen. Männer, Frauen, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit, Krankheiten, – alles schien bei diesem Volke Gemeingut zu sein; alles lief mit einander, vermischt, durcheinander geworfen, übereinander hockend; jeder nahm an allem theil.

Der schwankende und dürftige Schimmer der Feuer gestattete Gringoire, trotz seiner Aufregung, rings um den ungeheuern Platz einen häßlichen Kranz alter Häuser zu erkennen, deren zerfressene, zusammengesunkene, niedrige Vorderseiten jede von ein oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen waren, und die ihm im Schatten der Nacht wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, welche, im Kreise herumstehend, fürchterlich und griesgrämisch und mit blinzelnden Augen auf den Hexensabbath herabsehen.

Es war gleichsam eine neue, unbekannte, unerhörte, mißgestaltete, kriechende, wimmelnde und phantastische Welt.

Gringoire, in steigender Bestürzung, von den drei Bettlern wie von drei Zangen festgehalten, betäubt von einer Menge anderer Gesichter, welche rings um ihn schäumten und schrien, – der unglückliche Gringoire versuchte seine Geistesgegenwart zu sammeln, um sich zu erinnern, ob man einen Sonnabend hätte. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich; sein Gedächtnisfaden und sein Gedankengang waren unterbrochen; und zweifelnd an allem, ungewiß in dem, was er sah und hörte, legte er sich die unlösliche Frage vor: »Wenn ich bin, existirt auch das da? Wenn das wirklich ist, bin ich es auch?«

In diesem Augenblicke erscholl in dem tosenden Haufen, welcher ihn umgab, ein deutlicher Ruf: »Laßt uns ihn zum Könige bringen! zum Könige mit ihm!«

»Heilige Jungfrau!« murmelte Gringoire, »der hiesige König, das muß ein Bock sein!«

»Zum Könige! zum Könige!« wiederholten alle Stimmen.

Man zog ihn fort. Jeder wollte die Kralle an ihn legen. Aber die drei Bettler ließen ihn nicht los und entrissen ihn den andern mit dem Geschrei: »Er gehört uns!«

Das schon schlechte Wamms des Dichters ging bei dieser Rauferei gänzlich in Stücke.

Als er über den fürchterlichen Platz schritt, schwand sein Taumel. Nach einigen Schritten war ihm das Gefühl der Wirklichkeit wiedergekommen. Die Atmosphäre des Ortes begann es ihm wiederzugeben. Anfangs war aus seinem Dichterkopfe, oder vielleicht und um es geradeheraus ganz prosaisch zu sagen, aus seinem leeren Magen ein Dunst, eine Benebelung so zu sagen, emporgestiegen, welche sich zwischen ihn und die Dinge rings herum verbreitete, und ihm diese nur im unzusammenhängenden Traumbilde, in jener flüchtigen Unbestimmtheit hatte erkennen lassen, welche alle Umrisse schwanken macht, alle Gestalten verzerrt, die Gegenstände sich in ungeheuern Gruppen zusammenballen läßt, die Wirklichkeit in Traumbilder verwandelt, aus Menschen Gespenster macht. Allmählich wich diese Sinnestäuschung einer bestimmten und nüchternen Erkenntnis. Die Wirklichkeit erschien um ihn her, stach ihm in die Augen, stieß an seine Füße und vernichtete nach und nach alle die fürchterlichen Phantasiegebilde, von denen er sich umringt geglaubt hatte. Er mußte schließlich merken, daß er nicht im Styx, wohl aber im Kothe watete; daß er nicht von bösen Geistern, sondern von Dieben vorwärtsgestoßen wurde; daß es sich hier nicht um seine Seele, sondern ganz einfach um sein Leben handeln würde, (weil es ihm an jenem kostbaren Vermittler fehlte, der sich so wirksam zwischen den Banditen und den ehrlichen Menschen stellt: der Börse). Kurzum, als er sich die Orgie etwas näher und mit mehr Kaltblütigkeit ansah, entpuppte sich der Hexensabbath als eine gewöhnliche Spelunke.

Das Wunderschloß war in der That nichts anderes, als eine Spelunke, aber eine Diebesschenke, die ebenso vom Blute, wie vom Weine geröthet war.

Das Schauspiel, welches sich Gringoire's Augen darbot, als ihn seine zerlumpte Bedeckung schließlich am Ziele seines Marsches ablieferte, war nicht geeignet, ihn wieder an Dichtung denken zu lassen, nicht einmal an die der Hölle. Es war mehr denn je die prosaische gemeine Wirklichkeit einer Schenke. Wenn wir uns nicht im fünfzehnten Jahrhunderte befänden, möchte man behaupten, Gringoire wäre aus demjenigen Michel Angelo's in dasjenige Callots gerathen.

Um ein großes Feuer, das auf einer mächtigen, runden Steinplatte brannte, und dessen Flammen durch die erglühten Stäbe eines augenblicklich leeren Dreifußes schlugen, waren einige wurmstichige Tische hier und da aufs Gerathewohl aufgestellt, ohne daß der geringste Feldmessergehilfe es für nöthig gehalten hätte, ihre gleichen Seiten zusammenzupassen, oder dafür Sorge zu tragen, daß sie wenigstens nicht an zu ungleichen Ecken aneinander stießen. Auf diesen Tischen blinkten mehrere von Wein und Bier triefende Krüge, und um diese herum saßen viele bacchantische Gesichter, die vom Wein und Feuer geröthet waren. Hier saß ein dickbauchiger Kerl mit jovialem Gesichte, der ein stattliches volles Freudenmädchen stürmisch umarmte; dort wickelte eine Art falscher Soldat – ein Schlaumeier, wie man es in der Gaunersprache nannte – pfeifend die Binden von seiner falschen Wunde und machte sein gesundes und starkes Knie, welches seit dem Morgen in zahllose Verbände eingeschnürt war, wieder gelenke. Als Gegenstück machte ein Siecher mit Schöllkraut und Ochsenblut sein »Gottesbein« für den nächsten Tag fertig. Zwei Tische weiter buchstabirte ein Pilger in vollständigem Pilgerkleide das Klagelied auf die Himmelskönigin, ohne die Eintönigkeit und das Näseln dabei zu vergessen. An einem andern Platze nahm ein junger Strauchdieb Unterricht in der Epilepsie bei einem alten Bettler, der Krämpfe zu heucheln verstand, und der ihn in der Kunst unterwies, mit einem zerkauten Stück Seife Schaum am Munde hervorzubringen. Daneben machte sich ein Wassersüchtiger von seiner Geschwulst frei, und veranlaßte vier oder fünf Diebesweiber, die sich an demselben Tische um ein am Abende gestohlenes Kind zankten, sich die Nase zuzuhalten. Alles das waren Umstände, die zweihundert Jahre später, wie Sauvel sagt, »dem Hofe so spaßhaft erschienen, daß sie dem Könige zum Zeitvertreibe und als Scene im königlichen Ballet ›Die Nacht‹ dienten, das in vier Abtheilungen auf dem Theater Petit-Bourbon getanzt wurde«. »Niemals,« fügt ein Augenzeuge von 1653 hinzu, »sind die plötzlichen Verwandlungen des Wunderhofes mit mehr Glück dargestellt worden. Benserade bereitete uns in recht niedlichen Versen darauf vor.«

Lautes Lachen und unzüchtige Lieder erschollen von allen Seiten. Jeder wurde anmaßend, machte boshafte Bemerkungen und fluchte, ohne auf seinen Nachbar zu hören. Die Krüge erklangen, Streit erhob sich beim Anstoßen mit denselben, und die schartigen Humpen zerrissen die Lumpen der Zänker.

Ein großer Hund, der auf seinem Hintertheil saß, stierte ins Feuer. Kinder fehlten gleichfalls nicht bei dieser Orgie. Der gestohlene Knabe weinte und schrie. Ein anderer dicker Bursche von vier Jahren saß mit herabhängenden Beinen auf einer zu hohen Bank hinter einem Tische, der ihm bis ans Kinn reichte, und sprach kein Wort. Ein dritter knetete emsig mit dem Finger den schmelzenden Talg, welcher von einem Lichte auf den Tisch herabtropfte. Ein Kleiner schließlich kauerte im Schmutz, fast ganz von einem Kessel verdeckt, an dem er mit einem Steine schabte und einen Ton hervorbrachte, um einen Stradivarius in Ohnmacht fallen zu lassen.

Ein Faß stand neben dem Feuer, und ein Bettler saß auf demselben. Es war der König auf seinem Throne.

Die drei, welche Gringoire festhielten, führten ihn vor dieses Faß, und augenblickliche Stille trat in der wüsten Versammlung ein; nur das Kind am Kessel spielte weiter.

Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen aufzuschlagen.

Hombre, quita ta sombrero!Spanisch: Mensch, nimm den Hut ab! Anm. d. Uebers. sagte einer der drei Strolche, welche ihn hielten; und bevor er verstanden hatte, was er sagen wollte, hatte ihm der andere schon den Hut vom Kopfe gerissen. Freilich war der Hut nur eine miserable Krempe, aber immer noch gut genug gegen Sonnenbrand und Regen. Gringoire seufzte.

Jetzt richtete der König von der Höhe seines Fasses das Wort an ihn.

»Wer ist dieser Halunke?«

Gringoire erschrak. Diese Worte, wiewohl im drohenden Tone ausgesprochen, erinnerten ihn an eine andere Stimme, welche ja heute Morgen seinem Schauspiele den ersten Schlag dadurch versetzt hatte, daß sie mit näselndem Tone in die Zuhörerschaft hineinrief: »Ein Almosen, ich bitte Euch!« Er hob den Kopf. Es war in der That Clopin Trouillefou.

Clopin Trouillefon, mit seinen königlichen Insignien bekleidet, hatte keinen Lumpen mehr oder weniger an sich. Die Wunde am Arme war schon verschwunden. In der Hand hielt er eine jener Riemenpeitschen aus weißem Leder, wie sie damals die Straßenpolizisten gebrauchten, um die Menge in Ordnung zu halten, und die man »neunschwänzige Katzen« nannte. Auf dem Kopfe trug er eine Art oben geschlossenen Kopfputz, mit einem Reifen versehen; aber es war schwer zu erkennen, ob es einen Kinder-Schutzhelm oder eine Königskrone vorstellen sollte, so sehr gleichen sich ja die beiden Gegenstände.

Indessen hatte Gringoire, ohne zu wissen warum, wieder einige Hoffnung geschöpft, als er im Könige des Wunderhofes seinen verwünschten Bettler aus dem großen Saale erkannte.

»Meister . . .« stotterte er. »Gnädiger Herr . . . Sire . . . Wie soll ich Euch nennen?« sprach er endlich, als er auf dem Höhepunkte seiner Gefühlssteigerung angelangt war und nicht vorwärts noch rückwärts mehr wußte.

»Gnädiger Herr, Seine Majestät oder Kamerad, nenne mich, wie du willst. Aber beeile dich! Was hast du zu deiner Vertheidigung zu sagen?«

Zu deiner Vertheidigung? dachte Gringoire, das gefällt mir nicht. Stotternd entgegnete er: »Ich bin derjenige, welcher heute Morgen . . .«

»Bei des Teufels Klauen!« unterbrach ihn Clopin, »deinen Namen, Halunke, und nichts weiter! Höre. Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefou, dem Könige von Thunes, dem Nachfolger des großen Coësre, dem obersten Lehnsherrn des Königreichs Rothwälschland; vor Mathias Hungadi Spicali, dem Herzoge von Aegypten und Böhmen, dem alten Gelben, den du da mit einem Lappen um den Kopf siehst; vor Wilhelm Rousseau, dem Kaiser von Galiläa, jenem Dicken, der nicht auf uns hört, und der eine Hure liebkost. Wir sind deine Richter. Du bist in das Königreich Rothwälschland eingedrungen, ohne ein Gauner zu sein; du hast die Rechte unserer Stadt verletzt. Du mußt bestraft werden, wofern du nicht Spieler, Bettler oder Abgebrannter, das heißt im Rothwälsch ehrlicher Leute, Dieb, Bettler oder Vagabund bist. Bist du etwas Derartiges? Rechtfertige dich; nenne deine Titel!«

»Leider!« sagte Gringoire, »habe ich nicht die Ehre. Ich bin der Verfasser . . .«

»Das genügt,« entgegnete Trouillefou, ohne ihn ausreden zu lassen. »Du sollst gehangen werden. Das ist ganz einfach, ihr Herren ehrlichen Spießbürger! Wie ihr die Unsrigen bei euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, welches ihr für die Landstreicher schafft, schaffen die Landstreicher für euch. Es ist eure Schuld, wenn es boshaft ist. Man muß von Zeit zu Zeit die Fratze eines ehrlichen Kerls in der Hanfcravatte sehen, das macht das Ding ehrenhaft. Wohlan, mein Freund, theile frisch deine Lumpen unter diese Fräulein. Ich lasse dich hängen, um die Landstreicher zu belustigen, und du magst ihnen deine Börse geben, damit sie auf dein Wohl trinken. Wenn du noch Alfanzereien machen willst, da unten im hölzernen Mörser steckt ein recht hübscher steinerner Herrgott, den wir in Saint Pierre-aux-Boeufs gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, um ihm deine Seele an den Kopf zu werfen.«

Die Ansprache war fürchterlich.

»Wohlgesprochen, bei meiner Seele! Clopin Trouillefou predigt wie der heilige Vater, der Papst,« rief der Kaiser von Galiläa und zerbrach seinen Krug, um den Tisch mit den Scherben zu stützen.

»Gnädigste Herren Kaiser und Könige,« sprach Gringoire kaltblütig (denn ich weiß nicht, wie er die Festigkeit wiedergewonnen hatte, und er sprach entschlossen), »ihr denkt nicht daran; ich heiße Peter Gringoire, ich bin der Dichter, von dem man heute Morgen ein Schauspiel im großen Saale des Palastes aufgeführt hat.«

»Ah! du bist's, Meister!« sagte Clopin. »Ich war dort, beim Haupte Gottes! Nun gut! Kamerad, ist das ein Grund, weil du uns heute Morgen gelangweilt hast, daß du heute Abend nicht gehangen wirst?«

»Ich werde Mühe haben, mich aus der Schlinge zu ziehen,« dachte Gringoire. Doch machte er noch einen Versuch. »Ich sehe nicht ein,« sagte er, »warum die Dichter nicht unter die Landstreicher gerechnet werden sollen. Vagabund – war Aesop; Bettler – war Homer; Dieb – war Mercurius . . .«

Clopin unterbrach ihn: »Ich glaube, du willst uns mit deinem Gewäsch nachdenklich machen. Laß dich hängen, bei Gott! und mach' nicht so viel Umstände!«

»Verzeihung, gnädigster Herr König von Thunes,« entgegnete Gringoire, der Schritt für Schritt um das Terrain kämpfte. »Es ist der Mühe werth . . . einen Augenblick! . . . Hört mich an . . . ihr werdet mich nicht verdammen, ohne mich anzuhören . . .«

Seine unglückliche Rede wurde in der That von dem Lärm übertönt, der sich rings um ihn erhob. Der kleine Junge kratzte mit mehr Ungestüm, als vorher, auf dem Kessel, und zum Ueberfluß hatte ein altes Weib soeben eine Pfanne voll Schmalz auf den Dreifuß gesetzt, welches über dem Feuer mit einem Getöse prazelte, ähnlich dem Kreischen eines Kinderschwarmes, der hinter einer Maske herjagt. Währenddessen schien Clopin Trouillefou einen Augenblick mit dem Herzog von Aegypten und mit dem Kaiser von Galiläa zu berathen, welcher vollständig betrunken war. Dann rief er laut: »Ruhig jetzt!« Und weil der Kessel und die Bratpfanne nicht aufhörten, sondern ihr Duett fortsetzten, sprang er von der Tonne herab, gab dem Kessel einen Fußtritt, daß er zehn Schritte weit mit dem Knaben wegflog, ebenso einen Fußtritt der Pfanne, so daß das ganze Fett sich in das Feuer ergoß, und stieg wieder würdevoll auf seinen Thron hinauf, ohne sich um das erstickte Weinen des Kindes, noch um das Murren der Alten zu kümmern, deren Abendessen als schöne, helllodernde Flamme in die Luft verflog.

Trouillefou gab ein Zeichen, und der Herzog und der Kaiser und die Erzdiebe und die Gauner stellten sich rings um ihn in Form eines Hufeisens auf, dessen Mitte Gringoire, den man immer noch schonungslos festhielt, einnahm. Es war ein Halbkreis von Lumpen und Fetzen, von Flitter, von Gabeln und Hacken, von taumelnden Gestalten, von nackten starken Armen, von schmutzigen, verlebten und thierischen Gesichtern. Mitten in dieser Tafelrunde von Schurkenthum ragte Clopin Trouillefou als Doge dieses Senates, als König dieser Pairschaft, als Papst dieses Conclaves theils wegen der Höhe seines Fasses, dann aber durch einen gewissen hochmüthigen, wilden und furchtbaren Ausdruck, der ihm im Auge funkelte und in seinem wilden Antlitz den thierischen Zug der Gaunerabkunft milderte. Man hätte ihn mit einem Eber unter Schweinen vergleichen mögen.

»Höre,« sagte er zu Gringoire und streichelte das mißgestaltete Kinn mit seiner schwieligen Hand, »ich sehe nicht ein, warum du nicht gehangen werden sollst. Allerdings hat es den Anschein, als ob dir das zuwider wäre; und das ist ganz natürlich: ihr Spießbürger seid nicht daran gewöhnt. Ihr macht euch von der Sache eine hohe Vorstellung. Nun aber sind wir dir nicht übel gesinnt. Es giebt ein Mittel, dir für den Augenblick aus der Verlegenheit zu helfen. Willst du einer der Unsrigen sein?«

Man kann sich den Eindruck denken, den dieser Vorschlag auf Gringoire machte, welcher sein Leben verloren gegeben hatte und davon abzulassen begann. Er klammerte sich mit allen Kräften wieder daran.

»Ich will es, gewiß, gern,« sagte er.

»Du bist bereit,« fuhr Clopin fort, »dich unter die Genossen des kleinen Dolches aufnehmen zu lassen?«

»Des kleinen Dolches, gewiß,« antwortete Gringoire.

»Du betrachtest dich als Glied der edlen Fechtbrüderschaft?« fuhr der König von Thunes fort.

»Der edlen Fechtbrüderschaft.«

»Als Unterthan des Königreichs Rothwälschland?«

»Des Königreichs Rothwälschland.«

»Als Landstreicher?«

»Als Landstreicher.«

»Im Herzen?«

»Im Herzen.«

»Ich muß dir bemerken,« fuhr der König fort, »daß du nichtsdestoweniger gehangen werden wirst.«

»Teufel!« sagte der Dichter.

»Nur,« fuhr Clopin unerschütterlich fort, »wirst du später gehangen werden, mit mehr Feierlichkeit, auf Kosten der guten Stadt Paris, an einem schönen steinernen Galgen und von ehrbaren Leuten. Das ist ein Trost.«

»Wie Ihr meint,« antwortete Gringoire.

»Es sind dabei noch andere Vortheile. In der Eigenschaft als Fechtbruder brauchst du dich weder um Straßenschmutz, noch Arme, noch Beleuchtung zu sorgen, wozu die Bürger von Paris doch verpflichtet sind.«

»So sei es,« sprach der Dichter. »Ich bin einverstanden. Ich bin Landstreicher, Gauner, Fechtbruder, kleiner Dolch, alles, was Ihr nur wollt; ich war das alles schon vorher, Herr König von Thunes, denn ich bin Philosoph; et omnia in philosophia, omnes in philosopho continentur,Lateinisch: Und alles steckt in der Philosophie, und alle sind im Philosophen enthalten. wie Ihr wißt.«

Der König von Thunes runzelte die Stirn.

»Für wen hältst du mich, Freund? Was für ungarisches Judenrothwälsch krähst du uns da vor? Ich verstehe kein Hebräisch. Zum Räuber braucht man nicht Jude zu sein. Ich selbst stehle nicht mehr, darüber bin ich erhaben; ich morde. Gurgelabschneider? ja; Beutelschneider? nein!«

Gringoire versuchte eine Entschuldigung in diese schnell gesprochenen Worte, welche der zornige König immer schneller herausstieß, einfließen zu lassen.

»Ich bitte um Verzeihung, gnädigster Herr. Das ist kein Hebräisch, es ist Latein.«

»Ich sage dir,« versetzte Clopin ungestüm, »daß ich kein Jude bin, und daß ich dich hängen lassen werde, Judenwanst! so wie den kleinen Schacherer aus Judäa da, der neben dir steht, und den ich hoffentlich noch eines Tages auf einen Ladentisch angenagelt sehe wie ein Stück falsches Geld, so sieht er aus!«

Indem er das sagte, zeigte er mit dem Finger auf den kleinen bärtigen, ungarischen Juden, der sich mit seinem »Facitote caritatem«Lateinisch: Gebt ein Almosen! Anm. d. Uebers. an Gringoire gemacht hatte, und der, ohne eine andere Sprache zu verstehen, mit Erstaunen sah, wie sich die üble Laune des Königs von Thunes über ihn ergoß.

Endlich beruhigte sich der gestrenge Herr Clopin.

»Halunke,« sagte er zu unserem Dichter, »du willst also ein Landstreicher sein?«

»Zweifelsohne,« entgegnete der Dichter.

»Das Wollen ist aber noch nicht alles,« sagte der mürrische Clopin; »der gute Wille bringt kein Fettauge mehr auf die Suppe, und genügt nur, um ins Paradies zu kommen; nun aber sind Paradies und Galgenstrick zweierlei. Um in die Diebesgilde aufgenommen zu werden, mußt du beweisen, daß du zu irgend etwas tauglich bist, und deshalb mußt du der Gliederpuppe die Taschen ausleeren.«

»Ich will die Taschen leeren,« sagte Gringoire, »ganz wie Euch belieben wird.«

Clopin gab ein Zeichen. Einige Gauner verließen den Halbkreis und kehrten einen Augenblick darauf zurück. Sie brachten zwei Holzpfosten herbei, die am untern Ende mit gezimmerten Füßen versehen waren, so daß sie leicht auf dem Boden festgemacht werden konnten; am obern Ende der beiden Pfosten paßten sie einen Querbalken ein, und das Ganze bildete einen recht hübschen tragbaren Galgen, den Gringoire die Genugthuung hatte, in einem Momente vor seinen Augen aufgerichtet zu sehen. Nichts fehlte daran, selbst nicht der Strick, der unter dem Querbalken anmuthig hin- und herschwankte.

»Was soll damit werden,« fragte sich Gringoire mit einer gewissen Unruhe. Ein Schellengeklingel, das er im selbigen Augenblicke hörte, setzte seiner Beklemmung ein Ziel. Es war eine Gliederpuppe, welche die Gauner mit dem Stricke am Halse aufknüpften, eine Art Vogelscheuche, roth aufgeputzt und dermaßen mit Schellen und Glöckchen überladen, daß man dreißig castilianische Maulesel damit hätte behängen können. Diese unzähligen Glöckchen tönten eine Zeit lang beim Baumeln des Strickes, verstummten aber nach und nach und schwiegen endlich ganz, als die Gliederpuppe infolge jenes Pendelschwingungsgesetzes, welches Wasser- und Sanduhren verdrängt hat, zum Stillstand gebracht worden war.

Jetzt bezeichnete Clopin dem Gringoire einen alten wackligen Fußschemel, der unter die Gliederpuppe gestellt war.

»Steige da hinauf!«

»Alle Teufel!« entgegnete Gringoire, »ich breche mir den Hals. Euer Schemel hinkt wie ein Distichon des Martial; er hat ein Hexameter- und ein Pentameterbein.«

»Steige hinauf!« wiederholte Clopin.

Gringoire stieg auf den Schemel; aber erst nach mehreren Balancirungen mit dem Kopfe und den Armen gelang es ihm, seinen Schwerpunkt wieder zu finden.

»Jetzt,« fuhr der König von Thunes fort, »schlage den rechten Fuß um das linke Bein, und hebe dich auf der linken Fußspitze in die Höhe.«

»Gnädigster Herr,« sagte Gringoire, »Ihr besteht also fest darauf, daß ich mir ein Glied breche?«

Clopin schüttelte unmuthig den Kopf.

»Höre, Freund, du sprichst zu viel. Vernimm in zwei Worten, worum es sich handelt. Du richtest dich auf der Fußspitze in die Höhe, wie ich dir sage; auf diese Weise wirst du der Puppe bis an die Tasche reichen; du wirst sie durchsuchen; du wirst eine Börse herausziehen, die darin ist; und wenn du alles das thust, ohne daß man den Ton eines Glöckchens hört, dann ist's gut; du wirst ein Landstreicher sein. Wir werden dann nichts weiter zu thun haben, als dich acht Tage lang tüchtig durchzuprügeln.«

»Alle Teufel! ich werde es nicht vermögen,« sagte Gringoire. »Und wenn ich die Glöckchen erklingen mache?«

»Dann wirst du gehangen werden. Verstehst du?«

»Ich verstehe ganz und gar nicht,« antwortete Gringoire.

»Höre noch einmal. Du sollst die Puppe durchsuchen und ihr die Börse nehmen; wenn eine einzige Glocke bei der Verrichtung erklingt, wirst du gehangen. Verstehst du das?«

»Wohl, ich verstehe,« sagte Gringoire. »Und dann?«

»Wenn es dir gelingt, die Börse wegzunehmen, ohne daß man die Schellen hört, so bist du Gauner, und du wirst acht Tage lang hinter einander mächtig durchgeprügelt werden. Jetzt verstehst du ohne Zweifel?«

»Nein, gnädigster Herr, ich verstehe immer noch nicht. Wo ist da ein Vortheil für mich? Gehangen in dem einen Falle, geprügelt im andern.«

»Und Landstreicher,« entgegnete Clopin, »und Gauner, ist das nichts? Es ist in deinem Interesse, wenn wir dich prügeln, damit du gegen Prügel abgehärtet wirst.«

»Danke vielmals,« antwortete der Dichter.

»Frisch, beeile dich,« sagte der König und trat mit dem Fuße auf das Faß, daß es wie eine türkische Trommel erklang. »Durchsuche die Puppe und mache ein Ende damit. Ich mache dich zum letzten Male aufmerksam, daß, wenn ich eine einzige Schelle vernehme, du die Stelle der Puppe einnehmen wirst.«

Die Gaunerbande gab den Worten Clopins Beifall und drängte sich mit so mitleidlosem Gelächter im Kreise um den Galgen herum, daß Gringoire einsah, seine Lage verursache ihnen so große Lust, daß er das Schlimmste von ihnen zu erwarten habe. Es blieb ihm somit nichts mehr zu hoffen, außer der unsichern Hoffnung, bei dem fürchterlichen Vorhaben, das ihm auferlegt war, glücklich zu sein; er entschloß sich zu dem Wagnis, nachdem er zuvor ein heißes Gebet an die Puppe gerichtet, die er ausplündern sollte, und die wohl leichter zu rühren gewesen wäre, als die Herzen der Gauner. Diese unzähligen Glöckchen mit ihren kleinen kupfernen Zungen erschienen ihm wie ebensoviele offene Viperrachen, bereit zu beißen und zu zischen.

»Ach,« sagte er ganz leise, »ist es möglich, daß mein Leben von der geringsten Bewegung einer dieser kleinen Schellen abhängt? – O,« fügte er mit gefalteten Händen hinzu, »Glöckchen, läutet nicht, Schellchen, tönt nicht!«

Er versuchte noch eine letzte Einwirkung auf Trouillefou.

»Und wenn nun ein plötzlicher Windstoß kommt?« fragte er ihn.

»Du wirst gehangen werden,« entgegnete dieser ohne Zögern.

Als er sah, daß keine Frist, kein Aufschub, keine Ausflucht möglich, faßte er sich kühn ein Herz; er schlug den rechten Fuß um den linken, richtete sich auf diesem in die Höhe und streckte den Arm aus . . . aber in dem Augenblicke, wo er die Puppe berührte, begann sein Körper, der nur einen Fuß als Stütze hatte, auf dem dreibeinigen Schemel zu wanken; er wollte sich unwillkürlich an die Puppe anlehnen, verlor das Gleichgewicht und fiel in seiner ganzen Länge auf die Erde, völlig betäubt von dem verhängnisvollen Klingen der tausend Glöckchen der Puppe, die, dem Stoße seiner Hand nachgebend, erst eine Drehung um sich selbst beschrieb, dann zwischen den beiden Pfosten majestätisch hin- und herschwankte.

»Verdammt!« schrie er niederfallend und lag wie todt mit dem Gesichte auf der Erde.

Zugleich hörte er das fürchterliche Geläute über seinem Haupte, und das teuflische Gelächter der Gauner, nicht weniger die Stimme Trouillefou's, welcher rief: »Hebt mir den Kerl auf und hängt ihn ohne Schonung.«

Gringoire stand auf. Man hatte die Puppe schon abgenommen, um ihm Platz zu machen.

Die Diebe ließen ihn auf den Schemel steigen. Clopin kam auf ihn zu, legte ihm den Strick um den Hals und schlug ihn auf die Schulter: »Adieu, mein Freund. Du kannst jetzt nicht mehr entwischen, selbst wenn du mit den Gedärmen des Papstes verdautest.«

Das Wort »Gnade« erstarb auf den Lippen Gringoire's. Er richtete seine Blicke rings um sich her; aber keine Hoffnung war zu erwarten: alle lachten.

»Bellevigne de l'Etoile,« sagte der König von Thunes zu einem baumlangen Gauner, welcher aus der Menge heraustrat, »klettere auf den Balken.«

Bellevigne de l'Etoile kletterte hurtig auf den Querbalken hinauf, und nach Verlauf einer Minute sah Gringoire, der seine Augen emporhob, ihn mit Entsetzen über seinem Kopfe auf dem Balken hocken.

»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirst du, Andry le Rouge, den Schemel mit einem Knieschub umwerfen; du, Franz Chante-Prune, wirst dich an die Beine des Halunken hängen; und du, Bellevigne, wirst dich auf seine Schultern werfen, aber alle drei zugleich, hört ihr?«

Gringoire schauderte.

»Seid ihr so weit?« sprach Clopin Trouillefou zu den drei Gaunern, die bereit waren, sich auf Gringoire zu stürzen. Der arme Sünder lebte in einem Augenblicke fürchterlicher Erwartung, während Clopin gleichgültig mit der Fußspitze einige Weinholzranken, welche die Flamme nicht erreicht hatte, in das Feuer stieß. »Seid ihr so weit?« wiederholte er und öffnete die Hände zum Klatschen. Eine Secunde noch, und es war geschehen. Aber er hielt inne, wie von einem plötzlichen Einfalle gepackt. »Einen Augenblick,« sagte er, »ich vergaß! . . . Es ist Sitte, daß wir keinen Mann hängen, ohne vorher zu fragen, ob eine Frau da ist, die ihn zum Manne will. Kamerad, das ist deine letzte Hilfe! Du mußt dich zu einer Landstreicherin entschließen oder zum Strange.«

Dieses Zigeunergesetz, so wunderlich es dem Leser erscheinen mag, steht heute noch ausführlich in der altenglischen Gesetzgebung beschrieben. Man sehe darüber: »Burington's Observations«.

Gringoire athmete neu auf. Das war das zweite Mal, daß er, seit einer halben Stunde, ins Leben zurückkehrte. Doch wagte er nicht, allzusehr darauf zu bauen.

»Holla!« rief Clopin, der wieder auf sein Faß gestiegen war, »holla! Weiber, Frauenzimmerchen, ist unter euch Landstreicherinnen eine, von der Hexe bis zu ihrer Katze, die diesen Halunken will? Holla, Colette-la-Charonne! Elisabeth Trouvain! Simone Iodouyne! Marie Piédebou! Thonne-la-Longue! Bérarde Fanouel! Michaele Genaille! Claudine Rougeoreille! Mathurine Girorou! Holla! Isabeau-la-Thierryel! Kommt und seht! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«

Gringoire war ohne Zweifel in dieser elenden Verfassung wenig anziehend. Die Landstreicherinnen zeigten sich diesem Vorschlage nur wenig geneigt. Der Unglückliche hörte sie antworten: »Nein! Nein! Hängt ihn, es wird allen Vergnügen bereiten.« Drei indessen traten aus dem Haufen heraus und beschnoberten ihn. Die eine war ein vierschrötiges Frauenzimmer mit breitem Gesicht. Sie untersuchte aufmerksam das elende Wamms des Philosophen. Der Kittel war abgenutzt und durchlöcherter, als eine Pfanne zum Kastanienbraten. Das Mädchen verzog das Gesicht. »Ein alter Lappen!« brummte sie; dann wandte sie sich an Gringoire: »Laß deinen Mantel sehen!«

»Ich habe ihn verloren,« sagte Gringoire.

»Deinen Hut?«

»Man hat ihn mir genommen.«

»Deine Schuhe?«

»Sie haben fast keine Sohlen mehr.«

»Deine Börse?«

»Ach!« stotterte Gringoire, »ich habe nicht einen Pariser Heller mehr!«

»Laß dich hängen, ich danke!« entgegnete die Landstreicherin und kehrte ihm den Rücken zu.

Die andere, alt, schwarz, runzlig, widerlich und von einer Häßlichkeit, die im Wunderhofe Aufsehen erregte, betrachtete Gringoire von allen Seiten. Er erschrak fast davor, daß sie ihn nehmen könnte. Doch murmelte sie zwischen den Zähnen: »Er ist zu dürr« und ging fort.

Die dritte war ein junges, ziemlich frisches und nicht allzu häßliches Mädchen. »Rettet mich!« sagte der arme Teufel mit leiser Stimme zu ihr. Sie sah ihn einen Augenblick mitleidig an, dann schlug sie die Augen nieder, machte eine Falte in ihrem Rocke und stand unentschlossen. Er folgte mit den Augen allen ihren Bewegungen; es war der letzte Hoffnungsschimmer. »Nein,« sagte das junge Frauenzimmer schließlich, »nein! Wilhelm Longuejoue würde mich schlagen.« Sie kehrte zur Menge zurück.

»Kamerad,« sagte Clopin, »du hast Unglück.« Dann richtete er sich auf seinem Fasse in die Höhe: »Will ihn niemand?« rief er, indem er zur allgemeinen Belustigung die Stimme eines Auctionators nachahmte, »will ihn niemand? zum ersten – zweiten – dritten Male!« Dabei drehte er sich mit einem Kopfnicken nach dem Galgen um: »Fort mit Schaden!«

Bellevigne de l'Etoile, Andry le Rouge und Franz Chante-Prune näherten sich Gringoire.

In diesem Augenblicke erhob sich ein Geschrei unter den Gaunern: »Die Esmeralda! Die Esmeralda!«

Gringoire fuhr zusammen und drehte sich nach der Seite um, wo das Geschrei herkam. Die Menge theilte sich und ließ eine heitere, glänzende Gestalt herein. Es war die Zigeunerin.

»Die Esmeralda!« wiederholte Gringoire, der trotz seiner Erregung von der unerwarteten Weise bestürzt war, mit der das zauberhafte Wort alle Erinnerungen dieses Tages verknüpfte.

Dieses seltsame Geschöpf schien sogar im Wunderhofe die Herrschaft mit ihrer Anmuth und Schönheit auszuüben. Gauner und Diebinnen traten bei ihrem Eintritte ruhig auf die Seite, und ihre thierischen Gesichter erheiterten sich bei ihrem Anblicke.

Sie näherte sich mit schnellem Schritte dem Delinquenten. Ihre niedliche Djali folgte ihr. Gringoire war mehr todt, als lebend. Sie betrachtete ihn einen Augenblick schweigend.

»Ihr wollt diesen Mann hängen?« sagte sie düster zu Clopin.

»Ja, Schwester,« entgegnete der König von Thunes, »wofern du ihn nicht zum Manne nimmst.«

Sie machte mit der Unterlippe ihre reizende schnippische Bewegung.

»Ich nehme ihn,« sagte sie.

Gringoire glaubte in diesem Augenblicke fast, daß er seit dem Morgen nur geträumt habe, und daß, was jetzt geschah, die Fortsetzung dieses Traumes sei.

Der plötzliche Wechsel, wiewohl angenehm, war in der That heftig.

Man knüpfte die Schlinge los und ließ den Dichter vom Schemel herabsteigen. Er mußte sich niedersetzen, so heftig war die Gemüthsbewegung.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sprechen, einen irdenen Krug herbei. Die Zigeunerin reichte ihn Gringoire hin. »Werft ihn zur Erde,« sagte sie zu ihm.

Der Krug zerbrach in vier Stücke.

»Bruder,« sagte hierauf der Herzog von Aegypten und legte Beiden die Hände aufs Haupt, »sie ist dein Weib; Schwester, er ist dein Gatte. Auf vier Jahre. Gehet.«


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