Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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2. Paris aus der Vogelschau.

Wir haben es soeben versucht, diese wunderbare Kirche Notre-Dame zu Paris für den Leser neu herzustellen. Wir haben in Kürze die meisten Schönheiten angegeben, welche sie im fünfzehnten Jahrhunderte besaß, und die ihr heute fehlen; aber wir haben die Hauptsache vergessen: nämlich den Anblick von Paris zu schildern, welchen man damals von der Höhe seiner Thürme herab genoß.

In Wahrheit gab es, wenn man nach langem Umhertasten auf der finstern Wendeltreppe, welche senkrecht die dicke Mauer der Thürme durchbricht, endlich unvermuthet auf einer der beiden licht- und luftumflossenen Plattformen hervortauchte, kaum ein schöneres Bild als das, welches sich von allen Seiten auf einmal unter den Augen entrollte; ein Schauspiel »eigener Art«, von dem sich diejenigen unserer Leser leicht eine Vorstellung machen können, welche so glücklich gewesen sind, eine ganz gothische, vollständige, gleichartige Stadt zu sehen, wie es deren noch einige giebt, z. B. Nürnberg in Baiern, Vittoria in Spanien; oder selbst kleinere Muster, vorausgesetzt, daß sie wohl erhalten sind, wie Vitré in der Bretagne, Nordhausen in Preußen.

Das Paris von vor dreihundertundfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt. Wir täuschen uns gewöhnlich, wir Pariser, hinsichtlich der Bodenfläche, welche wir seitdem eingenommen zu haben glauben. Paris ist seit Ludwig dem Elften um nicht viel mehr, denn um ein Drittheil gewachsen; gewiß aber hat es weit mehr an Schönheit verloren, als es an Größe gewonnen hat.

Paris ist, wie man weiß, auf jener alten Insel der Altstadt entstanden, welche die Gestalt einer Wiege hat. Der Strand dieser Insel war seine erste Einfriedigung, die Seine sein erster Graben. Paris blieb mehrere Jahrhunderte auf die Insel beschränkt, hatte zwei Brücken: eine nach Norden, die andere nach Süden zu, und zwei Brückenköpfe, welche zugleich seine Thore und seine Festungswerke waren: Groß-Châtelet auf der rechten, Klein-Châtelet auf der linken Seite. Dann, seit den Königen aus der ersten Generation, überschritt Paris, dem es zu enge auf seiner Insel wurde, und das sich hier nicht mehr drehen und wenden konnte, den Fluß. Hierauf begann über Groß- und Klein-Châtelet hinaus, von beiden Ufern der Seine aus, eine erste Einfriedigung von Mauern und Thürmen in das Land hinein zu dringen. Von dieser alten Schutzmauer gab es im letzten Jahrhunderte noch einige Reste; heute existirt nur noch die Erinnerung daran und hier und da ein Ueberbleibsel, wie das Thor Baudets oder Baudoyer, lateinisch: porta Bagauda. Nach und nach überflutet, benagt, verzehrt und vertilgt die Häuserwoge, die stetig vom Herzen der Stadt nach außen gedrängt wird, diese Umfassungsmauer. Philipp August giebt ihr einen neuen Damm; er schließt Paris in eine Kreiskette von dicken, hohen und festen Thürmen ein. Länger als ein Jahrhundert hindurch drängen die Häuser sich aneinander, häufen sich und heben ihr Niveau in diesem Becken wie Wasser in einem Behälter. Sie beginnen tiefgehend zu werden, setzen Stockwerke über Stockwerke, übersteigen einander, sprudeln in die Höhe wie comprimirte Flüssigkeit, und jedes bestrebt sich, das Haupt über seine Nachbarn zu heben, um ein wenig frische Luft zu haben. Die Straße kreuzt und verengt sich mehr und mehr; jeder Platz füllt sich und verschwindet. Schließlich springen die Häuser über die Mauer Philipp Augusts hinaus, zerstreuen sich lustig in der Ebene, wie Flüchtlinge ohne Ordnung und Symmetrie. Hier thun sie sich zu Quartieren zusammen, umgeben sich im Gefilde mit Gärten und machen sich's bequem. In dieser Weise erweitert sich die Stadt seit 1367 derartig in die Vororte hinein, daß eine neue Einfassung nöthig wird, vornehmlich am linken Ufer: Karl der Fünfte baute sie. Aber eine Stadt, wie Paris, ist im anhaltenden Wachsthume. Nur solche Städte werden Hauptstädte. Sie sind Filter, in welche alle geographischen, politischen, sittlichen und intellectuellen Strömungen eines Landes, alle Triebe eines Volkes einmünden; Brunnen der Civilisation so zu sagen, aber auch Kloaken, wo Handel und Gewerbefleiß, Intelligenz und Bevölkerung, alles was Saft, was Leben, was Seele an einem Volke ist, zusammenfließt und ohne Aufhören sich aufhäuft, Tropfen um Tropfen, Jahrhundert um Jahrhundert. Die Mauer Karls des Fünften hat jedoch dasselbe Geschick, wie diejenige Philipp Augusts. Seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wird sie überschritten, überholt, und die Vorstadt eilt weiter. Im sechzehnten Jahrhunderte scheint es, als ob Paris augenscheinlich zurückwiche und sich mehr und mehr in die alte Stadt hineinzöge, so sehr rückt draußen schon eine neue Stadt zusammen. Seit dem fünfzehnten Jahrhunderte also, um hier zu verweilen, hatte Paris schon die drei concentrischen Mauerkreise verbraucht, welche seit der Zeit Julians des Apostaten, so zu sagen, als Keime in Groß- und Klein-Châtelet enthalten waren. Die mächtige Stadt hatte, ähnlich einem Kinde, welches wächst und die vorjährigen Kleidungsstücke zerplatzt, seine vier Mauergürtel bersten lassen. Unter Ludwig dem Elften sah man stellenweise in diesem Häusermeere einige Gruppen von Thurmruinen der alten Umfassungsmauern, die wie Hügelspitzen bei einer Ueberschwemmung, wie Inselgruppen des alten Paris, das im neuen versinkt, hervorragten.

Seitdem hat Paris zum Unglück für unsere Augen sich noch verändert; aber es hat nur eine Ringmauer mehr überschritten: diejenige Ludwigs des Fünfzehnten, jene Schmutz- und Kothmauer, die würdig des Königs, der sie gebaut, und werth des Dichter ist, der sie besungen hat:

Le mur murant Paris rend Paris murmurant.Wortspiel: Die Umfriedung von Paris macht Paris unzufrieden.

Im fünfzehnten Jahrhunderte war Paris noch in drei ganz unterschiedene und abgesonderte Städte getheilt, jede mit ihrer Physiognomie und Eigenthümlichkeit, mit ihren Sitten, ihren Gewohnheiten, ihren Privilegien und mit ihrer Geschichte: die Altstadt (la Cité), Südstadt (l'Université) und Nordstadt (la Ville). Die Altstadt, welche die Insel bedeckte, war die älteste, die kleinste, die Mutter der beiden andern und eingepreßt zwischen ihnen – man möge den Vergleich gestatten – wie eine kleine Alte zwischen zwei großen, schönen Mädchen. Die Südstadt oder das Universitätsviertel bedeckte das linke Ufer der Seine von La TournelleName des peinlichen Parlamentsgerichtes. bis zum Nesle-Thurme,Name eines Schlosses an der Seine. zwei Punkte, von denen der eine der Weinhalle, der andere der Münzstätte im heutigen Paris entsprechen. Ihre Ringmauer schweifte bogenförmig ziemlich weit in die Gegend hinaus, wo Julian seine ThermenDie Bäder des römischen Kaisers Julian, von denen heute noch Ueberreste im Hotel Cluny vorhanden sind. Anm. d. Übers. erbaut hatte. Der Hügel der heiligen Genoveva war mit eingeschlossen. Der äußerste Punkt dieser Mauerkrümmung war das Papstthor, d. h. ohngefähr die jetzige Baustelle des Panthéons. Die Nordstadt, welche den größten der drei Stadttheile von Paris ausmachte, nahm das rechte Ufer ein. Ihr Flußdamm, der jedoch buchtig oder an mehreren Stellen unterbrochen war, lief längs der Seine hin vom Thurm Billy bis zum Holzthurme, d. h. von der Stelle, wo heute der Vorrathsspeicher steht, bis zum Platze, wo die Tuilerien sich befinden. Diese vier Punkte, wo die Seine die Ringmauer der Hauptstadt durchschnitt: La Tournelle und der Nesle-Thurm zur Linken, der Thurm Billy und der Holzthurm zur Rechten, hießen vorzugsweise »die vier Thürme von Paris.« Die Nordstadt erstreckte sich noch tiefer in die Ländereien hinein, als die Südstadt. Der äußerste Punkt der Ringmauer der Nordstadt (derjenigen Karls des Fünften) lag bei den Thoren Saint-Denis und Saint-Martin, die heute noch an derselben Stelle sind.

Wie wir soeben bemerkt haben, war jede dieser drei großen Abtheilungen von Paris eine Stadt, aber eine zu besondere Stadt, um als vollständig gelten zu können; eine Stadt, welche jeder der beiden andern nicht entrathen konnte. Auch gewährten die drei jede für sich ein völlig gesondertes Aussehen. In der Altstadt waren die Kirchen im Ueberflusse, in der Nordstadt die Paläste, in der Südstadt die Lehranstalten. Um die untergeordneten Eigentümlichkeiten des alten Paris, z. B. die Scherereien des Wegeamtsrechtes hier zu übergehen, wollen wir im allgemeinen und nur durch Herausgreifen des Ganzen und Gewichtigen aus dem Chaos der städtischen Rechtspflege erzählen, daß die Insel dem Bischofe, das rechte Seineufer dem Vorsteher der Kaufmannsgilde oder dem Stadtvogte, das linke dem Universitätsrector unterstellt war. Der Oberrichter von Paris, ein königlicher, nicht Municipal-Beamter, wachte über das Ganze. In der Altstadt lag Notre-Dame, in der Nordstadt der Louvre und das Rathhaus, die SorbonneName eines Gebäudes mit den Hörsälen der theologischen Facultät. in der Südstadt. In der Nordstadt lagen die Kaufhallen, das Krankenhaus (Hotel Dieu) war in der Altstadt, die StudentenwieseDie Studentenwiese (Pré aux clercs), jetzt der Platz, wo der Faubourg Saint-Germain liegt, war Fecht- und Tummelplatz der Studenten im alten Paris. Anm. d. Übers. in der Südstadt. Jedes Verbrechen, das die Studenten am linken Ufer begingen, wurde auf der Insel im Justizpalaste abgeurtheilt und am linken Ufer, in Monfaucon, gesühnt, im Falle der Rector, sofern sich die Universität stark und der König schwach fühlte, nicht Einsprache erhob; denn es war ein Vorrecht der Studenten, in ihrem Bezirke gehangen zu werden. (Die meisten dieser Privilegien – um das im Vorbeigehen zu bemerken – und von denen es werthvollere giebt, als das eben genannte, waren den Königen durch Aufstände und Meutereien abgenöthigt worden. Es ist der uralte Hergang: der König giebt nur das zu, was das Volk ihm abpreßt. Es existirt eine alte Urkunde, welche, in Betreff der Treue, dies naiv so ausspricht: »Civibus fidelitas in reges, quae tamen aliquoties seditionibus interrupta, multa peperit privilegia.«)Lateinisch: Den Bürgern hat die Treue gegen die Könige, die zeitweilig jedoch durch Aufstände gestört wurde, viele Vorrechte verschafft.

Im fünfzehnten Jahrhunderte bespülte die Seine fünf Inseln im Stadtgebiete von Paris: die Insel Louviers, wo damals Bäume standen und heute sich nichts weiter als Gehölz befindet; die Kuhinsel und die Insel Notre-Dame, beide wüst bis auf eine elende Hütte, beide Lehen des Bischofs von Paris (im siebzehnten Jahrhunderte hat man aus diesen beiden Inseln eine einzige gemacht und bebaut, die nun Insel des heiligen Ludwig heißt); endlich diejenige der Altstadt, und an ihrer Spitze die kleine Insel des Kuhfährmannes, die seitdem unter dem Fundamente des Pont-Neuf verschwunden ist. Die Altstadt besaß damals fünf Brücken, drei auf der rechten Seite: die Notre-Dame-Brücke und die Wechslerbrücke, beide von Stein, die Müllerbrücke aus Holz; zwei auf der linken Seite: die Kleine Brücke von Stein, die Sanct-Michaelbrücke aus Holz, sämmtliche mit Häusern besetzt. Die Südstadt hatte sechs, von Philipp August erbaute Thore, nämlich vom Parlamentsgericht angefangen: das Thor Sanct-Victor, das Frauenhausthor, das Papstthor, das Sanct-Jacobsthor, das Sanct-Michaelthor, das Thor Saint-Germain. Die Nordstadt hatte gleichfalls sechs von Karl dem Fünften erbaute Thore, nämlich vom Billy-Thurme begonnen: das Thor Saint-Antoine, das Templerthor, das Thor Saint-Merlin, das Thor Saint-Denis, das Monmartrethor und das Thor Saint-Honoré. Alle diese Thore waren stark und schön dabei, ohne durch letzteres die Festigkeit zu beeinträchtigen. Ein breiter und tiefer, bei winterlichem Hochwasser stark flutender Graben, den die Seine mit Wasser versorgte, bespülte den Fuß der Mauern rings um ganz Paris herum. Nachts wurden die Thore geschlossen, der Fluß an beiden Außenpunkten der Stadt mit mächtigen eisernen Ketten gesperrt, und Paris schlief ruhig.

Aus der Vogelschau gesehen boten diese drei Stadttheile: Altstadt, Universitätsviertel und Nordstadt, jeder für sich dem Auge ein unentwirrbares Netz von sonderbar durch einander geschlungenen Straßen dar. Doch erkannte man auf den ersten Blick, daß diese drei Bruchstücke von Stadt ein einziges Ganze bildeten. Man sah sofort drei lange, parallele Straßen, die ohne Unterbrechung und Störung, fast in gerader Linie, auf einmal die drei Stadttheile von einem Ende bis zum andern durchschnitten, sie vom Süden zum Norden und die Seine entlang laufend verbanden, vereinigten, ineinanderzogen und -gossen, und ohne Aufenthalt die Bevölkerung von dieser in die Mauern von jener hinüberfluteten und dadurch aus den dreien eine einzige herstellten. Die erste dieser beiden Straßen lief vom Thore Sanct-Jacob bis zum Thore Sanct-Martin; sie hieß Sanct-Jacobsstraße in der Südstadt, Judenstraße in der Altstadt und Sanct-Martinsstraße in der Nordstadt; sie überschritt den Fluß zweimal: als Kleine Brücke und als Notre-Damebrücke. Die zweite dieser Straßen, welche La-Harpestraße auf dem linken Ufer, Faßbinderstraße auf der Insel, Sanct-Denisstraße auf dem rechten Ufer hieß, und als Sanct-Michelsbrücke über einen Arm der Seine, als Wechslerbrücke über den andern lief, zog sich vom Sanct-Michaelthore im Universitätsviertel bis zur Sanct-Denisbrücke in der Nordstadt hin. Beide Straßen waren, trotz so vieler verschiedenartiger Namen, doch immer nur zwei Straßen, aber die Haupt- und Stammstraßen, die zwei Pulsadern von Paris. Sämmtliche übrigen Verkehrsadern der dreiteiligen Stadt mündeten hier aus oder ein.

Unabhängig von diesen zwei diametralen Hauptstraßen, die ganz Paris in seiner Breite durchschnitten und der Hauptstadt völlig gemeinsam waren, hatten die Nord- und Südstadt jede ihre besondere Hauptstraße, welche in der Richtung ihrer Länge parallel mit der Seine liefen und gelegentlich die zwei »Hauptverkehrsadern« im rechten Winkel kreuzten. Demzufolge ging man in der Nordstadt vom Thore Saint-Antoine in gerader Linie bis zum Thore Saint-Honoré hinab; in der Südstadt vom Sanct-Victorthore bis zum Thore Saint-Germain. Diese zwei großen Straßen, die sich mit den beiden ersten kreuzten, bildeten die Unterlage, über welche das nach allen Seiten hin verschlungene, dichte und labyrinthische Straßennetz von Paris sich erstreckte. In dem unentwirrbaren Umrisse dieses Straßennetzes unterschied man übrigens bei aufmerksamer Betrachtung zwei Bündel breiter Straßen, die wie zwei Getreidegarben, von denen eine in der Süd-, die andere in der Nordstadt sich ausbreitete, von Brücke zu Brücke sich entfaltend hinliefen.

Etwas von diesem geometrischen Grundrisse ist noch heute zu erkennen.

Welchen Anblick bot dieses Ganze nun, aus der Höhe der Thürme von Notre-Dame gesehen, im Jahre 1482?

Das zu schildern wollen wir versuchen.

Für den Beschauer, welcher athemlos auf dieser Höhe ankam, bot sich dem Blicke zuerst eine verwirrende Menge von Dächern, Schornsteinen, Straßen, Brücken, Plätzen, Thurmspitzen und Thürmen dar. Alles fiel ihm auf einmal in die Augen: die abgestumpfte Zinne, das spitzzulaufende Dach, das auf den Mauerwinkeln schwebende Thürmchen, die steinerne Pyramide aus dem elften, der Schieferobelisk aus dem fünfzehnten Jahrhunderte, der runde und kahle Wartthurm, der viereckige, verzierte Kirchthurm, Großes und Kleines, Schwerfälliges und Zierliches. Der Blick verlor sich auf lange und vollständig in diesem Labyrinthe, wo jedes von seiner Originalität und Berechtigung, von seiner Eigenthümlichkeit und Schönheit zeugte, alles Kunst athmete, vom geringsten Hause an mit gemalter und von Steinmetzarbeit verzierter Vorderseite, mit Holzwerk auf der Außenseite, mit herausgerückter Pforte, mit überhängenden Stockwerken bis zum königlichen Louvre, der damals eine Colonnade von Thürmen besaß. Aber da lagen die Hauptmassen, die man unterschied, sobald das Auge sich in diesen Gebäudewogen zurechtzufinden begann.

Zuerst die der Altstadt. Die Häuserinsel der Altstadt ist, wie Sauvel sagt, der bei seinem sonst schwülstigen Stile zeitweilig recht glücklich in der Darstellungsweise ist, – »die Häuserinsel der Altstadt ist wie ein großes Schiff geformt, das im Schlamme aufgefahren ist und im Stromlauf der Seine festsitzt«. Wir haben eben erzählt, daß dieses »Schiff« zwischen beiden Flußufern im fünfzehnten Jahrhunderte von fünf Brücken geentert war. Diese Schiffsgestalt ist auch den Heraldikern aufgefallen; denn daher, und nicht von der Belagerung der Stadt durch die Normannen, stammt, zufolge Favyns und Pasquiers, das Schiff, welches das alte Wappen von Paris kennzeichnet. Für den, welcher es zu erklären weiß, ist die Wappenkunde bald eine Berechnung, bald eine Sprache. Die ganze Geschichte der zweiten Hälfte des Mittelalters ist in der Wappenkunde niedergeschrieben, ähnlich wie die Geschichte ihrer ersten Hälfte in der Symbolik der romanischen Kirchenbauwerke. Es sind die Hieroglyphen der Feudalherrschaft nach denen der Kirchenherrschaft.

Die Altstadt zeigte sich also zuerst dem Beschauer mit der Hinterfront nach Osten und der Vorderfront nach Westen. Nach der letztern hingewandt sah man eine endlose Reihe von alten Dächern vor sich, über denen, ähnlich dem Rücken eines Elephanten, der seinen Thurm trägt, die bleigedeckte Kuppel der Heiligen Kapelle mächtig sich rundete. Nur hier erschien dieser Kuppelbau als der kühnste, freieste, kunstvollste und zackenreichste Thurm, der jemals den Himmel durch seinen durchbrochenen Kegel sehen ließ. Ziemlich nahe vor Notre-Dame mündeten drei Straßen in den Vorhof, einen schönen Platz voll altertümlicher Häuser, ein. Auf der Südseite dieses Platzes neigte sich die furchenreiche und düstere Façade des Hôtel-Dieu; sein Dach schien mit Beulen und Warzen bedeckt zu sein. Dann erhoben sich rechts und links, nach Morgen und Abend zu, in dem doch so engen Umkreise der Altstadt, die Thürme seiner einundzwanzig Kirchen jeden Alters, jeder Gestalt, jeder Größe vom niedrigen und wurmstichigen, im romanischen Stile gehaltenen Glockenturme von Saint-Denis-du-Pas (carcer Glaucini) an, bis zu den schlanken Spitzen von Saint-Pierre-aux-Boeufs und Saint-Landry. Hinter Notre-Dame im Norden zeigten sich das Kloster mit seinen gothischen Galerien, im Süden die halbromanisch gehaltene Residenz des Bischofs, im Osten die wüste Spitze des Terrains. Ferner unterschied das Auge in diesem Meere von Häusern mit ihren hohen Fenstergiebeln von durchbrochenem Steine, welche damals selbst die äußersten Dachfenster der Paläste krönten, das Schloß, welches unter Karl dem Sechsten von der Stadt dem Juvenal-des-Ursins geschenkt worden war; ein Stück weiter davon die Theerdachhütten des Gemüsemarktes;Im Original: le marché Palus, der Marktplatz im Moore, jetzt le Marais, Name eines Quartiers im heutigen Paris. Anm. d. Uebers. weiter noch das neue Chorhaus von Saint-Germain-le-Vieux, welches 1458 durch ein Ende der Rue-aux-Febves erweitert wurde; dann sah man über freie Plätze hinweg einen Scheideweg, der vom Volke gesperrt wurde; einen an der Straßenecke errichteten Pranger; ein hübsches Stück Straßenpflaster, das Philipp August hatte herstellen lassen, jenes prächtige Plattenpflaster, welches in der Mitte der Bahn für die Pferde gelegt worden war und im sechzehnten Jahrhunderte leider durch die elende Sandaufschüttung, »Pflaster der Ligue« genannt, ersetzt wurde; dann einen öden Hinterhof mit einem jener durchsichtigen Treppenthürmchen, wie man sie im fünfzehnten Jahrhunderte baute, und wie man noch einen in der Rue-des-Bourdonnais sieht. Endlich, rechts von der heiligen Kapelle, gen Westen, streckte der Justizpalast am Ufer des Wassers seine Thurmgruppe in die Luft. Der Hochwald der königlichen Gärten, welche die westliche Spitze der Altstadt bedeckten, verbargen den Fährmannswerder. Was den Strom betrifft, so bemerkte man ihn von der Höhe der Notre-Damethürme kaum auf beiden Seiten der Altstadt: die Seine verschwand unter den Brücken, diese unter den Häusern.

Und wenn der Blick über diese Brücken hinaus flog, deren Hausdächer dem Auge moosig erschienen und vor der Zeit von den Wasserdünsten mit Schimmel überzogen waren, dann links nach der Südstadt sich zuwandte, so war das nächste Bauwerk, auf das er fiel, ein Haufen niedriger und umfangreicher Thürme: Klein-Châtelet, dessen gähnende Thorhalle an das Ende der Kleinen Brücke stieß; wenn dann der Blick des Beschauers das Ufer von Osten nach Westen, von La-Tournelle bis zum Nesle-Thurme überflog, traf er auf eine lange Häuserreihe mit geschnitztem Balkenwerke, buntfarbigen Fenstern, mit Stockwerken, die in die Straße heraustraten – ein unbegrenztes Zickzack von Bürgerhäusern, das häufig von der Mündung einer Straße, zeitweilig auch von der Front oder der Hinterseite eines großen steinernen Palastgebäudes unterbrochen wurde, das sich mit seinen Höfen und Gärten, Flügeln und Seitengebäuden mitten in diesem zusammengepreßten und dichten Häuserknäuel wie ein vornehmer Herr in einer Rotte Bauern spreizte. Fünf bis sechs dieser Palastgebäude standen am Quai, und zwar vom Lothringerhause an, das mit den Bernhardinern den großen Nachbarbezirk von La-Tournelle theilte, bis zum Palaste Nesle, dessen Hauptthurm das Terrain der Stadt Paris abgrenzte, und dessen spitze Dächer gewohnt waren, drei Monate des Jahres hindurch ihre dunkeln Giebelfelder von der rothglühenden Scheibe der Abendsonne vergoldet zu sehen.

Diese Seite der Seine zeigte übrigens von beiden den geringsten Handelsverkehr; die Studenten verursachten hier mehr Lärm und Gedränge, als die Gewerbetreibenden, und einen Quai gab es eigentlich nur von der Sanct-Michaelbrücke bis zum Nesle-Thurme. Der übrige Theil des Seineufers war theils nackter Strand, wie jenseits des Bernhardinerklosters, theils eine Häuserreihe, deren Grundmauern im Wasser standen, wie zwischen den beiden Brücken.

Großen Lärm verursachten hier die Wäscherinnen; sie schrien, schwatzten, sangen vom Morgen bis zum Abende am Ufer hin und klopften tüchtig die Wäsche, wie in unsern Tagen. Und diese Art Fröhlichkeit ist nicht die geringste in Paris.

Das Universitätsviertel war für das Auge ein Block. Es bildete von einem Ende bis zum andern ein gleichartiges und geschlossenes Ganze. Diese Tausende von dichtgedrängten, winkligen, aneinander klebenden, beinahe alle nach einer geometrischen Grundregel errichteten Dächer machten, aus der Höhe gesehen, den Eindruck einer Krystallisirung, die aus demselben Stoffe entstanden war. Das regellose Straßennetz zerriß diese Häusermasse nicht in so ungleiche Stücke. Die zweiundvierzig Hörsäle waren hier in ziemlich gleichmäßiger Weise vertheilt, und es gab deren hier überall. Die mannigfaltigen und interessanten Firste dieser schönen Gebäude waren das Erzeugnis der nämlichen Kunstrichtung, wie die schlichten Dächer, welche sie überragten, und im Grunde nichts weiter, als eine Wiederholung derselben geometrischen Figur in Quadrat- oder Kubikform. Sie variirten nämlich die Einheitlichkeit, ohne sie zu verwirren, bereicherten, ohne zu überladen; denn die Geometrie ist eine Harmonie. Einige schöne Hôtels erhoben hier und da ihre prächtigen Formen über die malerischen Dachstockwerke auf dem linken Flußufer: z. B. das Haus Nevers, das römische Haus, das Reimser Haus, die verschwunden sind, der Palast Cluny, welcher zum Troste jedes Künstlers noch vorhanden ist, und dessen Thurm man so thörichterweise vor einigen Jahren seines Helmes beraubt hat. Neben Cluny, diesem Palastbaue im romanischen Stile mit schönen Rundbogenformen, lagen die Thermen des Kaisers Julian. Dann befanden sich hier eine Menge Abteien von bescheidenerem Glanze und ernsterer Größe, die jedoch nicht weniger schön und vornehm, als die Palastbauten waren. Diejenigen, welche zuerst die Aufmerksamkeit erregten, waren die Berhardinerabtei mit ihren drei Thürmen; Sanct-Genoveva, deren heute noch vorhandener, vierkantiger Thurm das Verschwundene um so mehr bedauern läßt; dann die Sorbonne, halb Hörsaal halb Kloster, von dem das bewunderungswürdige Mittelschiff noch vorhanden ist; das schöne, vierflügelige Kloster der Mathuriner;Der Mathuriner-Orden war ein Mönchsorden des zwölften Jahrhunderts, der sich die Loskaufung gefangener Christensklaven zur Aufgabe gestellt hatte. Anm. d. Uebers. ferner dessen Nachbar: das Kloster des heiligen Benedict, in dessen Mauern man zwischen der siebenten und achten Auflage dieses Buches ein Theater zu eröffnen Veranlassung genommen hat; die Abtei der Franziskaner mit ihren drei ungeheuern, nebeneinander gestellten Giebeln; die der Augustinermönche, deren zierliche Zinne, nah dem Nesle-Thurme, das zweite reich durchbrochene Thurmgebäude, vom Westen aus gerechnet, auf dieser Seite von Paris bildete. Die Studiengebäude, die in Wirklichkeit ein Bindeglied zwischen Kloster und der Welt draußen bilden, hielten in ihrem anmuthigen Ernste, mit ihrer nicht so leichten Bildhauerarbeit, wie derjenigen der Palastbauten, und in ihrem weniger strengen Baustile, als dem der Klöster, die Mitte zwischen Bürgerhäusern und Abteien in der Gebäudereihe inne. Unglücklicherweise ist fast nichts mehr von diesen Baudenkmälern übrig, an denen die Gothik mit so viel Sicherheit Ueberfluß und Sparsamkeit verbunden hat. Die Kirchen (und sie waren glänzend und zahlreich im Universitätsviertel vorhanden, und gruppirten sich hier außerdem in allen Stilen der Baukunst von dem Rundbogen des heiligen Julian an bis zu den Spitzbogen des heiligen Severin), die Kirchen, sage ich, beherrschten das Ganze; und als eine weitere Harmonie in dieser einheitlichen Gesammtheit durchbrachen sie alle Augenblicke das vielfältige Zackenwerk von Spitzthurmzinnen, durchbrochenen Thürmen und frei aufsteigenden Helmen, deren Fluchtlinie auch nichts anderes, als eine prächtige Ueberfülle von spitzwinkligen Dächern war.

Der Boden des Universitätsviertels war hügelig. Der Sanct-Genovevaberg bildete hier im Südwesten einen mächtigen Zug, und es war, von der Höhe der Kirche Notre-Dame aus, interessant anzusehen, wie diese Menge enger und krummer Straßen (heute das »Lateinische Viertel«), diese Häuserklumpen, welche, nach allen Seiten von der Spitze des Höhenzuges ausliefen, sich regellos und fast senkrecht von den Bergseiten zum Flußufer hinabsenkten, wobei es den Anschein hatte, als ob einige hinunterstürzten, andere wieder in die Höhe kletterten, und alle sich aneinander klammerten. Ein fortwährendes Fluten zahlloser schwarzer Punkte, welche auf dem Pflaster durcheinander wogten, verursachte ein Drunter und Drüber vor den Blicken: es war die Bevölkerung der Stadt, die von der Höhe und in der Ferne gesehen, sich so ausnahm.

Endlich erblickte man in den Lücken zwischen diesen zahllosen Dächern, Zinnen und Häuservorsprüngen, welche die äußerste Fluchtlinie des Universitätsviertels in so eigenthümlicher Weise bogen, krümmten und unterbrachen, von Strecke zu Strecke ein mächtiges Stück moosige Mauer, einen dicken runden Thurm, ein Stadtthor mit Zinnen, welches die Festungsmauer bezeichnete: – es war die Mauer Philipp Augusts. Drüber hinaus grünten die Wiesen, liefen die Heerstraßen fort, an deren Seiten sich noch einige Vorstadthäuser hinzogen, die aber um so seltener wurden, je mehr sie sich entfernten. Einige dieser Vorstädte waren von Bedeutung: da war zunächst, seitwärts von La-Tournelle hin, der Flecken Saint-Victor mit seiner Bogenbrücke über die Bièvre, mit seiner Abtei, wo man die Grabschrift Ludwigs des Dicken (epitaphium Ludovici Grossi) las, seiner Kirche mit dem achteckigen Thurme, der von vier Eckthürmchen aus dem elften Jahrhunderte flankirt wurde (man kann einen diesem ähnlichen in Etampes sehen; er ist noch nicht niedergerissen); dann der Flecken Saint-Marceau, der schon drei Kirchen und ein Kloster hatte; dann, wenn man die Bièvremühle mit ihren vier weißen Mauern links liegen ließ, kam man in die Vorstadt Sanct-Jacob mit dem schönen Kreuze aus gemeißeltem Steine am Kreuzwege; erblickte die hübsche Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, die, damals im gothischen Stile erbaut, reizende Verzierungen aufwies; dann Saint-Magloire mit dem schönen Mittelschiffe aus dem vierzehnten Jahrhunderte, welches Napoleon in einen Heuboden verwandelte; endlich Notre-Dame-des-Champs, wo sich byzantinische Mosaiken befanden. Hatte man schließlich das Kloster der Karthäuser, ein reiches Bauwerk aus dem Jahrhunderte unseres Justizpalastes mit kleinen Beetgärten und den wenig besuchten Ruinen von Vauvert, im freien Felde liegen lassen, so fiel das Auge im Westen auf die drei im romanischen Stile gehaltenen Thürme von Saint-Germain-des-Prés. Der Flecken Saint-Germain, welcher schon eine große Gemeinde vorstellte, bildete fünfzehn bis zwanzig Hinterstraßen; der spitze Saint-Sulpicethurm bezeichnete eins der Enden des Fleckens. Ganz nahe unterschied man den vierseitigen Bereich des Marktplatzes von Saint-Germain, wo sich heute noch der Marktplatz befindet; dann den Pranger des Abtes, einen kleinen, hübschen runden Thurm, der durch ein kegelförmiges Bleidach entsprechend gekrönt wurde. Weiter davon lagen die Ziegelscheune, die Backhausstraße, welche nach dem Bezirksbackhause führte, dann die Mühle auf ihrem Hügel, schließlich das Spital, ein abseits gelegenes, kaum beachtetes Häuschen. Was aber den Blick vornehmlich auf sich zog und lange auf diesen Punkt fesselte, war die Abtei selbst. Unzweifelhaft ist, daß dieses Kloster, das nicht nur als Kirche, sondern auch als Lehnsherrschaft ein hohes Ansehen genoß, mit seinem Abteipalaste, in dem eine Nacht zu schlafen die Bischöfe von Paris sich glücklich schätzten, mit seinem Refectorium, dem der Baumeister das Ansehen, die Schönheit und die prachtvolle Rosette eines Münsters verliehen hatte, mit der hübschen Kapelle der heiligen Jungfrau, dem monumentalen Schlafsaale, den riesigen Gärten, mit seinem Fallgatter, seiner Zugbrücke, mit dem Kranze von Schießscharten, die dem Auge die ringsum grünenden Wiesen zeigten, mit seinen Hofräumen, in denen Gewappnete und goldstrotzende Chorgewänder durch einander schimmerten – dieses alles, das sich um drei hohe, im Rundbogenstile gebaute und auf gothischem Chore ruhende Thürme gruppirte, – dies alles, sage ich, machte unzweifelhaft am Horizonte ein prächtiges Bild.

Wenn man endlich, nach langer Betrachtung der Südstadt, sich dem linken Seineufer, der Altstadt, zuwandte, so nahm das Schauspiel plötzlich einen ganz andern Charakter an. Die Altstadt, in Wahrheit viel größer als das Universitätsviertel, war auch weit weniger ein Ganzes. Beim ersten Anblick sah man sie in mehrere, sonderbar getrennte Massen sich scheiden. Zunächst im Osten, in dem Theile der Stadt, welcher noch heutigen Tages seinen Namen von dem Moraste führt, in den Camulogenus den Cäsar hineinführte, befand sich ein Haufen palastartiger Gebäude. Diese Häusermasse erstreckte sich bis ans Ufer der Seine. Vier fast zusammenhängende Paläste: Jouy, Sens, Barbeau und das Haus der Königin, spiegelten ihre, von schlanken Thürmchen durchbrochenen Schieferdächer in der Seine. Diese vier Gebäude bedeckten die Strecke von der Straße Des-Nonaindières an bis zur Cölestinerabtei, deren Thurm sich zierlich über die Fluchtlinie ihrer Giebel und Zinnen erhob. Einige alte Hütten, die sich grünschimmernd vor diesen prächtigen Bauwerken zum Wasser hinneigten, wehrten dem Auge nicht, die schöngezierten Ecken ihrer Façaden, ihre großen, breiten Fensteröffnungen mit Steinkreuzen, ihre spitzbogigen und Statuen tragenden Thürhallen, ihre scharfkantigen, durchweg sauber behauenen Mauern und das ganze zierliche Tausenderlei der Baukunst zu schauen, das vornehmlich der gothischen Kunst den Anstrich giebt, als ob sie jeden Augenblick ihre Formverbindungen von frischem anfangen wolle. Hinter diesen Palastgebäuden lief nach allen Richtungen, theils getheilt, verpallisadirt und wie eine Citadelle mit Schießscharten versehen, theils wie eine Karthause hinter hohen Bäumen versteckt, die gewaltige und vielgestaltige Umfassungsmauer des bewunderungswürdigen Hôtels Saint-Pol hin, in dem die Könige von Frankreich zweiundzwanzig Prinzen vom Range des Dauphin und des Herzogs von Burgund nebst Dienerschaft und Gefolge mit aller Pracht beherbergen konnten, ohne die großen Barone, auch den Kaiser, wenn er Paris besuchte, und die Löwen mitzurechnen, welche besondere Unterkunft im königlichen Schlosse fanden. Es sei hier gleich bemerkt, daß eine fürstliche Wohnung zu damaliger Zeit aus nicht weniger denn elf Räumen, vom Prunkzimmer an bis zur Hauskapelle gerechnet, bestand, ganz zu geschweigen von den Corridoren, Badezimmern, Schwitzbädern und sonstigen »überflüssigen Räumlichkeiten«, mit denen jedes fürstliche Appartement versehen war; abgesehen von den besonderen Gärten jedes königlichen Gastes; nicht zu vergessen die Küchen, Vorratskammern, Anrichtezimmer, großen Speisesäle des Hauses, die Hinterhöfe, in denen sich, mit der Bäckerei und Hofkellerei, zweiundzwanzig Arbeitsräume befanden; ohne der Spielplätze aller Art für Lauf-, Ball- und Ringspiel, der Geflügelhäuser, Fisch- und Thierbehälter, der Pferde- und Kuhställe, der Bibliothekzimmer, der Rüstkammern und Gießereien Erwähnung zu thun. So war damals ein Königspalast, ein Louvre, ein Palast Saint-Pol beschaffen – eine kleine Stadt in der Altstadt. Von dem Thurme aus, wo wir uns befinden, betrachtet, gewährte der Palast Saint-Pol, wiewohl er hinter den vier großen Gebäuden, die wir soeben erwähnt haben, fast halb versteckt lag, einen noch sehr bedeutenden und wunderbaren Anblick. Man erkannte, trotz der geschickten Verbindung, welche Karl der Fünfte zwischen dem Hauptgebäude und seinem Palaste mittelst Glas- und Säulchengalerien hergestellt hatte, ganz deutlich drei einzelne Paläste in ihm: nämlich das Palais Petit-Musc mit der durchbrochenen Steinbalustrade, die das Dach so zierlich säumte; die Residenz des Abtes von Saint-Maur, welche mit ihrem großen Thurme, ihren Vertheidigungserkern, Schießscharten, den eisernen Bollwerken, mit dem Wappenschilde des Abtes über dem sächsischen Thore zwischen den Schränkbalken der Zugbrücke das Ansehen eines festen Schlosses hatte; endlich das Palais des Grafen von Etampes, dessen Wartthurm mit dem verfallenen Dache sich dem Auge so schartig wie ein Hahnenkamm darstellte. Hier und da sah man drei bis vier alte Eichen, die, gleich ungeheuern Blumenkohlköpfen, ein dichtes Ganzes bildeten; das Hin- und Hersegeln der Schwäne in den krystallenen Wogen der Fischteiche, die zwischen Dunkel und Licht sich hinstreckten; eine Reihe von Höfen, deren malerische Endseiten man erkannte; dann das Löwenhaus mit niedrigen Spitzbogen, die auf kurzen sächsischen Pfeilern ruhten, mit den eisernen Gittern und dem fortwährenden Gebrülle der Löwen; quer durch das Ganze hindurch den schuppenartig gedeckten Thurm der Ave-Maria-Kirche; zur Linken das Wohnhaus des Oberrichters von Paris mit seinen vier zierlich durchbrochenen Thürmchen auf den Ecken; endlich in der Mitte, im Hintergrunde, den eigentlichen Palast Saint-Pol mit den zahlreichen Façaden, den seit Karls des Fünften Zeit ununterbrochen folgenden Ausschmückungen, mit den bastardartigen Auswüchsen, durch die ihn die Phantasie der Baumeister seit zwei Jahrhunderten überladen hatte, mit allen Chorbauten seiner Kapellen, allen Zinnen seiner Galerien, den zahllosen Wetterfahnen nach allen vier Winden und mit den beiden hohen, dicht aneinanderstoßenden Thürmen, deren kegelförmiges, am Rande mit Schießscharten rings eingefaßtes Dach ihnen das Ansehen von spitzen Hüten gab, deren Krempe aufwärts gebogen ist.

Richtete sich das Auge dann weiter auf die Galerien dieses Palastamphitheaters, das sich weithin über den Boden erstreckte, so traf es, nachdem der Blick ein tiefes, das Häusermeer der Altstadt durchziehendes Thal überflogen hatte, welches den Lauf der Straße Saint-Antoine bezeichnete, auf das Haus Angoulême, einen ungeheuern Bau aus verschiedenen Zeitperioden, in dem sich ganz neue und glänzend helle Theile zeigten, welche sich in diesem Ganzen kaum anders, denn ein rother Flicklappen auf einem blauen Wamms ausnahmen. Das merkwürdig spitze und hohe Dach des neuen Palastbaues jedoch, das von Wasserrinnen in getriebener Arbeit übersäet und mit Bleiplatten gedeckt war, über die sich in tausendfachen phantastischen Arabesken funkelnde Zieraten aus vergoldetem Kupfer schlängelten – dieses sonderbar damascirte Dach, sage ich, erhob sich voll Anmuth mitten aus den dunkeln Ruinen des alterthümlichen Bauwerkes, dessen alte dicke Thürme durch die Zeit wie Tonnen ausgebaucht, in sich selbst vor Alter zusammensinkend und von oben bis unten geborsten, dicken, vollgepfropften Bäuchen glichen. Dahinter erhob sich der Thurmspitzenwald der Parlamentsgerichtsgebäude. Einen ähnlichen Anblick gab es in der ganzen Welt nicht: weder ChambordName des bekannten Dorfes (Departement Loir-et-Cher) mit weltberühmtem Schlosse, Stammsitz des bourbonischen Prätendenten Grafen Heinrich V († 1883 zu Frohsdorf). Anm. d. Uebers. noch die Alhambra boten etwas Zauberhafteres, Luftigeres, Wunderbareres, als diesen Wald von Thurmspitzen, Eckthürmchen, Kaminen, Wetterfahnen, von Spiral- und Schneckenformen, Lichtschlotthürmchen, die mit dem Locheisen ausgestanzt schienen, von Pavillons, von Spindelkuppeln, oder, wie man sie damals nannte, von »Thürmchen«, die alle an Gestalt, Höhe und Stellung verschieden waren. Man hätte das Ganze ein riesenhaftes Schachbrett nennen können.

Rechts von den Parlamentsgerichtsgebäuden sehen wir jene Verbindung ungeheurer, düsterschwarzer Thürme, die sich einer an den andern drängen und gleichermaßen von einem Zirkelgraben eingeschnürt sind; jenen weit mehr von Schießscharten als von Fenstern durchbrochenen Vertheidigungsthurm, jene beständig erhobene Zugbrücke, jenes immer geschlossene Fallgatter: – es ist die Bastille. Diese Sorte schwarzer Schlünde dort, die zwischen den Zinnen hervorspringen und man von weitem für Dachrinnen halten könnte, sind Kanonen. In ihrem Bereiche, am Fuße des furchtbaren Gebäudes, da liegt, versteckt zwischen seinen beiden Thürmen, das Thor Saint-Antoine.

Jenseits des Parlamentsgerichtes, bis zur Mauer Karls des Fünften hin, breitete sich mit reichen Rasen- und Blumenbeeten ein Sammetteppich von Gartenanlagen und königlichen Parks aus, in deren Mitte man an seinem Labyrinthe von Bäumen und Alleen den berühmten Garten Dädalus erkannte, den Ludwig der Elfte dem Doctor Coictier geschenkt hatte. Die Sternwarte des Doctors erhob sich über die Irrgänge des Gartens wie eine hohe, einzeln stehende Säule, die ein kleines Haus als Capital hatte. In diesem Studirzimmer haben sich schreckliche Sterndeutergeschichten zugetragen.

Hier liegt heutzutage die Place Royale. Wie bereits gesagt worden ist, füllte das Palastviertel, von dem wir dem Leser eine Idee damit zu geben versucht haben, daß wir wenigstens der hervorstechendsten Punkte Erwähnung thaten, den Winkel, welchen die Mauer Karls des Fünften mit der Seine im Osten bildete. Das Centrum der Nordstadt war mit einem Haufen von Bürgerhäusern besetzt. Hier mündeten in Wahrheit die drei Brücken der Altstadt auf das rechte Seineufer, und Brückenplätze lassen eher Häuser als Paläste entstehen. Dieser Haufen von Bürgerwohnungen, die wie die Wabenzellen in einem Bienenstocke aneinander klebten, hatte auch seine Schönheiten. Mit den Hausdächern einer Hauptstadt ist es, wie mit den Wogen des Meeres: beide sind großartig. Zunächst die Straßen. In ihrer Durchkreuzung und ihrem Gewirre bildeten sie, im Ganzen gesehen, Hunderte von allerliebsten Figuren; rings um die Markthallen herum boten sie das Bild eines Sternes mit zahllosen Strahlen. Die Straßen Saint-Denis und Saint-Martin stiegen mit ihren unzähligen Abzweigungen wie zwei mächtige Bäume, die ihre Zweige verschränken, nach einander in die Höhe, und dann schlängelten sich die Straßen de-la-Plâtrerie, de-la-Berrerie, de-la-Tixeranderie u. s. w. als gewundene Linien über das Ganze hinweg. Auch fanden sich schöne Gebäude, welche über das versteinerte Gewoge dieses Giebelmeeres hervorragten. Am Kopfe der Wechslerbrücke, hinter welcher man die Seine unter den Rädern der Müllerbrücke schäumen sah, lag das Châtelet, nun kein römisches Castell mehr, wie zu Julian des AbtrünnigenJulian der Abtrünnige (Apostata), römischer Kaiser (361-63 nach Chr. Geb.), trat vom Christenthume wieder zum Heidenthume über. Anm. d. Uebers. Zeit, sondern ein Thurm aus der Feudalperiode des dreizehnten Jahrhunderts und aus solch hartem Steine erbaut, daß die Spitzhacke nicht ein faustgroßes Stück in drei Stunden von ihm loszuschlagen vermochte. Ferner erblickte man den prächtigen, viereckigen Thurm von Saint-Jacques-de-la-Boucherie, dessen Ecken sich ganz in Steinmetzarbeiten abrundeten, und der sich damals schon bewunderungswürdig ausnahm, wiewohl er im fünfzehnten Jahrhunderte noch nicht beendet war. (Es fehlten ihm besonders diese vier Ungethüme, welche noch heutigen Tages auf seinen Dachwinkeln ruhend, das Aussehen von vier Sphinxen haben, die dem neuen Paris das Geheimnis des alten zu errathen geben. Rault, der Bildhauer, stellte sie erst 1526 dorthin, und er erhielt zwanzig Franken für seine Arbeit). Weiter fand sich da das Säulenhaus, das sich nach jenem Grèveplatz öffnete, von dem wir dem Leser eine Vorstellung gegeben haben; dann die Kirche Saint-Gervais, die seitdem durch ein Portal im »guten Stile« verhunzt worden ist; ferner Saint-Méry, dessen alte Spitzbogenwölbungen noch fast romanische Rundbogen zeigten; auch Sanct-Johannes, dessen prachtvoller Spitzthurm sprichwörtlich war; dazu kamen noch zwanzig andere Baudenkmäler, die etwas Besseres verdienten, als ihre Schönheitswunder in diesem Chaos von schwarzen, engen und langgezogenen Straßen zu verstecken. Hierzu denke man sich die Kruzifixe aus gemeißeltem Stein, die an den Straßenkreuzungen zahlreicher verschwendet waren, als die Galgen; dann den Kirchhof Des-Innocents, dessen architektonische Umfassungsmauer man über die Dächer hinweg in der Ferne bemerkte; weiter den Pranger der Markthallen, dessen Zinne man zwischen zwei Schornsteinen der Straße de-la-Cossonnerie hindurch erblickte; dann die Treppe zur Croix-du-Trahoir, die an ihrer Straßenecke immer schwarz von Bevölkerung war; die kreisförmig laufenden Mauern der Getreidehalle; weiter die Reste der alten Einfassungsmauer Philipp Augusts, die man, als in die Häuser eingebaut, noch hier und da unterschied; Thürme, die vom Epheu gesprengt waren; eingestürzte Pforten; Flächen von verfallenen und niedergerissenen Mauern; endlich den Quai mit seinen tausend Marktbuden und blutigen Schindergruben; schließlich die mit Kähnen bedeckte Seine vom Heulandungsplatze an bis zum Bischofsgerichtshause – und man wird eine blasse Idee von dem erhalten, was im Jahre 1482 das innere Rechteck der Altstadt von Paris vorstellte.

Außer diesen beiden Stadtvierteln: dem der Paläste und dem der Bürgerhäuser, erschien als dritter Punkt in dem Bilde, welches die Altstadt darbot, ein langer Gürtel von Abteien, der diesen Stadttheil fast in seinem ganzen Umkreise von Osten bis zum Westen umspannte, und im Rücken der Befestigungsmauer, welche Paris einschloß, diesem eine zweite, innere, aus Klöstern und Kapellen bestehende Umfriedigung gab. So befand sich unmittelbar neben dem Parke des Parlamentsgerichts, zwischen der Straße Saint-Antoine und der alten Templerstraße, das Kloster der Heiligen Katharina mit seinen ungeheuern Gartenanlagen, die nur durch die Festungsmauer von Paris abgegrenzt wurden. Zwischen der alten und neuen Templerstraße lag der Tempel, eine finstere Gruppe hoher Thürme, die mitten in einem umwallten Platze isolirt in die Höhe stiegen. Zwischen der neuen Templerstraße und der Straße Saint-Martin lag inmitten seiner Gärten die Abtei Saint-Martin, eine prächtige und feste Kirche, deren Bastionenwall, deren Krone von Glockentürmen hinsichtlich ihrer Stärke und Pracht nur denen von Saint-Germain-des-Prés nachstanden. Zwischen den beiden Straßen Saint-Martin und Saint-Denis breitete sich der Bezirk des Dreifaltigkeitsklosters aus, endlich zwischen der Straße Saint-Denis und der Straße Montorgueil derjenige des Klosters Filles-Dieu. Seitwärts davon unterschied man die niedrigen Dächer und die verfallene Umfassungsmauer des Wunderhofes. Er war das einzige profane Glied, welches sich in diese heilige Kette von Klöstern einreihte.

Als vierter Gesichtspunkt endlich, der augenfällig aus der Häusergruppe des rechten Seineufers heraustrat und den westlichen Winkel der Stadtmauer und das Flußufer stromab ausfüllte, zeigte sich ein neuer Knäuel von Palästen und dichtgedrängten Hotels um den Louvre herum. Der alte Louvre Philipp Augusts, jenes riesengroße Gebäude, dessen ungeheurer Mittelthurm dreiundzwanzig Hauptthürme, die kleinen Thürme gar nicht gerechnet, um sich vereinigte, – dieses Gebäude, sage ich, erschien von weitem wie eingekeilt in die gothischen Dachstockwerke der Palais d'Alençon und Petit-Bourbon. Diese Hyder von Thürmen, diese Riesenwächterin von Paris mit ihren vierundzwanzig stets erhobenen Köpfen, ihren ungeheuern, mit Blei- oder Schieferplatten gedeckten Dachfirsten, die ganz im metallischen Glanze schimmerten, schlossen in überraschender Weise das Bild der Nordstadt nach Westen ab.

Um es noch einmal zu wiederholen: eine ungeheuere Masse von Bürgerhäusern – die Römer bezeichneten das mit insula – nach rechts und links von zwei Palastgevierten in den Seiten gedeckt und auf der einen Seite vom Louvre, auf der andern vom Parlamentsgerichte gekrönt, im Norden von einer langen Reihe Abteien und bebauten Feldern begrenzt, und das Ganze für das Auge versteckt oder im bunten Gemisch; über diesen Tausenden von Gebäuden, deren Ziegel- und Schieferdächer so lange und bizarre Reihen bildeten, die buntfarbigen, kunstvoll gedeckten Glockenthürme der vierundvierzig Kirchen des linken Seineufers ragend; zahllose Straßen mitten hindurch oder als Grenze, auf einer Seite die Einfriedigung aus hohen, mit viereckigen Thürmen besetzten Mauern (im Universitätsviertel waren die Thürme rund); auf der andern Seite die überbrückte und von zahllosen hinsegelnden Kähnen durchschnittene Seine – das war die Nordstadt im fünfzehnten Jahrhunderte.

Jenseits der Mauern drängten sich einige Vororte an die Thore, jedoch in geringerer Anzahl und mehr vereinzelt, als diejenigen vor dem Universitätsviertel. Hinter der Bastille lagen zusammengekauert zwanzig Hütten um die merkwürdigen Steinmetzarbeiten von Croix-Faubin und um die Strebepfeiler der Abtei Saint-Antoine-des-Champs; ferner Popincourt in Getreidefeldern versteckt; dann La Courtille, ein freundliches Dorf voll Wirthshäuser; der Flecken Saint-Laurent mit seiner Kirche, deren Glockenturm sich von fern den Spitzthürmen des Thores Saint-Martin anzuschließen schien; weiter erblickte man den Vorort Saint-Denis mit dem großen Bezirke von Saint-Ladre; vor dem Thore Montmartre den Flecken Grange-Batelière von weißen Mauern eingeschlossen; hinter ihm Montmartre mit seinen Kreidebergen, das damals fast ebenso viel Kirchen als Mühlen besaß, und das nur die Mühlen bewahrt hat; denn die bürgerliche Gesellschaft trägt heute nur mehr nach dem leiblichen Brote Verlangen. Endlich sah man jenseits des Louvre, in den Auen, den Vorort Saint-Honoré sich hinziehen, der damals schon sehr beträchtlich war; dann die grünenden Gefilde von Petite-Bretagne und Marché-aux-Pourceaux sich erstrecken, in dessen Mitte sich der fürchterliche Glühofen erhob, in welchem die Falschmünzer gesotten wurden. Zwischen den Ortschaften La-Courtille und Saint-Laurent hatte das Auge auf der Spitze einer über einsame Gefilde sich hinziehenden Anhöhe schon eine Art Bauwerk gesehen, welches in der Ferne einer verfallenen Säulenhalle glich, die auf schadhafter Grundmauer sich erhob, – doch war es weder ein Parthenon, noch ein Tempel des olympischen Zeus: – es war Montfaucon.Name des berüchtigten Richtplatzes mit zahlreichen steinernen Galgen, an der Stelle eines keltischen Druidentempels. Anm. d. Uebers.

Wenn nun aber bei Aufzählung so vieler Baudenkmäler – von denen übrigens hier nur ein Ueberblick gegeben sein sollte – das Gesammtbild des alten Paris im Geiste des Lesers, und in dem Maße, wie wir es entrollten, nicht verwischt worden ist, so wollen wir es in wenigen Worten noch einmal wiederholen. In der Mitte liegt die Insel der Altstadt, welche in ihrer Gestalt einer Riesenschildkröte gleicht und die schuppigen Ziegelsteinbrücken wie Beine unter ihrem grauen Dächerrückenpanzer hervortreten läßt. Zur Linken sehen wir das aus einem einzigen Steinblocke bestehende, feste, dichte, vollgepfropfte Rechteck der Südstadt; zur Rechten den weiten Halbkreis der Nordstadt, weit mehr ein Gemenge von Gärten und Baudenkmälern. Die drei Häuserblöcke: Altstadt, Südviertel und Nordviertel, sind von zahllosen Straßen durchadert. Mitten hindurch in ihrer ganzen Länge die Seine, »die nahrungspendende Seine«, wie sie Pater Du Breul nennt, und in ihrem Laufe von Inseln, Brücken und Fahrzeugen gesperrt. Rings herum eine immense Ebene, zusammengeflickt aus tausenderlei verschiedenen Feldern und übersäet mit schönen Dörfern; zur Linken Issy, Vanvres, Vaugirard, Montrouge und Gentilly mit seinem runden und seinem viereckigen Thurme u. s. w.; zur Rechten zwanzig andere Ortschaften von Conflans an bis zu Ville-l'Évêque. Am Horizonte erblickt das Auge eine Hügelkette, die wie der Rand eines Wasserbeckens im Kreise sich herumzieht. In der Ferne, nach Osten zu, sieht man schließlich Vincennes und seine sieben viereckigen Thürme; südlich Bicêtre mit seinen spitzen Thürmchen; nördlich Saint-Denis und seine ragende Thurmspitze; zuletzt im Westen Saint-Cloud mit seiner Warte. Das ist das Paris, auf welches die Dohlenschwärme im Jahre 1482 von den Dächern der Kirche Notre-Dame herabsahen.

Und von dieser Stadt hat dennoch Voltaire behauptet, daß sie »vor der Zeit Ludwigs des Vierzehnten nur vier bedeutende Baudenkmäler besessen habe«, nämlich: das Kuppeldach der Sorbonne, Val-de-Grace, den neuen Bau des Louvre und ich weiß nicht mehr das vierte, wenn ich mich recht erinnere, das Palais Luxembourg. Glücklicherweise hat Voltaire bei alledem seinen »Candide« geschaffen und ist trotzdem unter allen Männern, die in der langen Kette des menschlichen Daseins einander gefolgt sind, derjenige, welcher das diabolische Lachen der Ironie am meisten besessen hat. Das beweist übrigens, daß man ein herrliches Genie sein und eine Kunst nicht verstehen kann, für die man keine Empfindung hat. Glaubte Molière nicht einem Raphael und Michel Angelo viel Ehre dadurch zu erweisen, daß er sie »diese MignardsPierre Mignard, seiner Zeit berühmter französischer Maler († 1695), Zeitgenosse Molière's. Anm. d. Uebers. ihres Zeitalters« nannte?

Doch wir wollen zu Paris und zum fünfzehnten Jahrhunderte zurückkehren.

Damals war Paris nicht nur eine schöne Stadt, es war auch eine Stadt von einheitlichem Charakter, ein Product der mittelalterlichen Baukunst und Geschichte, eine steinerne Chronik. Es war eine Stadt, die erst aus zwei Schichten gestaltet war: der romanischen und der frühgothischen; denn die römische Schicht war längst nicht mehr zu finden, mit Ausnahme an den Bädern Kaiser Julians, an denen sie noch aus der dicken Deckschicht des Mittelalters hervorbrach. Was die keltische Schicht betraf, so fanden sich selbst beim Brunnengraben keine Ueberreste mehr von ihr vor.

Fünfzig Jahre darauf, als die Renaissance mit dieser strengen und doch so vielgestaltigen Einheit den phantastisch-blendenden Reichthum ihrer Formensysteme, den kühnen Schwung ihrer romanischen Rundbogenformen, griechischen Säulenordnungen und spätgothischen Bogenspannungen, ihre anmuthige und doch so ideale Sculptur, die eigenthümliche Neigung für Arabesken und Laubverzierungen, den heidnischen Baustil im Zeitalter eines Luther zu verbinden begann, da war Paris vielleicht noch prächtiger, wenn auch nicht so harmonisch für Auge und Sinn. Aber dieser prächtige Zeitpunkt ging bald vorüber: die Renaissance wurde vorherrschend; sie begnügte sich nicht mehr damit, Bauwerke aufzuführen, sie wollte solche auch niederwerfen; wahr ist, daß sie Platz gebrauchte. Deshalb konnte Paris nur vorübergehend seinen gothischen Charakter bewahren. Kaum hatte man die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie vollendet, als auch die Schleifung des alten Louvre begann.

Seitdem hat die gewaltige Stadt angefangen, sich von Tag zu Tag zu verändern. Das Paris im gothischen Stile, unter welchem das romanische Paris verschwand, ist seinerseits vertilgt worden: aber wer kann sagen, was für ein Paris an seine Stelle getreten ist?

Das Paris aus der Zeit Katharinens von Medici erkennt man an den Tuilerien;Wir haben mit einem aus Schmerz und Unwillen gemischten Gefühle gesehen, wie man damit umging, diesen wunderbaren Palast zu erweitern, umzugestalten und immer wieder anzugreifen, das heißt zu vernichten. Die Baumeister unserer Tags haben eine viel zu plumpe Hand, um die zarten Werke der Renaissance berühren zu dürfen. Wir hoffen stetig, daß sie es nicht wagen werden. Im übrigen würde eine solche Verstümmelung heute nicht mehr eine brutale Gewaltthat sein, über die ein betrunkener Vandale erröthen müßte, es wäre ein Act der Verrätherei. Die Tuilerien sind einfach nicht mehr ein Hauptwerk der Kunst des sechzehnten Jahrhunderts, sie sind ein Blatt aus der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser Palast gehört nicht mehr dem Könige, sondern dem Volke. Lassen wir ihn so, wie er ist. Unsere Revolution hat ihn zweimal in der Fronte gezeichnet. An einer seiner beiden Façaden trägt er die Kugeln des 10. August, an der andern die des 20. Juli. Er ist geheiligt.

Paris, am 7. April 1831. Anm. des Autors zur fünften Auflage.
das Paris aus Heinrichs des Zweiten Zeit am Rathhause: Beides Gebäude in einem noch großartigen Stile; das Paris aus der Zeit Heinrichs des Vierten ersieht man an der Place Royale, an den backsteinernen Fronten mit Hartsteinecken und Schieferdächern – an den dreifarbigen Häusern; das Paris Ludwigs des Dreizehnten an Val-de-Grace mit seiner erdrückten und untersetzten Bauart, den korbhenkelartigen Wölbungen, die, ich weiß nicht, so was Bauchiges in der Säulenform und Buckliges in der Kuppeldachung haben; ferner das Paris Ludwigs des Vierzehnten im großen, reichen, goldstrotzenden und frostigen Invalidenhause; das Paris Ludwigs des Fünfzehnten in der Kirche Saint-Sulpice mit ihren Schneckenspiralen, Bänderknoten, Wolkenformen, Fadennudelverzierungen und Cichorienkrautputz – alles in Stein gemeißelt; das Paris Ludwigs des Sechzehnten im Panthéon, der schlecht copirten Sanct-Peterskirche in Rom (das Gebäude hat sich schief gesackt, und die Linienformen haben das nicht besser gemacht); weiter das Paris der Republik erkennt man im Gebäude der Arzneischule, einem traurigen Mischmasch aus griechischem und römischen Stile, das dem Colosseum oder dem Parthenon ähnelt, wie die Verfassung des Jahres III den Gesetzen des Minos, – in der Architektur nennt man diesen Stil »den Messidor-Stil«;Messidor-Stil hieß zur Zeit der ersten französischen Republik (unter dem Directorium) die plumpe Nachahmung der Antike in der Baukunst. Anm. d. Uebers. das Paris Napoleons erkennt man an der Place Vendôme: dieses ist erhaben – eine bronzene Säule, die aus Kanonen hergestellt ist; das Paris der Restauration endlich an der Börse, einer blendend weißen Säulenhalle, die einen völlig glatten Fries trägt, – das Ganze ein Viereck, welches zwanzig Millionen gekostet hat.

An jedes dieser eigenartigen Baudenkmäler schließt sich, zufolge einer Gleichförmigkeit des Stiles, der Form und der Stellung, eine bestimmte Häusermenge an, die in verschiedenen Stadtvierteln zerstreut liegen und welche das Auge des Kenners leicht unterscheidet oder nach ihrem Alter bestimmt. Wer zu sehen versteht, findet den Geist eines Jahrhunderts und die Physiognomie eines Königs selbst in der Form eines Thürklopfers wieder.

Das jetzige Paris hat demnach keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten, und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern. Daher verschwindet die historische Bedeutung seiner Bauweise täglich. Die Baudenkmäler werden hier immer seltener, und es scheint, daß man zusieht, wie sie, in der Häusermenge verschwindend, nach und nach verschlungen werden. Unsere Väter besaßen ein Paris aus Stein, unsere Kinder werden eins aus Gyps bekommen.

Was die neuern Baudenkmäler des gegenwärtigen Paris betrifft, so wollen wir uns gern bescheiden, ein Wort darüber zu verlieren. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß wir ihnen nicht die Bewunderung zollten, die sich schickt. Die Sanct-Genoveva-Kirche Soufflots ist jedenfalls die schönste Christstolle, die man jemals in Stein hergestellt hat. Der Palast der Ehrenlegion ist gleichfalls ein sehr bemerkenswertes Kunstwerk der Pastetenbäckerei. Die Kuppel der Getreidemarkthalle sieht wie eine englische Jockeimutze auf einer hohen Leiter aus. Die Thürme von Saint-Sulpice sind zwei riesige Clarinetten, und das ist so gut eine Form, wie jede andere: der Telegraph in seinem schiefen Zickzack bildet eine angenehme Abwechslung auf ihren Dächern. Saint-Roch besitzt ein Portal, das sich hinsichtlich der Pracht nur mit dem von Sanct-Thomas von Aquino vergleichen läßt. Jenes nennt auch eine Schädelstätte mit Statuen in einer Kellergruft und eine Monstranz aus vergoldetem Holze sein Eigenthum. Völlig wunderbare Dinge sind da noch zu nennen. Der Lichtschlotthurm im Labyrinthe des botanischen Gartens ist auch sehr genial ausgedacht. Was den Börsenpalast betrifft, welcher griechische Formen in seiner Säulenhalle, romanische in der Rundbogenform seiner Eingänge und Fenster, solche aus der Renaissance in seiner großen Korbhenkelwölbung aufweist, so ist dieser doch unzweifelhaft ein sehr regelrechtes und in wirklich reinem Stile gehaltenes Baudenkmal: Beweis dafür, daß es von einer AttikaIn der Baukunst: der Pfeileraufsatz, wandähnliche Aufbau über dem Gebälk einer Säulenordnung. Anm. d. Uebers. gekrönt ist, wie man solche nicht in Athen sah – eine hübsche schnurgerade Linie, die hier und da zierlich von Ofenschloten unterbrochen ist. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß, wenn es als Regel gilt, daß die Bauart eines Gebäudes seiner Bestimmung in der Weise entspricht, wie der Zweck obigen Bauwerkes sich beim bloßen Anblicke von selbst enthüllt, so braucht man sich nicht allzusehr über ein Gebäude zu wundern, das ebensowohl ein Königspalast wie ein Volksrepräsentantenhaus, Rathhaus, Gymnasium, eine Reitschule, Akademie, ein Lagerhaus, Gerichtshof, Museum, eine Kaserne, ein Mausoleum, ein Tempel oder ein Theater sein kann. Indessen ist es ein Börsengebäude. Ein Baudenkmal muß außerdem dem Klima angepaßt sein. Dieses ist augenscheinlich und im Hinblick auf unsern kalten und regnerischen Himmel aufgeführt. Es hat nach Art der orientalischen Häuser ein fast plattes Dach, weshalb es geschieht, daß man im Winter, wenn's schneit, das Dach fegt; und es ist ja sicher, daß ein Dach errichtet wird, um gefegt zu werden. Was jenen Zweck betrifft, von dem wir soeben gesprochen haben, so erfüllt es ihn in merkwürdiger Weise: es ist Börsengebäude in Frankreich, wie es Tempel in Griechenland gewesen wäre. Wahr ist, daß der Baumeister Mühe genug gehabt hat, das Zifferblatt der Uhr zu verbergen, welches die Reinheit der schönen Linien an der Façade beeinträchtigt hätte; aber als Ersatz hat man ja jene Säulenhalle dafür, die rings um das Gebäude sich herumzieht und unter welcher man an hohen kirchlichen Festtagen sich in würdiger Weise das Geheimnis der Börsensensale und Waarenmäkler deutlich machen kann.

Wir haben hier also ohne jeden Zweifel sehr prächtige Baudenkmäler. Bringen wir die Fülle schöner, unterhaltender und mannigfaltiger Straßen, wie die Rue de Rivoli, damit in Verbindung, so zweifle ich nicht, daß Paris, aus einem aufsteigenden Ballon gesehen, dem Auge jenen Reichthum an Linien, jenen Ueberfluß an Einzelnheiten, jene Mannigfaltigkeit an Bildern, jenes eigentümlich Großartige in der Einfachheit und Ueberraschende in der Schönheit bietet, welches ein Damebrett kennzeichnet.

So bewunderungswürdig Euch das heutige Paris bei alledem erscheinen mag, so ruft Euch das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, bauet es im Geiste wieder auf, blickt am Tage durch jene überraschende Reihe von Thurmspitzen, Kirch- und Glockenthürmen; gießet mitten in der ungeheuern Stadt die Seine mit ihren breiten, grünen und gelblichen Lachen aus, die dadurch schillernder als eine Schlangenhaut erscheint; theilt sie an der Spitze der Inseln; kräuselt sie unter den Bogen der Brücken; sondert das gothische Profil dieses alterthümlichen Paris zierlich auf einem azurnen Horizonte ab; lasset seinen Umriß in einem Winternebel, der sich an die zahllosen Schornsteine heftet, wogen; taucht die Stadt in eine tiefe Nacht und betrachtet das sonderbare Spiel von Finsternis und Licht in diesem düstren Häuserlabyrinthe; laßt einen Mondstrahl darauf fallen, der es undeutlich abgrenzt und die großen Thurmknöpfe aus dem Nebel hervortreten läßt; oder wiederholt diesen nächtlichen Schattenriß noch einmal, frischet die Tausende von spitzen Winkeln der Thurmdächer und Häusergiebel mit Schatten auf; lasset ihn auf dem kupferfarbigen Abendhimmel zackiger als eine Haifischkinnlade hervortreten: – und dann vergleichet!

Und wenn Ihr von der alten Stadt einen Eindruck haben wollt, wie ihn Euch die neue nicht mehr zu geben vermag, so steiget am Morgen eines hohen Festes, eines Oster- oder Pfingsttages mit Sonnenaufgang auf irgend einen erhabenen Punkt, von dem aus Ihr die ganze Stadt beherrschen könnt, und vernehmet den Weckruf des Glockengeläutes. Sehet, auf ein vom Himmel kommendes Zeichen, – denn die Sonne giebt es – diese tausend Kirchen auf einmal erbeben. Zuerst sind es vereinzelte Klänge, die von einer Kirche zur andern stiegen, wie wenn sich Musiker Zeichen geben, daß man anfangen will. Dann plötzlich sehet (denn in gewissen Augenblicken scheint auch das Ohr sein Gesicht zu haben), sehet es sich im nämlichen Augenblicke von jedem Thurme wie eine Tonsäule, wie eine Harmoniewolke erheben. Anfangs steigt die Schwingung jeder Glocke gerade, rein und gleichsam von den andern isolirt, zum glänzenden Morgenhimmel empor; dann vereinigen sie sich nach und nach anschwellend, vermischen sie sich mehr und mehr, verbinden sie sich eine mit der andern und verschmelzen zu einem grandiosen Concerte. Jetzt ist es nur noch eine Tonmasse von wohllautenden Schwingungen, die unaufhörlich von den zahllosen Thürmen aufsteigt, die dahinflutet, wogt, hüpft, über die Stadt hinwirbelt und weit über den Horizont hinaus den Kreis seiner betäubenden Schwingungen dahinsendet. Doch ist dieses Meer von Harmonien durchaus kein Chaos. So gewaltig und tief es sein mag, hat es doch seine Durchsichtigkeit nicht verloren: Ihr sehet darin jede Notengruppe für sich einzeln hervorschwirren und aus dem Glockengeläute sich loslösen. Dabei könnt Ihr ein Duett zwischen Baßglocke und Glöckchen vernehmen, das abwechselnd dumpf und kreischend ertönt; Ihr sehet da die Octavgänge von einem Thurme zum andern schnellen; sehet sie geflügelt, leicht und sausend sich von der Silberglocke emporschwingen, schwerfällig und dumpf aus der hölzernen Glocke herausfallen; Ihr bewundert in ihrer Fülle die reiche Scala, welche unaufhörlich in den sieben Glocken von Saint-Eustache auf- und abläuft; mitten durch ihre Klänge sehet Ihr helle und stürmische Tongänge laufen, welche drei oder vier glänzende Zickzacks bilden und wie Blitzstrahle verschwinden. Da unten die markerschütternde, kreischende Sängerin, das ist die Abtei Saint-Martin, hier die widerwärtige und mürrische Stimme der Bastille, am andern Ende der mächtige Thurm des Louvre mit seiner Barytonglocke. Das Glockenspiel des königlichen Palastes wirft unablässig nach allen Seiten hin glänzende Triller hinaus, zwischen welche im gleichen Tempo die schweren Schläge der Sturmglocke von Notre-Dame einfallen, ähnlich den Schlägen des Hammers auf den funkensprühenden Ambos. In Zwischenräumen vernehmt Ihr Töne aller Art hindurchklingen, die von den drei Glocken der Kirche Saint-Germain-des-Prés herrühren; dann theilt sich auch von Zeit zu Zeit die Flut grandioser Töne und giebt dem Finale der Ave-Maria-Kapelle Raum, das wie eine Sternfeuergarbe blitzend hindurchbricht. Unter ihm, in der tiefsten Tiefe des Tönegewoges, unterscheidet Ihr den Gesang im Innern der Kirchen, der durch die Oeffnungen ihrer zitternden Wölbungen dringt. – Wahrlich, es ist das eine Oper, die anzuhören sich der Mühe verlohnt. Gewöhnlich ist es das Getöse, welches aus Paris am Tage hervordringt; das ist die Stadt, welche redet; nachts ist das die Stadt, welche athmet: hier ist es die Stadt, welche singt. Leihet also diesem Glocken-Tutti das Ohr, vertheilet über dieses Ensemble das Gemurmel von einer halben Million Menschen, das beständige Klagelied der Flußwogen, das endlose Rauschen des Windes, das ferne und tiefe Quartett der vier Wälder, die über die Hügel am Horizonte ausgebreitet liegen wie ungeheure Orgelpositive; dämpfet in diesem Ganzen, wie in einem Gemälde durch Halbfärbung, alles das, was an diesem Geläute ringsherum zu rauh und schreiend sein könnte, und dann gestehet, ob Ihr in der Welt etwas Reicheres, Entzückenderes, Glänzenderes und Blendenderes kennt, als dieses Geläute und Glockengetös, als diesen Musikfeuerstrom, als diese zehntausend erzenen Stimmen, die auf einmal in den dreihundert Fuß hohen Steinflöten singen; als diese Stadt, die jetzt nur ein Orchester ist; als diese Symphonie, welche das Getöse eines Sturmes erzeugt!


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