Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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2. Peter Gringoire.

Die Genugthuung und die Bewunderung, welche sein Costüm überall hervorgerufen hatte, verschwanden jedoch während seiner Ansprache; und als er mit den unglücklichen Worten schloß: »Wir werden anfangen, sobald seine Hochwürden, der Herr Cardinal angekommen sein wird,« verschwand seine Stimme in einem donnernden Hohngeschrei.

»Fangt auf der Stelle an! Das Schauspiel! Auf der Stelle das Schauspiel!« schrie das Volk. Und über alle Stimmen hinweg hörte man diejenige des Johannes von Molendino, welche den Tumult durchdrang wie die Pfeife bei einer Katzenmusik in Nîmes: »Sofort anfangen!« kreischte der Student.

»Nieder mit Jupiter und dem Cardinal von Bourbon!« schrien Robin Poussepain und die andern im Fensterkreuz hockenden Studiosen.

»Sofort die Aufführung!« wiederholte die Menge, »sofort, auf der Stelle! Galgen und Rad für die Schauspieler und den Cardinal!«

Der arme Jupiter, verwirrt, bestürzt und unter seiner Schminke erbleichend, ließ seinen Donnerstrahl niederfallen und nahm seinen Helm in die Hand; dann grüßte er zitternd und stotterte heraus: »Seine Eminenz . . . die Gesandten . . . Frau Margarethe von Flandern . . .« Er wußte nicht, was sagen. Er fürchtete auch, gehangen zu werden. Gehangen durch den Pöbel, wenn er zögerte, gehangen vom Cardinal, wenn er früher angefangen hätte. So sah er von zwei Seiten einen Abgrund, d. h. den Galgen. Glücklicherweise erschien jemand, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen und die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen.

Ein Mensch, welcher sich diesseits des Geländers in dem rings um die Marmorplatte freigelassenen Raume befand, und den noch niemand bemerkt hatte, so vollständig war seine dürre, lange Figur für jedes Auge von dem Durchmesser der Säule, an welche er sich gelehnt hatte, verborgen worden, – dieser ziemlich große, magere, bleiche, blonde, trotz Falten an Stirn und Wangen noch junge Mann mit glänzenden Augen und lächelndem Munde, in schwarze, vom Alter abgenutzte und glänzende Sarsche gekleidet, näherte sich der Marmorplatte und gab dem armen Dulder ein Zeichen. Dieser aber, in seiner Bestürzung, sah ihn nicht.

Der Ankömmling trat einen Schritt näher.

»Jupiter! mein lieber Jupiter!« rief er.

Dieser hörte aber nichts.

Endlich schrie ihm der große Blonde ungeduldig geworden fast ins Gesicht:

»Michel Giborne!«

»Wer ruft mich?« sagte Jupiter erschrocken, wie aus dem Schlafe erwachend.

»Ich,« antwortete der Schwarzgekleidete.

»Ah!« sagte Jupiter.

»Fangt gleich an,« fuhr jener fort. »Stellt das Volk zufrieden; ich übernehme es, den Herrn Palastvogt zu beschwichtigen, der wieder den Herrn Cardinal beschwichtigen wird.«

Jupiter athmete auf.

»Meine Herren Bürger,« rief er mit aller Kraft seiner Lungen der Menge zu, welche fortfuhr, ihn zu verhöhnen, »wir wollen sogleich beginnen.«

»Evoe Jupiter! Plaudite civesLateinisch: Hurrah Jupiter! Klatscht Beifall, Bürger! Anm. d. Uebers. schrien die Studenten.

»Juchhe! Juchhe!« schrie das Volk.

Ein betäubendes Händeklatschen begann, und Jupiter war schon hinter den Vorhang zurückgekehrt, als der Saal noch vom Beifallsgeschrei erzitterte.

Unterdessen war der Unbekannte, der auf so magische Weise »den Sturm in Stille« verwandelt hatte, wie unser alter, lieber Corneille sagt, bescheiden in das Halbdunkel seines Pfeilers zurückgekehrt, und würde dort unsichtbar, unbeweglich und stumm wie zuvor geblieben sein, wenn ihn von hier nicht zwei junge Frauenzimmer, die in der Vorderreihe der Zuschauer standen, und die sein Zwiegespräch mit Michel Giborne-Jupiter beobachtet hatten, weggelockt hätten.

»Meister,« sagte die eine von ihnen, die ihm mit der Hand ein Zeichen gab, heranzukommen . . .

»Schweiget doch, liebe Liénarde,« sagte ihre reizende, junge und in ihrem Sonntagsstaate stattlich geputzte Nachbarin; »das ist kein Gelehrter, sondern ein Laie; und Ihr dürft nicht Meister,»Meister« war im Mittelalter die Anrede für Gelehrte, Künstler &c. Anm. d. Uebers. sondern müßt vielmehr Herr sprechen!«

»Herr,« sagte Liénarde.

Der Unbekannte trat an das Geländer.

»Was wünscht ihr von mir, liebe Fräulein?« fragte er eifrig.

»Oh! nichts,« sagte Liénarde ganz verwirrt, »meine Nachbarin Gisquette la Gencienne ist es, die Euch sprechen will.«

»Ganz und gar nicht,« versetzte Gisquette erröthend, »Liénarde hat Euch Meister gerufen, und ich sagte ihr, daß man Herr sagen müßte.«

Die beiden jungen Mädchen schlugen die Augen nieder. Jener der nichts angelegentlicher wünschte, als ein Gespräch anzuknüpfen, sah sie lächelnd an.

»Ihr habt mir also nichts zu sagen, werthe Fräulein?«

»Oh! ganz und gar nichts,« antwortete Gisquette.

»Nein, nichts,« sagte Liénarde.

Der große blonde junge Mann trat einen Schritt zurück; aber die beiden Neugierigen hatten nicht Lust, die Beute fahren zu lassen.

»Mein Herr,« sagte Gisquette lebhaft und mit dem Ungestüm einer sich öffnenden Schleuse oder eines Weibes, die einen Entschluß faßt, »Ihr kennt also den Soldaten, der die Rolle der heiligen Jungfrau im Schauspiele geben wird?«

»Ihr wollt sagen die Rolle Jupiters?« entgegnete der Unbekannte.

»Ei, ja!« sagte Liénarde, »die Thörichte! Ihr kennt also den Jupiter?«

»Michel Giborne?« antwortete der Unbekannte; »ja, werthes Fräulein.«

»Er hat einen prächtigen Bart!« sagte Liénarde.

»Wird das hübsch sein, was man da oben sprechen wird?« fragte schüchtern Gisquette.

»Sehr schön, mein Fräulein,« entgegnete der Unbekannte ohne das geringste Zaudern.

»Was wird es denn sein?« sagte Liénarde.

»Das gerechte Urtheil der heiligen Jungfrau, ein moralisches Stück, wenn's beliebt, mein Fräulein.«

»Ah! das ist etwas andres!« versetzte Liénarde.

Ein kurzes Schweigen folgte. Der Unbekannte unterbrach es:

»Es ist ein ganz neues Stück, und noch gar nicht gegeben.«

»Es ist also nicht dasselbe,« versetzte Gisquette, »welches man vor zwei Jahren, beim Einzuge des Herrn päpstlichen Gesandten gegeben hat, und in welchem drei hübsche Mädchen Rollen gaben . . .«

»Sirenen,« sagte Liénarde.

»Und ganz nackt –« fügte der junge Mann hinzu.

Liénarde schlug verschämt die Augen nieder. Gisquette sah sie an und machte es ebenso. Er fuhr lächelnd fort:

»Das war sehr spaßhaft zu sehen. Das heutige Schauspiel ist expreß für das gnädige Fräulein von Flandern gemacht.«

»Wird man Liebeslieder singen?« fragte Gisquette.

»Pfui!« sagte der Unbekannte, »in einem moralischen Stücke? Man darf die Gattungen nicht verwechseln. Wenn es eine Posse wäre, allerdings!«

»Schade!« entgegnete Gisquette. »Damals gab es an der Fontaine von Ponceau wilde Männer und Frauen, welche mit einander kämpften, mehrere Gruppen aufführten und kleine Arien und Liebeslieder sangen.«

»Was für einen päpstlichen Gesandten paßt,« sagte ziemlich trocken der Unbekannte, »paßt nicht für eine Prinzessin.«

»Und neben ihnen,« fuhr Liénarde fort, »spielten mehrere dumpfe Instrumente prächtige Melodien.«

»Und zur Erfrischung der Vorübergehenden,« fuhr Gisquette fort, »spie die Fontaine aus drei Mündungen Wein, Milch und Gewürzwein aus, wovon trank wer wollte.«

»Und ein wenig unterhalb Ponceau, bei der Trinité,« sagte Liénarde, »gab es ein Stück aus der Leidensgeschichte Christi, von stummen Personen aufgeführt.«

»Ja, ich erinnere mich!« rief Gisquette, »der Herr am Kreuze und die beiden Schächer links und rechts.«

Jetzt begannen die beiden Schwätzerinnen, in der Erinnerung an den Einzug des Herrn Legaten sich ereifernd, beide auf einmal zu sprechen.

»Und weiter vorwärts bei der Malerpforte waren andere sehr reich geschmückte Personen zu sehen.«

»Und bei der Fontaine Saint-Innocent der Jäger, welcher eine Hindin unter lautem Hundegebell und Hörnerschall verfolgte.«

»Und bei dem Schlachthause von Paris die Gerüste, welche die Burg von Dieppe vorstellten.«

»Und weißt du, Gisquette, als der Legat vorüberkam, spielte man die Erstürmung und allen Engländern kostete es die Köpfe.«

»Und nach dem Thore des Châtelet hin waren sehr schöne Figuren zu sehen!«

»Und auf der Wechslerbrücke, die oben ganz mit Teppichen behangen war.«

»Und als der Legat vorüberzog, ließ man auf der Brücke mehr als zweihundert Dutzend Vögel aller Art fliegen; das war herrlich, Liénarde.«

»Heute wird's viel schöner sein,« fuhr endlich der Unbekannte fort, welcher ihnen anscheinend mit Ungeduld zuhörte.

»Ihr versprecht uns, daß dies Schauspiel schön sein wird?« sagte Gisquette.

»Ohne Zweifel,« antwortete er; dann fügte er mit einem gewissen Nachdrucke hinzu: »Meine Fräulein, der Verfasser desselben bin ich.«

»Wahrhaftig?« riefen die jungen Mädchen ganz erstaunt.

»Gewiß!« antwortete der Dichter, indem er sich vornehm in die Brust warf; »das heißt, wir sind zwei: Johann Marchand, der die Bretter zugeschnitten, das Gerüst des Theaters und das Holzwerk aufgebaut hat, und ich, der das Stück gemacht hat. Ich heiße Peter Gringoire.«

Der Dichter des »Cid« hätte mit nicht mehr Stolz sagen können: »Peter Corneille.«

Unsere Leser haben bemerken können, daß schon eine gewisse Zeit verflossen sein mußte seit dem Augenblicke, wo Jupiter hinter den Vorhang zurückgekehrt war, und der Verfasser des neuen Stückes sich so plötzlich der naiven Bewunderung Gisquettens und Liénardens offenbart hatte. Sonderbare Thatsache! Diese ganze, wenige Minuten zuvor so unbändige Menge wartete jetzt mit Sanftmuth auf das Wort des Schauspielers hin; was die ewige und in unsern Theatern noch alle Tage erprobte Wahrheit darthut, daß das beste Mittel, das Publikum geduldig warten zu machen, das ist, ihm zu erklären, daß man sofort beginnen werde.

Jedoch der Student Johannes ließ sich nicht in Sicherheit einwiegen.

»Holla, he!« schrie er auf einmal mitten in der ruhigen Erwartung, die dem Lärme gefolgt war: »Jupiter, heilige Jungfrau, Teufelsgaukler, wollt Ihr uns foppen? Das Stück, das Stück! Fangt an oder wir beginnen von neuem!«

Mehr brauchte es nicht.

Eine Musik von lauten und gedämpften Instrumenten ließ sich aus dem Innern des Gerüstes heraus vernehmen; der Vorhang hob sich; vier geputzte und geschminkte Personen traten hervor, kletterten die steile Theaterleiter hinauf und stellten sich, auf der obern Plattform angekommen, in einer Linie vor dem Publikum auf, welches sie mit tiefer Verbeugung begrüßten. Jetzt schwieg die Symphonie. Das Stück begann nun.

Nachdem die vier Personen das Beifallsklatschen für ihre Verbeugungen reichlich eingeerntet hatten, begannen sie unter andächtigem Schweigen der Hörer einen Prolog, mit dem wir den Leser bereitwillig verschonen wollen. Uebrigens beschäftigte sich das Publikum, wie heutzutage noch geschieht, mehr mit den Costümen, welche sie trugen, als mit der Rolle, die sie vortrugen; und in Wahrheit, es war in der Ordnung. Sie waren alle vier in halb gelbe und halb weiße Gewänder gekleidet, die sich von einander nur durch die Beschaffenheit des Stoffes unterschieden; die eine war in Gold- und Silberbrokat, die andere in Seide, die dritte in Wolle, die vierte in Leinwand gekleidet. Die erste Person trug ein Schwert in der Rechten, die zweite zwei goldne Schlüssel, die dritte eine Wage, die vierte einen Spaten; und um den beschränkteren Köpfen, welche die Bedeutung dieser Attribute nicht vollkommen klar hätten begreifen können, zu Hilfe zu kommen, konnte man unten auf der brokatenen Robe in großen, schwarzgestickten Buchstaben lesen: »Ich bin der Adel«; unten auf der seidenen: »Ich bin die Geistlichkeit«, auf der wollenen: »Ich bin der Handel« und auf der leinenen: »Ich bin die Arbeit«. Das Geschlecht der beiden männlichen Figuren war für jeden urteilsfähigen Zuschauer an den weniger langen Gewändern und an der Mütze angedeutet, welche sie auf dem Kopfe trugen, während die beiden weiblichen Erscheinungen nicht so kurz gekleidet und mit einer Haube geschmückt waren.

Es hätte viel böser Wille dazu gehört, um aus dem Inhalte des Prologs nicht zu begreifen, daß die Arbeit mit dem Handel, die Geistlichkeit mit dem Adel vermählt war, und daß die zwei glücklichen Paare gemeinsam einen prächtigen Golddelphin hatten, den sie nur mit der Schönsten zu verbinden beabsichtigten. Sie zogen also durch die Welt, auf der Suche nach dieser Schönheit, und nachdem sie nach und nach die Königin von Golkonda, die Prinzessin von Trapezunt, die Tochter des Groß-Kans von der Tartarei u. s. w. u. s. w. verworfen hatten, waren Arbeit und Geistlichkeit, Adel und Handel nach dem Justizpalaste gekommen, um sich auf der Marmorplatte niederzulassen, und vor einem verehrungswürdigen Publikum so viele Sittensprüche und Maximen auszukramen, wie man damals bei der Facultät der freien Künste, in den Prüfungen, wo die Meister ihre Doctorhüte erlangten, Trugschlüsse, Determinationen, Redefiguren und Disputationen an den Mann bringen konnte.

Alles das war wahrhaftig sehr schön.

In dieser ganzen Menschenmenge jedoch, über welche die vier Erscheinungen um die Wette Fluten von Gleichnisreden ausschütteten, gab es kein aufmerksameres Ohr, kein klopfenderes Herz, kein unstäteres Auge, keinen gereckteren Hals, als Auge, Ohr, Hals und Herz des Autors, des Dichters, dieses braven Peter Gringoire, welcher kurz zuvor dem Entzücken nicht hatte widerstehen können, den beiden hübschen Mädchen seinen Namen zu nennen. Er war nicht weit von ihnen entfernt hinter seinen Pfeiler zurückgekehrt, und dort hörte, sah und verschlang er. Der wohlwollende Beifall, mit welchem der Vortrag seines Prologs aufgenommen worden war, tönte noch in seinem Innern nach, und er war ganz von jener Art verzückter Betrachtung hingerissen, mit welcher ein Autor seine Gedanken, einen nach dem andern, von den Lippen des Schauspielers in die Stille eines ungeheueren Auditoriums fallen hört. Würdiger Peter Gringoire!

Es thut uns leid, es zu sagen, aber diese erste Verzückung wurde sehr bald gestört. Kaum hatte Gringoire seine Lippen an den berauschenden Becher der Freude und des Triumphes gelegt, als ein Wermuthstropfen hineinfiel.

Ein zerlumpter Bettler, welcher nicht hatte einsammeln können, weil er mitten im Gedränge sich befand, und der zweifelsohne in den Taschen seiner Nachbarn keine hinreichende Entschädigung gefunden hatte, war auf den Gedanken gekommen, irgend einen sichtbaren Platz zu suchen, um die Blicke und Almosen auf sich zu lenken. Er hatte sich deshalb während der ersten Verse des Prologes mit Hilfe der Pfeiler, welche sich an der Gesandten-Tribüne befanden, auf das Karniß geschwungen, welches den untern Theil derselben begrenzte; und da hatte er sich niedergelassen, um Aufmerksamkeit und Mitleiden der Menge durch seine Lumpen und eine scheußliche Wunde am rechten Arme auf sich zu ziehen. Uebrigens sprach er kein Wort.

Das Stillschweigen, welches er beobachtete, ließ den Prolog ohne Störung vorübergehen, und keine merkliche Unordnung wäre eingetreten, wenn das Unglück nicht gewollt hätte, daß der Student Johannes von der Höhe seines Pfeilers den Bettler und seine Firlefanzereien gesehen hätte. Ein tolles Lachen packte den jungen Taugenichts, welcher, unbesorgt darum, das Schauspiel zu unterbrechen und die allgemeine Aufmerksamkeit zu stören, frech ausrief:

»Seht da den Elenden, der um ein Almosen bittet!«

Wer je einmal einen Stein in eine Froschpfütze geworfen, oder eine Flinte auf einen Vogelschwarm abgefeuert hat, kann sich einen Begriff von der Wirkung machen, welche diese unpassenden Worte bei der allgemeinen Stille hervorbrachten. Gringoire fuhr zusammen, wie von einem elektrischen Schlage getroffen. Der Prolog blieb stecken, und alle Köpfe wendeten sich heftig nach dem Bettler um, der, ohne die Fassung zu verlieren, in diesem Zwischenfalle gute Gelegenheit zu einer Ernte erblickte, und mit schmerzlicher Miene und halbgeschlossenen Augen zu rufen anfing:

»Eine milde Gabe, wenn's beliebt!«

»Ei aber . . . bei meiner Seele,« versetzte Johannes, »das ist Clopin Trouillefou. Holla, Freund, deine Wunde genirte dich wohl am Beine, daß du sie auf den Arm gelegt hast?«

Bei diesen Worten warf er mit der Geschicklichkeit eines Affen ein kleines Silberstück in den schmierigen Filz, den der Bettler mit seinem kranken Arme hinhielt. Der Bettler nahm das Almosen und die beißenden Worte unbeirrt hin, und fuhr mit kläglicher Stimme fort: »Gebt mir ein Almosen, ich bitte!«

Dieser Zwischenfall hatte die Hörerschaft sehr zerstreut; und eine ziemliche Anzahl Zuschauer, Robin Poussepain und alle Studenten an der Spitze, klatschten diesem sonderbaren Duett lustig Beifall, welches, mitten im Prolog, der Student mit seiner kreischenden Stimme und der Bettler in seinem beharrlichen Klagetone eben improvisirt hatten.

Gringoire war sehr mißgestimmt. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt hatte, ermannte er sich und rief den vier Personen auf der Bühne zu: »Fahret fort, zum Teufel, fahret fort!« ohne auch nur sich gemüßigt zu fühlen, einen verächtlichen Blick auf die zwei Störenfriede zu werfen.

In diesem Augenblicke fühlte er sich am Saume seines Oberkleides gezogen; er wandte sich nicht ohne eine gewisse Uebellaune um, mußte aber, wenn auch widerwillig, lachen. Es war der hübsche Arm der Gisquette la Gencienne, welche über das Geländer hinweg auf diese Weise seine Aufmerksamkeit reizte.

»Mein Herr,« sagte das junge Mädchen, »werden die da fortfahren?«

»Gewiß,« entgegnete Gringoire von dieser Frage ziemlich beleidigt.

»In diesem Falle, Herr,« fuhr sie fort, »habt Ihr wohl die Güte, mir zu erklären . . .«

»Was sie sagen werden?« unterbrach sie Gringoire. »Nun gut! hört nur zu!«

»Nein!« sagte Gisquette, »aber was sie bis jetzt gesprochen haben.«

Gringoire that einen Satz, wie ein Mensch, dessen offene Wunde man berührt.

»Daß dich die Pest, du dummes, vernageltes Ding!« murmelte er zwischen den Zähnen.

Von diesem Augenblicke an hatte es Gisquette bei ihm vollständig verdorben.

Indessen hatten die Schauspieler seinem energischen Befehle Folge geleistet, und das Publikum, welches sah, daß sie wieder zu sprechen anfingen, hatte begonnen zuzuhören; viele Schönheiten waren ihm aber bei der Art Zusammenlöthung der zwei Theile des so schändlich unterbrochenen Stückes verloren gegangen. Gringoire machte die bittere Bemerkung ganz in der Stille. Dennoch war die Ruhe nach und nach wiederhergestellt; der Student schwieg, der Bettler zählte einiges Geld im Hute, und das Stück hatte seinen Fortgang genommen.

Es war in der That ein sehr schönes Werk, aus dem man, wie uns bedünkt, noch heute mit kleinen Aenderungen sehr wohl Nutzen ziehen könnte. Die Erfindung des Stückes war, wenn auch nach den Regeln der Kunst ein wenig lang und dürftig, einfach; und Gringoire bewunderte vor dem lauteren Heiligthume seines geistigen Richterstuhles deren Durchsichtigkeit. Wie man sich wohl denken mag, waren die vier allegorischen Gestalten ein wenig ermüdet von ihrem Zuge durch die drei Welttheile, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, sich ihres Golddelphines angemessen entledigen zu können. Nun kam eine Lobrede auf den wunderbaren Fisch, mit tausend feinen Anspielungen auf den jungen Bräutigam Margarethens von Flandern, der damals höchst jämmerlicherweise in Amboise eingeschlossen war, und sich wohl nicht träumen ließ, daß Arbeit und Geistlichkeit, Adel und Handel soeben seinetwegen eine Fahrt durch die Welt gemacht hätten. Besagter Delphin also war jung, schön, tapfer und vor allem – herrlicher Ursprung aller königlichen Tugenden! – er war der Sohn des Löwen von Frankreich. Ich erkläre, daß dieses kühne Gleichnis bewunderungswürdig ist, und daß die Naturgeschichte des Theaters, an einem Tage, der für verblümte Rede und königliches Hochzeitsgedicht bestimmt ist, nicht irgendwie an einem Delphine Anstoß nimmt, welcher der Sohn eines Löwen ist. Das sind eben die seltenen und pindarischen Vermengungen, welche den Enthusiasmus zeigen. Nichtsdestoweniger, um auch noch etwas Tadel unter das Lob zu mischen, hätte der Dichter diesen schönen Gedanken in etwa zweihundert Versen aussprechen können. Es ist wahr, daß das Schauspiel nach Anordnung des Herrn Oberrichters von zwölf Uhr mittags bis um vier Uhr dauern sollte, und nothwendigerweise wohl etwas gesagt werden mußte. Außerdem hörte man geduldig zu.

Auf einmal, mitten in einem Streite zwischen Frau Handel und Frau Adel, im Augenblicke, wo Meister Arbeit folgenden wunderbaren Vers sprach:

»Nie sah man in Wäldern ein stolzeres Thier« –

öffnete sich ganz zur Unzeit die Thür zu der reservirten Tribüne, welche bis dahin leider geschlossen geblieben war, und die lautschallende Stimme des Thürhüters meldete hastig: »Seine Eminenz, der hochwürdige Herr Cardinal von Bourbon.«


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