Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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7. Eine Hochzeitsnacht

Nach Verlauf einiger Minuten befand sich unser Dichter in einem kleinen, gothisch gewölbten, wohl verschlossenen und gut geheizten Zimmer; er saß an einem Tische, welcher deutlich zu sagen schien, man möge einige Anleihen bei dem ganz in der Nähe hängenden Speiseschränkchen machen; ein gutes Bett hatte er vor sich; zusammen war er mit einem hübschen Mädchen. Das Abenteuer grenzte an Zauberei. Er fing an, sich allen Ernstes für eine Person aus den Feenmärchen zu halten; von Zeit zu Zeit warf er die Blicke um sich her, wie um zu suchen, ob der von zwei Drachen gezogene Flammenwagen, der ihn allein so schnell aus der Unterwelt in das Paradies hatte versetzen können, noch da wäre. Manchmal auch heftete er seine Blicke hartnäckig auf die Löcher seines Wammses, um sich an die Wirklichkeit anzuklammern und um den Boden unter seinen Füßen nicht ganz und gar zu verlieren. Sein in der Traumwelt irrender Verstand hielt sich nur noch an diesem Faden fest.

Das junge Mädchen schien gar nicht auf ihn zu achten; sie kam, ging, verstellte einen Schemel, plauderte mit ihrer Ziege und verzog dann und wann den Mund. Schließlich setzte sie sich neben den Tisch und Gringoire konnte sie nach Belieben in Augenschein nehmen.

Lieber Leser, du bist Kind gewesen, und du bist vielleicht so glücklich, es noch sein zu können. Mehr als ein Mal wohl (und ich für meinen Theil habe ganze Tage, ja die schönsten meines Lebens damit zugebracht) bist du von Strauch zu Strauch, am Ufer eines muntern Baches, an einem sonnigen Tage hinter einer schönen grünen oder blauen Libelle hergesprungen, wenn sie im schnellen Zickzack herumschwirrte und die Spitzen aller Zweige berührte. Du erinnerst dich, mit welch lieblicher Neugierde dein Gedanke, dein Blick an diesem pfeifenden und summenden Gaukler hingen, der mit seinen purpurfarbigen und azurnen Fittichen, mit seinem unfaßbaren Leibe fast in der Schnelligkeit seiner Bewegung verschwand. Das luftige Wesen, das undeutlich in dem Schwirren seiner Fittiche hervorblitzte, erschien dir eingebildet, erträumt, unfaßbar, unsichtbar. Aber wenn sich die Libelle schließlich auf der Spitze eines Rohrhalmes niederließ, und du mit verhaltenem Athem die langen Gazefittiche, den langen Emailleib, die zwei Krystallkugeln betrachten konntest, welch Erstaunen empfandest du nicht und welche Furcht, das zarte Wesen von neuem als Schatten und Traum verschwinden zu sehen? Vergegenwärtige dir diese Eindrücke, und du kannst dir leicht von dem Rechenschaft geben, was Gringoire empfand, als er in sichtbarer und greifbarer Gestalt diese Esmeralda betrachtete, die er bis dahin nur in einem Strudel von Tanz, Gesang und Lärm gesehen hatte.

Immer mehr in seine Träume versunken, sagte er sich, als er ihr flüchtig mit den Augen folgte: »Das also ist diese ›Esmeralda‹! Ein himmlisches Geschöpf! Eine Straßentänzerin! So viel und so wenig! Sie ist es, die heute Morgen meinem Schauspiele den Todesstoß versetzt hat, und heute Abend hat sie mir das Leben gerettet. Mein böser Genius! Mein guter Engel! . . . Ein reizendes Weib, meiner Treu! . . . und die närrisch in mich verliebt sein muß, daß sie mich in dieser Verfassung genommen hat. Da fällt mir ein,« sagte er, indem er in jener Empfindung der Wahrheit, die das Wesen seines Charakters und seiner Philosophie ausmachte, sich aufrichtete, »ich bin ja ihr Mann!«

Mit diesem Gedanken im Kopfe und in den Blicken, näherte er sich dem jungen Mädchen in so muthiger Liebhaberweise, daß sie zurückwich.

»Was wollt Ihr denn von mir?« sagte sie.

»Könnt Ihr mich darnach fragen, anbetungswürdige Esmeralda?« antwortete Gringoire mit solch leidenschaftlichem Tone, daß er selbst erstaunte, als er sich reden hörte.

Die Zigeunerin machte große Augen. »Ich verstehe nicht, was Ihr sagen wollt.«

»Ach was!« entgegnete Gringoire, der immer feuriger wurde und meinte, daß er es jetzt nur mit einer Unschuld aus dem Wunderhofe zu thun habe, »gehöre ich nicht dir, süße Freundin? du nicht mir?«

Und er griff sie ganz dreist um den Leib.

Das Leibchen der Zigeunerin glitt wie eine Aalhaut in seine Hände. Sie sprang mit einem Satze in die andere Ecke der Zelle, bückte sich und richtete sich mit einem kleinen Dolche in der Hand wieder in die Höhe, ehe Gringoire nur Zeit gehabt hatte, zu sehen, woher dieser Dolch kam; – gereizt und stolz, mit aufgeworfenem Munde und weiten Nüstern, hochgerötheten Wangen und blitzenden Augen stand sie da. Zugleich stellte sich das weiße Zickchen vor ihr auf und neigte drohend ihre zwei kleinen, sehr spitzen und vergoldeten Hörner gegen Gringoire. Alles das geschah in einem Augenblicke. Das Mädchen wurde zur Wespe, und wünschte nichts sehnlicher, als zuzustechen.

Unser Philosoph stand sprachlos da und betrachtete blöden Auges bald die Ziege, bald das junge Mädchen. »Heilige Jungfrau!« sagte er endlich, als die Ueberraschung ihm die Sprache wiedergab, »das sind mir zwei entschlossene Geschöpfe!«

Die Zigeunerin brach ihrerseits das Schweigen:

»Du mußt ein sehr dreister Narr sein!«

»Verzeiht, gutes Mädchen,« sagte Gringoire lächelnd, »aber warum habt Ihr mich denn zum Manne genommen?«

»Sollte ich dich hängen lassen?«

»So?« entgegnete der in seinen verliebten Hoffnungen ein wenig enttäuschte Dichter, »Ihr habt, als Ihr mich zum Manne nahmt, keinen anderen Gedanken gehabt, als mich vom Galgen zu retten?«

»Und welch andern Gedanken sollte ich gehabt haben?«

Gringoire biß sich auf die Lippen. »Wohlan,« sagte er, »ich bin noch nicht so siegreich mit Cupido, wie ich glaubte. Aber wozu hat man denn eigentlich den armen Krug zerbrochen?«

Währenddessen verhielten sich der Dolch der Esmeralda und die Hörner der Ziege immer noch abwehrend.

»Jungfer Esmeralda,« sagte der Dichter, »wir wollen uns vertragen. Ich bin kein Gerichtsschreiber am Châtelet und werde Euch nicht deswegen schikaniren, daß Ihr innerhalb von Paris, und allen Befehlen und Verboten des Herrn Oberrichters zum Trotz, einen Dolch bei Euch führt. Ihr wißt aber doch wohl, daß Noel Lescrivain vor acht Tagen zu einer Strafe von zehn Pariser Sols verurtheilt worden ist, weil er ein Stilet getragen hat. Doch geht das mich nichts an; ich komme jetzt zur Hauptsache. Ich schwöre Euch bei meinem Antheile am Paradiese, ohne Genehmigung und Erlaubnis Euch nicht zu nahe zu treten; aber gebt mir zu essen.«

Im Grunde war Gringoire, wie Herr Despréaux, »sehr wenig wollüstig«. Er besaß nicht jene ritterliche und soldatische Art, welche junge Mädchen im Sturme erobert. In Sachen der Liebe, wie in jeder andern Angelegenheit, war er fürs Zeitabwarten und für den Mittelweg; und ein gutes Abendbrot in liebenswürdiger Gesellschaft erschien ihm, namentlich wenn er Hunger hatte, als eine vortreffliche Pause zwischen Prolog und Entwicklung eines Liebesabenteuers.

Die Zigeunerin antwortete nicht. Sie verzog spöttisch den Mund, hob den Kopf wie ein Vogel, brach dann in lautes Gelächter aus, und der niedliche Dolch verschwand, wie er gekommen war, ohne daß Gringoire sehen konnte, wo die Biene ihren Stachel verbarg. Bald darauf standen ein Roggenbrot, ein Stück Speck, einige zusammengeschrumpfte Aepfel und eine Kanne Bier auf dem Tische. Gringoire fing an mit Gier zu essen. Wer das emsige Klappern seiner eisernen Gabel und des irdenen Tellers hörte, hätte meinen sollen, seine ganze Liebe habe sich in Appetit verwandelt.

Das junge Mädchen saß ihm gegenüber und sah seinem Treiben schweigend zu; sichtbar mit einem andern Gedanken beschäftigt lächelte sie zeitweilig dazu, während ihre zarte Hand den Kopf der klugen Ziege streichelte, die sich sanft an ihre Knien geschmiegt hatte.

Eine gelbe Wachskerze beleuchtete diese Scene des Heißhungers und der Träumerei.

Als Gringoire das Knurren seines Magens vorläufig befriedigt hatte, empfand er jedoch etwas falsche Scham, als er sah, daß nur ein einziger Apfel übrig war. »Ihr eßt nicht, Jungfer Esmeralda?«

Sie antwortete mit einem Kopfschütteln, und ihr träumerischer Blick heftete sich an die Wölbung der Zelle.

»Womit, ins Teufels Namen, ist sie beschäftigt,« dachte Gringoire, der ihrem Blicke folgte. »Unmöglich kann es die im Schlußsteine der Deckenwölbung ausgehauene Zwergfratze sein, welche ihre Aufmerksamkeit so in Anspruch nimmt. Was Teufel! damit kann ich den Vergleich auch aushalten!«

Er erhob seine Stimme: »Jungfer!«

Sie schien ihn nicht zu hören.

Er wiederholte noch einmal lauter: »Jungfer Esmeralda!«

Vergebliche Mühe. Der Geist des jungen Mädchens war abwesend, und die Stimme Gringoire's hatte nicht die Macht, ihn zurückzurufen. Glücklicherweise legte sich die Ziege ins Mittel. Sie fing an, ihre Herrin sanft am Aermel zu zupfen.

»Was willst du, Djali?« fragte die Zigeunerin lebhaft, wie plötzlich erwacht.

»Sie hat Hunger,« sagte Gringoire, erfreut eine Unterhaltung anfangen zu können.

Die Esmeralda begann Brot zu zerbrocken, welches Djali zierlich aus ihrer hohlen Hand fraß.

Uebrigens ließ ihr Gringoire keine Zeit, wieder in ihre Träumerei zu versinken. Er wagte eine kitzliche Frage.

»Ihr wollt mich also nicht zu Eurem Manne?«

Das junge Mädchen sah ihn fest an und antwortete: »Nein.«

»Zu Eurem Liebhaber?« fuhr Gringoire fort.

Sie verzog den Mund und antwortete: »Nein.«

»Zu Eurem Freunde?« fuhr Gringoire fort.

Sie sah ihn noch einmal fest an und sagte nach kurzem Bedenken: »Vielleicht.«

Dieses »Vielleicht«, das so werthvoll für die Philosophen ist, ermuthigte Gringoire.

»Wißt Ihr, was die Freundschaft ist?« fragte er.

»Ja,« antwortete die Zigeunerin, »es heißt Bruder und Schwester sein; zwei Seelen, welche einander treffen, ohne sich zu verwirren; die zwei Finger an der Hand.«

»Und was die Liebe?« fuhr Gringoire fort»

»Ach! die Liebe!« sagte sie, und ihre Stimme zitterte, und ihr Auge glänzte. »Das heißt Zwei sein und doch nur Eins. Mann und Weib, welche sich in einen Engel vereinigen. Es ist der Himmel.«

Die Straßentänzerin war, während sie so sprach, von einer Schönheit, die Gringoire lebhaft ergriff, und erschien ihm im vollkommenen Einklange mit der fast orientalischen Glut ihrer Worte. Ihre rosigen und keuschen Lippen lächelten halbgeöffnet; über die reine und heitere Stirn zog auf Augenblicke der Ernst des Gedankens, wie der Hauch über einen Spiegel; und von ihren langen, schwarzen, gesenkten Wimpern strahlte ein eigener, unerklärlicher Schimmer, der ihrem Antlitze jene ideale Anmuth verlieh, welche seitdem Raphael gerade als das geheimnisvolle Merkmal von Jungfräulichkeit, Mutterschaft und Göttlichkeit enthüllte.

Gringoire bewarb sich trotzdem um sie.

»Wie muß man denn beschaffen sein, um Euch zu gefallen?«

»Man muß ein Mann sein.«

»Und ich,« sagte er, »was bin ich denn?«

»Ein Mann hat den Helm auf dem Kopfe, den Degen in der Faust und goldene Sporen an den Fersen.«

»Gut,« sagte Gringoire, »ohne Pferd kein Mann. Habt Ihr Gefallen an jemandem gefunden?«

»Ja, Liebe!«

»Liebe?«

Sie stand einen Augenblick nachdenklich da; dann sagte sie mit eigenthümlichem Nachdrucke: »Ich werde das bald erfahren.«

»Warum heute Nacht nicht?« entgegnete nun zärtlich der Dichter, »warum nicht ich?«

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu.

»Ich werde nur einen Mann lieben können, den mich zu beschützen wissen wird.«

Gringoire erröthete und ließ es sich gesagt sein. Es war klar, daß das junge Mädchen auf den geringen Beistand anspielte, welchen er ihr in jener bedenklichen Lage geleistet, in der sie sich vor zwei Stunden befunden hatte. Die Erinnerung, die durch die andern Ereignisse des Abends ein wenig geschwunden war, kehrte bei ihm wieder. Er schlug sich an die Stirn.

»Ganz recht, Jungfer; ich hätte damit anfangen sollen. Verzeihet mir meine alberne Zerstreutheit. Wie habt Ihr's denn angefangen, um den Klauen Quasimodo's zu entwischen?«

Diese Frage machte die Zigeunerin zittern.

»Ach! der entsetzliche Bucklige!« sagte sie und verbarg das Gesicht in den Händen.

Und sie schauderte wie vom Frost geschüttelt.

»Entsetzlich in der That,« sagte Gringoire, der nicht von seinem Gedanken abging, »aber wie habt Ihr ihm entwischen können?«

Die Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg.

»Wißt Ihr, warum er Euch gefolgt war?« entgegnete Gringoire, der auf einem Umwege auf seine Frage zurückkommen wollte.

»Ich weiß es nicht,« sagte das junge Mädchen. Und sie fügte schnell hinzu: »Aber sagt, warum folgtet auch Ihr mir nach?«

»Aufrichtig gestanden,« entgegnete Gringoire, »ich weiß es auch nicht.«

Es entstand eine Pause. Gringoire kratzte mit dem Messer auf dem Tische. Das junge Mädchen lächelte und schien durch die Mauer hindurch etwas zu erblicken. Plötzlich begann sie mit kaum verständlicher Stimme zu singen:

Quando las pintadas aves
Mudas estan, y la tierra
. . .Spanisch: Wenn die bunten Vögel schweigen,
Oed' und todt die weite Welt . . . Anm. d. Uebers.

Auf einmal brach sie ab und begann Djali zu liebkosen.

»Ihr habt da ein hübsches Thier,« sagte Gringoire.

»Es ist meine Schwester,« antwortete sie.

»Warum nennt man Euch die Esmeralda?« fragte der Dichter.

»Ich weiß es nicht.«

»Saget es mir nur!«

Sie zog aus dem Busen eine Art kleines, längliches Säckchen, das an einer Schnur von Adrezarachkörnern an ihrem Halse hing; dieses Säckchen verbreitete einen starken Kampfergeruch. Es war mit grüner Seide überzogen und hatte in der Mitte eine große, grüne Glasperle, die einem Smaragde ähnelte.

»Es ist vielleicht deshalb,« sagte sie.

Gringoire wollte das Säckchen ergreifen. Sie wich zurück. »Rühre es nicht an, es ist ein Amulett. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber dir.«

Die Neugierde des Dichters war immer reger geworden.

»Wer hat es Euch gegeben?«

Sie legte einen Finger an den Mund und verbarg das Amulett in ihrem Busen. Er versuchte andere Fragen an sie zu richten, aber sie antwortete kaum.

»Was soll das Wort ›die Esmeralda‹ heißen?«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie.

»Welcher Sprache gehört es an?«

»Ich glaube, es kommt aus dem Aegyptischen.«

»Ich habe es mir gedacht,« sagte Gringoire. »Ihr seid nicht aus Frankreich?«

»Ich weiß es nicht.«

»Habt Ihr noch Eure Eltern?«

Sie begann nach einer alten Melodie zu singen:

»Mein Vater ist ein Vöglein,
Mein Mütterchen auch.
Ich zieh' übers Wasser hin,
Ohn' Kahn und Schiff, zu fahren drin –
Mein' Mutter ist ein Vöglein,
Mein Väterchen auch.«

»Es ist gut,« sagte Gringoire. »In welchem Alter seid Ihr nach Frankreich gekommen?«

»Ganz klein.«

»Nach Paris?«

»Voriges Jahr. Gerade als wir durch das Papstthor einzogen, sah ich in der Luft den Weidenzeisig fortziehen, es war Ende des August; da sagte ich: der Winter wird hart werden.«

»Er war es auch,« sagte Gringoire, erfreut über den Beginn der Unterhaltung; »ich habe fortwährend in die Hände gehaucht. Ihr besitzt also die Gabe, in die Zukunft zu sehen?«

Sie verfiel wieder in ihre Wortkargheit: »Nein.«

»Der Mann, welchen Ihr Herzog von Aegypten nennt, ist das Oberhaupt Eures Stammes?«

»Ja.«

»Er ist es also, welcher uns verheirathet hat,« bemerkte schüchtern der Dichter.

Sie machte ihre gewohnte reizende Grimasse. »Ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

»Meinen Namen? Wenn Ihr wollt, da ist er: Peter Gringoire.«

»Ich weiß einen viel schönern,« sagte sie.

»Böses Mädchen!« entgegnete der Dichter. »Doch es thut nichts, Ihr sollt mich nicht ärgern. Sehet! Ihr werdet mich vielleicht lieb gewinnen, wenn Ihr mich besser kennen lernt; und überdies habt Ihr mir Eure Lebensgeschichte mit so viel Offenheit erzählt, daß ich Euch die meinige auch erzählen muß. Ihr mögt also wissen, daß ich Peter Gringoire heiße und der Sohn des Gerichtsschreibereipächters von Gonesse bin. Mein Vater wurde von den Burgundern gehangen, und meiner Mutter bei der Belagerung von Paris, vor zwanzig Jahren, von den Picarden der Leib aufgeschlitzt. Mit sechs Jahren also war ich Waise; ich hatte als Sohle nichts unter den Füßen, als das Straßenpflaster von Paris. Ich weiß nicht, wie ich über die Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre weggekommen bin. Hier erhielt ich von einer Obsthändlerin eine Pflaume, dort warf mir ein Bäcker eine Brotrinde zu; nachts ließ ich mich von der Wache der Einunddreißig auflesen, die mich ins Gefängnis steckten, und ich fand da eine Schütte Stroh. Alles das hat aber nicht gehindert, daß ich groß und schlank geworden bin, wie Ihr sehet. Im Winter wärmte ich mich an der Sonne unter der Thürhalle des Hotel de Sens; und ich fand es recht lächerlich, daß das Sanct-Johannisfestfeuer für die Hundstage aufgespart würde. Mit sechzehn Jahren wollte ich einen Stand ergreifen. Nach und nach habe ich alles versucht. Ich wurde Soldat, aber ich war nicht muthig genug. Ich wurde Mönch, aber ich war nicht fromm genug, und dann – ich saufe nicht. Aus Verzweiflung trat ich bei den Zimmerleuten mit der großen Axt als Lehrling ein, aber ich war nicht stark genug. Ich hatte mehr Neigung, den Schulmeister zu spielen; wahr ist, daß ich nicht lesen konnte; aber das war kein Hindernis. Endlich merkte ich nach Verlauf einer gewissen Zeit, daß mir zu allem etwas fehlte; und weil ich fühlte, daß ich zu nichts taugte, würde ich ganz freiwillig Dichter und Tonsetzer. Das ist ein Stand, den man immer ergreifen kann, wenn man Landstreicher ist, und ist doch immer noch besser, als zu stehlen, wie mir einige meiner Freunde riethen, die Soldatenbuben waren. Glücklicherweise traf ich eines schönen Tages Dom Claude Frollo, den ehrwürdigen Archidiaconus an der Kirche Notre-Dame. Er fand Gefallen an mir, und ihm verdanke ich es, daß ich heute ein wahrer Gelehrter bin, der alles Latein versteht, von Cicero's Buche »Ueber die Pflichten« an bis zu dem »Todtenbuche« der Cölestinermönche; der weder in der Scholastik, noch in der Dichtkunst, noch in der Rhythmik, dieser Weisheit aller Weisheit, unbewandert ist. Ich bin nämlich der Autor des Schauspieles, das man heute mit glänzendem Erfolge und unter großem Zulaufe der Bevölkerung im dichtgedrängten Saale des Gerichtspalastes gegeben hat. Auch ein Buch, welches sechshundert Seiten enthalten wird, habe ich über den wunderbaren Kometen von 1465 geschrieben, über den ein Mensch verrückt wurde. Ich habe noch andere Erfolge zu verzeichnen. Als ich ein Weilchen Tischler bei der Artillerie war, habe ich an jener großen Bombarde des Johann Maugue gearbeitet, die bekanntlich am Tage, wo man eine Schießprobe mit ihr anstellte, auf der Charentonbrücke geplatzt ist und vierundzwanzig Zuschauer getödtet hat. Ihr seht, daß ich keine schlechte Heirathspartie bin. Ich kenne die Geheimnisse vieler allerliebsten Kunststücke, die ich Eurer Ziege lehren will, z. B. den Bischof von Paris nachzumachen, diesen verdammten Pharisäer, dessen Mühlen alle Passanten vollspritzen, die längs der Müllerbrücke hingehen. Und dann wird mir mein Schauspiel viel baares Geld eintragen, wenn ich's bezahlt bekomme. Kurz, ich stehe zu Euern Befehlen, ich und mein Geist, meine Wissenschaft, meine Gelehrsamkeit; bin bereit mit Euch, Jungfer, nach Gefallen zu üben; keusch oder lustig, als Mann und Frau, wenn's Euch recht ist; als Bruder und Schwester, wenn's Euch besser behagen sollte.«

Gringoire schwieg und wartete auf die Wirkung seiner Rede auf das junge Mädchen. Sie hatte die Blicke an den Boden geheftet.

»Phöbus,« sagte sie mit leiser Stimme. Dann wandte sie sich an den Dichter. »Phöbus – was bedeutet das?«

Gringoire, der nicht recht begriff, in welcher Beziehung diese Frage zu seiner Ansprache stehen könnte, war gar nicht böse, sein Licht leuchten lassen zu können. Er warf sich in die Brust und antwortete: »Das ist ein lateinisches Wort, welches ›Sonne‹ bedeutet.«

»Sonne!« versetzte sie.

»Es ist der Name eines sehr schönen Bogenschützen, welcher ein Gott war,« fügte Gringoire hinzu.

»Ein Gott!« wiederholte die Zigeunerin, und in ihrem Tone lag etwas Nachdenkliches und Leidenschaftliches.

In diesem Augenblicke ging eins ihrer Armbänder los und fiel zu Boden. Gringoire bückte sich schnell, um es aufzuheben; als er sich wieder erhob, waren das junge Mädchen und die Ziege verschwunden. Er hörte das Klappern eines Riegels. Es kam von einer kleinen Thür, welche ohne Zweifel in eine Kammer nebenan führte, und die sich von draußen schloß.

»Hat sie mir wenigstens ein Bett zurückgelassen?« sagte unser Philosoph.

Er machte einen Gang durch die Zelle. Er fand kein anderes zum Schlafen geeignetes Zimmergeräth, als eine ziemlich lange, hölzerne Lade, deren Deckel noch dazu mit Bildschnitzereien bedeckt war, und welche Gringoire, als er sich niederlegte, eine Empfindung verursachten, ohngefähr wie die, welche Mikromegas empfand, als er sich seiner ganzen Länge nach auf den Alpen zum Schlafen ausstreckte.

»Wohlan,« sagte er und bequemte sich so gut es ging, »man muß sich in sein Schicksal ergeben. Aber das ist eine sonderbare Hochzeitsnacht. Es ist schade; in dieser Vermählung mittelst des zerbrochenen Kruges war so etwas Naturwüchsiges und Vorsündflutliches, daß es mir recht gefallen hat.«


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