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Einige Minuten nach seiner kurzen Unterredung mit Sieur Landoys erschien Gilliatt in St. Sampson.
Er war unruhig bis zur Seelenangst. Was konnte vorgefallen sein?
St. Sampson glich einem aufgestörten Bienenschwarm. Alles war vor den Hausthüren. Die Weiber jammerten. Sah man irgendwo Personen, welche gesticulirten und etwas zu erzählen schienen, so schaarte man sich um dieselben. »Welch' Unglück!« riefen manche, andere lächelten.
Gilliatt richtete an Niemand eine Frage. Dies lag nicht in seinem Wesen. Außerdem war er zu erregt, um mit gleichgültigen Menschen zu sprechen. Er mißtraute nacherzählten Dingen und erfuhr lieber den ganzen Sachverhalt aus sicherer Quelle; deshalb ging er gerades Weges zum Hause der »Bravées.«
Seine Unruhe war so heftig, daß er sich nicht einmal fürchtete, dort einzutreten. Die auf den Hafendamm führende Thür des niedrigen Saales stand weit offen. Auf der Schwelle war ein Gewühl von Männern und Frauen. Jeder ging in das Haus, er machte es ebenso.
Bei seinem Eintritt fragte Sieur Landoys, der an der Thüreinfassung lehnte, ihn mit halber Stimme:
– Sie wissen wohl ohne Zweifel, was geschehen ist?
– Nein!
– Ich wollte es Ihnen unterweges nicht entgegenrufen, um keinen Unglücksvogel vorzustellen.
– Die Durande ist gescheitert.
Der Saal war mit Menschen gefüllt.
Man sprach leise, wie in einem Krankenzimmer.
Die Versammelten – Nachbarn, Reisende und allerhand neugierige Menschen, die ihr Weg zufällig vorübergeführt hatte, hielten sich dichtgedrängt mit einer Art Scheu in der Nähe des Einganges und ließen den Hintergrund des Saales frei, wo man neben der weinenden Déruchette Mess Lethierry stehen sah.
Er lehnte mit dem Rücken an der Zwischenwand. Sein Matrosenhut war bis über seine Augenbrauen herabgezogen und eine Locke grauen Haares hing an seiner Wange herunter. Er sprach kein Wort. Seine Arme waren keiner Bewegung fähig und seinem Mund schien der Athem zu fehlen. Wie ein lebloses Bild stand er an der Mauer.
Man sah in ihm einen Menschen, dessen Lebensfaden sich abspann. Durande war nicht mehr, deshalb hatte Lethierry keinen Grund, weiter zu leben. Sein Herz hing an der See – jetzt stockte dies Herz – was sollte aus ihm werden?
Die Durande nicht mehr erwarten, nicht mehr abfahren, nicht mehr ankommen sehen! Was ist ein Leben ohne Zweck? Essen und trinken – und dann? Dieser Mann hatte all' seine Arbeiten durch ein Meisterwerk gekrönt und durch die ganze Hingebung seiner selbst einen Erfolg errungen. Der Erfolg war vernichtet, das Meisterstück zerstört. Sollte er noch einige leere Jahre hinleben? Weshalb? Keine Arbeit künftig mehr! In seinem Alter fängt man nicht wieder von Neuem an zu schaffen; er war zu Grunde gerichtet. Armer, alter, braver Mann! Déruchette saß weinend auf einem Stuhl neben Mess Lethierry und hielt seine Faust in ihren beiden Händen. Die Hände waren gefaltet, die Faust fest geschlossen. Hierin zeigte sich die Gemüthsstimmung der beiden Niedergeschlagenen. Das Falten deutete auf einige Hoffnung hin, das Schließen sagte, daß alles zu Ende sei.
Mess Lethierry hatte Déruchette seine Hand überlassen. Er verhielt sich völlig unthätig und schien nicht mehr Lebensfähigkeit zu besitzen, als Jemand, den der Blitz trifft.
Wenn wir in der Tiefe des Unglücks gewisse Stufen erreichen, so werden wir den Lebenden entrückt. Die Menschen kommen in unser Zimmer und gehen darin umher, ohne daß wir ein deutliches Bild von ihnen haben; sie sind nur auf halbe Armlänge von uns getrennt und können doch nicht nahe an uns herantreten. Wir sind ihnen unerreichbar und sie sind uns in unzugängliche Gebiete entrückt. Glück und Verzweiflung können nicht in ein und demselben Luftstrich bestehen. Der Hoffnungslose lebt in weiter Entfernung von seinen Mitbrüdern, weiß kaum, daß sie da sind und verliert selbst das Gefühl seiner eigenen Existenz. Mag man auch in einer lebendigen Hülle stecken, die wirkliche Empfindung des Seins ist verschwunden; man führt ein Schattenleben. Mess Lethierry befand sich auf einem solchen Standpunkt.
Die Gruppen flüsterten. Man theilte einander die bekanntgewordenen Nachrichten mit.
Die Durande – so hieß es – war eine Stunde vor Sonnenuntergang in Folge des Nebels auf die Douvresfelsen gerannt und gescheitert. Mit Ausnahme des Capitains, der sein Schiff nicht verlassen wollte, wurden Mannschaft und Reisende durch die Schaluppe gerettet. Ein, nach dem Verschwinden des Nebels plötzlich ausbrechender Sturmwind brachte das Fahrzeug in Gefahr unterzugehen und trieb es jenseits Guernesey auf die hohe See. In der Nacht führte sein gutes Glück ihm den »Cashmir« entgegen, der die Reisenden aufnahm und nach St. Pierre-Port brachte. Die ganze Schuld traf Tangrouille, den Steuermann, der jetzt im Gefängniß saß. Clubin hatte hochherzig gehandelt.
Die unter der Menge stark vertretenen Lootsen legten einen besondern Ausdruck auf das Wort: Douvresklippen. – Schlechtes Wirthshaus! sagte einer unter ihnen.
Auf dem Tisch sah man einen Compaß und ein Packet Geschäftsbücher und Register – ohne Zweifel die der Durande zugehörigen, welche Clubin, Imbrancam und Tangrouille im Augenblick der Abreise übergeben hatte. Herrliche Selbstverläugnung jenes Mannes, im Augenblick, wo er sich dem Tode preisgab, alles, selbst die Papiere zu retten. Eine kleine Handlung und doch so groß; erhabenes Vergessen der eigenen Person!
Man vereinigte sich in der Bewunderung für Clubin und ebenso in dem Glauben, er sei trotz aller Gefahr gerettet. Der Kutter Shealtiel war eine Stunde nach dem Cashmire eingelaufen und brachte die letzten Nachrichten über die Durande. Er hatte während des Nebels vierundzwanzig Stunden unfern dieses Schiffes ausgeharrt und bei dem Sturm in jenen Gewässern lavirt. Der Führer des Shealtiel befand sich unter den Anwesenden. Er hatte Mess Lethierry Bericht über jene Vorgänge abgestattet und endigte denselben im Augenblick, als Gilliatt in den Saal trat.
Es war ein gründlicher Bericht.
Bei Tagesanbruch, als der Sturm nachließ, hörte der Führer des Shealtiel auf hoher See ein Gebrüll. Diese Töne, welche sonst wohl auf Wiesen erschallen, aus den Meereswellen zu vernehmen, befremdete ihn. Er steuerte nach jener Richtung und bemerkte inmitten der Douvresklippen die Durande. Die See war ruhig genug, um ihn bis in die Nähe vordringen zu lassen. Er kündigte sein Kommen durch das Sprachrohr an, allein nur das Brüllen der Ochsen, die im Schiffsraum mit dem Ertrinken kämpften, antwortete ihm. Er war überzeugt, daß sich kein menschliches Wesen am Bord der Durande befand. Das herrenlose Fahrzeug war zum Theil wohlerhalten und trotz der Heftigkeit des Sturmes hätte Clubin die Nacht darin verleben können. Er war nicht der Mann, seine Rechte sobald aufzugeben. Da er sich nicht auf dem Schiff befand, durfte man an seine Rettung glauben. Mehrere Slupen und Lugger von Granville und St. Malo mußten, dem Seenebel entronnen, am Abend des vorigen Tages ziemlich nahe an den Douvresfelsen vorübergekommen sein. Eins dieser Fahrzeuge hatte jedenfalls den Capitän aufgenommen. Man dürfe nicht vergessen, daß die mit Menschen angefüllte Schaluppe des gescheiterten Schiffes großen Gefahren entgegen ging und durch eine Person mehr überladen worden wäre, was ihr Umschlagen hätte herbeiführen können. Der Gedanke an diese Wahrscheinlichkeit bestimmte Clubin, auf dem Wrack zu bleiben; doch nach Erfüllung seiner Pflicht würde er keinenfalls gezögert haben, sich von einem rettenden Schiffe aufnehmen zu lassen. Er war ein Held, kein Dummkopf. Ein Selbstmord wäre um so ungereimter gewesen, als Clubin sich nichts vorzuwerfen hatte. Tangrouille war der Schuldige, nicht Clubin. Alles dies mußte den Menschen einleuchten. Der Führer des Shealtiel hatte unverkennbar Recht und Jedermann erwartete Clubin einen Augenblick um den andern. Es wurde beschlossen, ihn im Triumph auf den Händen zu tragen.
Zwei Gewißheiten gingen aus dem Bericht hervor: Clubin war gerettet, die Durande verloren.
Was letztere betraf, so mußte man sich in das Unvermeidliche fügen: die Vernichtung war eine völlige; der Führer des Shealtiel sah den letzten Vorgängen des Schiffbruchs zu. Der äußerst spitze Felsen, welcher die Durande wie ein Nagel durchbohrte, hatte während der ganzen Nacht Stich gehalten und den Windstößen widerstanden, als wolle er das herrenlose Schiff für sich behalten, aber am Morgen, wo der Shealtiel, überzeugt, daß Niemand seiner Hülfe bedürfe, sich von der Durande entfernte, hob eine einzige Sturzwelle – wie ein letzter Zornesausbruch des Ungewitters die Durande wüthend empor, riß sie von der Klippe und schleuderte sie mit der Schnelligkeit eines Pfeiles zwischen die beiden Douvresfelsen. – Man hörte ein teuflisches Gekrache, erzählte der Schiffer; – durch die Welle zu einer gewissen Höhe emporgehoben, war die Durande bis an die Rippen in den schmalen Paß der beiden Felsen niedergeschleudert und auf's Neue festgenagelt, nur dauerhafter, als durch die unterseeische Klippe. Dort blieb sie in beklagenswerther Lage haften, allen Winden und Wogen preisgegeben.
Drei Viertel des Fahrzeuges waren nach Aussage der Mannschaft des Shealtiel bereits zerschmettert. Es wäre schon in der Nacht gänzlich vernichtet worden, hätten die Klippen es nicht festgehalten und unterstützt. Der Führer des Shealtiel hatte das Wrack genau durch sein Fernrohr betrachtet. Er schilderte alle Einzelheiten der Zerstörung mit seemännischer Genauigkeit. In einigen Tagen mußte von der Durande voraussichtlich jede Spur verloren sein.
Doch die Maschine war merkwürdiger Weise in der allgemeinen Verwüstung fast ganz wohlerhalten geblieben, ein Zeichen ihrer Tüchtigkeit. Der Führer des Shealtiel konnte auch dies versichern. Die Masten waren zerbrochen, doch der Schornstein stand noch an seinem Platz. Die Radgehäuse waren zerquetscht, die Treträder hatten gelitten, aber die Laufräder schienen nicht eine Schaufel verloren zu haben. Die Maschine war nach des Schiffsführers Ueberzeugung unverletzt und auch Inbrancam, der Heizer, welcher sich unter der Menge befand, theilte diesen Glauben. Der Neger, verständiger als mancher Weiße, war ein Bewunderer der Maschine. Er hob die Arme empor, breitete die zehn Finger seiner schwarzen Hände aus und sagte durch dieses stumme Zeichen zu Lethierry: »Meister, die Maschine lebt!«
Da Clubin gerettet zu sein schien und der Rumpf der Durande verloren war, bildete die Maschine den Hauptgegenstand der Unterhaltung. Man interessirte sich für sie, als sei sie eine Person und bewunderte ihre gute Construction. – Eine wackere Gevatterin! sagte ein Lootse. – Eine brauchbare! rief ein Guerneseyer Fischer. – Sie muß es schlau angefangen haben, sich mit zwei oder drei Schrammen aus dem Handel herauszuziehen, fügte ein Anderer hinzu. Nach und nach wurde alles Andere über der Maschine vergessen. Man nahm für und wider sie Partei. Sie hatte ihre Freunde und Feinde. Mehr als ein Besitzer eines guten, alten Segelkutters, welcher sich Hoffnung auf die Kundschaft der Durande machte, war nicht erzürnt darüber, daß die Douvresklippen der neuen Erfindung ihr Recht hatten angedeihen lassen. Das Geflüster ging in Geräusch über. Man erörterte die Sache mit vieler Lebendigkeit. Dennoch lag auch noch in diesem lauten Wesen eine gewisse Zurückhaltung und alle Stimmen senkten sich von Zeit zu Zeit unter dem Druck, welchen Lethierry's Grabesschweigen ausübte.
Das Ergebniß der bis in's Einzelne ausgeführten Erörterung stellte sich als folgendes heraus:
Die Maschine war sehr wichtig; man konnte vielleicht ein neues Fahrzeug bauen, doch die Maschine ließ sich nicht erneuern. Es gab keinen Ersatz für sie. Zur Anfertigung einer ähnlichen fehlte das Geld und mehr noch die Arbeiter. Man wußte, daß der Erbauer der Maschine gestorben war. Sie hatte vierzigtausend Francs gekostet. Niemand würde in Zukunft ein solches Capital an eine so unsichere Sache setzen und zwar um so weniger, als sich herausgestellt hatte, daß Dampfer ebenso leicht zu Grunde gehen, als Segelschiffe. Das neueste Schicksal der Durande hob all' ihre früheren Erfolge auf. Dennoch war es zu beklagen, daß jene Maschine, gegenwärtig noch unbeschädigt, nach fünf bis sechs Tagen wahrscheinlich unbrauchbar sein würde, wie das Schiff. So lange sie noch vorhanden war, konnte man eigentlich von keinem Scheitern sprechen. Nur der Verlust der Maschine ließ sich nicht ersetzen. Sie retten, würde das Unglück gut machen heißen. – Retten! dies war leicht gesagt. Wer aber würde sich dazu hergeben? Ließ sich die Sache überhaupt ausführen? Unternehmen und Gelingen sind zweierlei, wie ein Traum leicht geträumt, aber schwer verwirklicht wird. Gab es irgend ein unverständiges, unsinniges Fantasiegebilde, so war es der Plan, die an den Douvres gescheiterte Maschine zu retten. Es wäre albern gewesen, ein Fahrzeug mit Arbeitern nach jenen Felsen zu schicken; denn die Jahreszeit der Stürme war da. Der erste Orkan hätte die Ankerketten an den Graten der unterseeischen Klippen zersägt und das Schiff wäre an dem Felsen zerschellt. Dies hieße dem ersten Wrack ein zweites nachschicken. In der Vertiefung des Plateaus der höchsten aller Douvresklippen, in welcher jener sagenhafte Schiffbrüchige einst Schutz fand und endlich Hungers starb, hatte kaum eine Person Platz. Um die Maschine zu retten, mußte also ein Mann nach dem Felsen schiffen und dort – in vollständiger Meereinsamkeit, fünf Meilen vom Strande ganze Wochen verleben, allein inmitten dieser furchtbaren Region hausen; unerwarteten und ungeahnten Ereignissen entgegensehen, ohne Erfrischungsmittel an Speise und Trank bei körperlicher Erschöpfung zur Hand zu haben, ohne sich in seiner Einsamkeit irgend einer Hülfsleistung Anderer zu erfreuen, geschieden von jeder Spur des Daseins menschlicher Wesen, außer jener alten, die der vor Hunger und Durst dahingeschiedene Schiffbrüchige, sein Genosse, auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Und wie war, selbst wenn sich Jemand dazu bereit fände, diesen Gefahren zu trotzen, die Rettung der Maschine zu bewerkstelligen? Der Betreffende mußte Matrose und Schmied in einer Person sein. Und welch' eine Arbeit würde es sein? Der Mensch, welcher sich ihr unterzogen, hätte mehr als ein Held sein müssen. Ein Narr! Denn bei gewissen riesigen Unternehmungen, die übermenschliche Kräfte erfordern, ist der Muth der Unternehmung nicht Muth, sondern Wahnsinn. Wäre es, die Sache nach allen Seiten erwogen, nicht eine Ueberspannung, altem Eisenwerk zu Liebe, sein Leben auf's Spiel zu setzen? Nein, Niemand würde sich entschließen, nach den Douvresfelsen zu gehen. Die Maschine mußte, wie das Uebrige, den Wellen preisgegeben werden. Ein Retter, wie man ihn brauchte, konnte nicht erscheinen. Wo wäre solch ein Mensch zu finden?
Obige Betrachtungen waren, in etwas anderer Form ausgedrückt, das Wichtigste der Unterhaltung, welche die Menge halblaut pflog.
Der Führer des Shealtiel, ein alter Lootse, drückte den gemeinsamen Grundgedanken durch folgenden lauten Ruf aus:
– Nein, es ist alles zu Ende! Der Mann, welcher nach den Felsen schiffen würde, um die Maschine zu retten, lebt nicht auf Erden.
– Wenn ich es nicht thue, so ist bewiesen, daß Niemand dorthin gehen kann, fügte Imbrancam hinzu.
Der Andere ergriff seine Hand und schüttelte dieselbe mit jener Derbheit, welche die Ueberzeugung der Unmöglichkeit ausdrücken sollte, indem er erwiederte:
– Wenn er sich fände – –
Déruchette wandte den Kopf nach ihm um.
– So würde ich ihn heirathen, sagte sie.
Ein Schweigen entstand.
Da trat ein Mann mit sehr bleichem Angesicht aus einer der Gruppen hervor und sagte:
– Sie würden ihn heirathen, Miss Déruchette?
Es war Gilliatt.
Alle Augen hatten sich erhoben. Mess Lethierry richtete sich kerzengerade empor. Ein seltsames Feuer schimmerte in seinen Blicken.
Er griff mit der Hand nach seinem Matrosenhut und warf ihn auf den Fußboden, sah dann mit feierlichem Ausdruck vor sich hin, ohne einen der Anwesenden in's Auge zu fassen und rief:
– Déruchette würde ihn heirathen. Ich gebe dem guten Gott mein Ehrenwort darauf.
In der Nacht, welche diesem Tage folgte, leuchtete der Mond von zehn Uhr Abends an. So günstig indeß die Nacht, der Wind und die See zu sein schienen, dachte kein Fischer von Hogue de la Perre, Bourdeaux, Houmet Benèt, Platon, Port Grat, Bason, Perrelle Bay, Pezeris, Tielles, Baie des Saints, Petit Bô und Guernesey daran, auf's Meer zu fahren. Dies war natürlich, denn der Hahn hatte um Mitternacht gekräht.
Wenn nämlich zu außergewöhnlicher Zeit Hahnenschrei erschallt, geht der Fischfang fehl.
Bei Anbruch der Nacht erlebte ein nach Omptolle heimkehrender Fischer eine Ueberraschung.
Auf der Höhe von Houmet Paradis, jenseits der Broyes und Grunes, zwischen der Bake der Plattes Fougères, welche die Gestalt eines umgestülpten Trichters hat, und der von St. Sampson, welche eine Männerfigur darstellt, glaubte er eine dritte Bake zu bemerken. Was hatte dies für eine Bewandtniß? Wann war sie dort aufgepflanzt worden? Welche Untiefe bezeichnete sie? Die Bake selber gab Antwort auf seine Fragen, indem sie sich bewegte. Es war ein Mast. Das Erstaunen des Fischers ward nicht verringert. Eine Bake gab ihm zu denken, ein Mast noch mehr. Fischerei war unmöglich. Alle Welt begab sich nach Hause, einer nur zog aus. Wer? Weshalb?
Zehn Minuten später kam der sich langsam bewegende Mast in der Nähe des Fischers von Omptolle an. Die Barke war nicht zu erkennen, doch hörte man Ruderschläge. Nach dem Geräusch zu urtheilen, waren nur zwei Ruder thätig, also befand sich wahrscheinlich nur ein Mann in dem Fahrzeug. Der Wind kam aus Norden. Augenscheinlich legte der Mann es darauf an, jenseits der Landzunge von Fontenelle Gebrauch von den Segeln zu machen und beabsichtigte demnach, Ancresses und den Berg Crevel zu umschiffen. Was sollte dies bedeuten?
Der Mast zog vorüber und der Fischer langte daheim an.
In derselben Nacht machten Manche, die sich an der Westküste von Guernesey befanden, zu verschiedenen Stunden und von verschiedenen Punkten ebenfalls Beobachtungen.
Eine halbe Meile weit von der Stelle, wo der Fischer von Omptolle seine Barke anschloß, sah ein Meergraskärrner, der auf der einsamen Straße von Clôtures seine Pferde peitschte, daß in ziemlicher Ferne am Horizont ein Segel gespannt ward. Die Stelle wurde wenig befahren, denn der Roque-Nord und die Sablonneuse lagen in der Nähe. Der Fuhrmann schenkte diesem Umstand jedoch keine besondere Aufmerksamkeit, da es sich um ein Schiff und nicht um einen Wagen handelte.
Etwa eine halbe Stunde, nachdem der Kärrner jenes Segel bemerkte, befand sich ein Gipsmacher, der von seiner Arbeit aus der Stadt heimkehrte und am linken Ufer des Sumpfes von Pelée dahinging, plötzlich fast unmittelbar vor einer Barke, die sich mit großer Kühnheit zwischen die Klippen des rothen Meeres, der Gripe de Rousse und die Felsen von Quenon gewagt hatte. Die Nacht war finster, das Meer aber hell, – eine häufige Erscheinung, – und man konnte auf der hohen See die aussegelnden und heimkehrenden Schiffe unterscheiden.
Einige Zeit darauf fragte sich ein Seeheuschreckensammler, der seinen Kasten auf der Sandfläche niedersetzte, welche den Port Soif von dem Port Enfer trennt, worauf die Barke, die er zwischen der Boue Corneille und der Moulrette dahingleiten sah, wohl ausginge?
Man mußte ein tüchtiger Lootse sein und dringende Veranlassung zum Reisen haben, um sich solcher Gefahr auszusetzen.
Als es in Catel acht Uhr schlug, entdeckte der Schenkwirth von Cobo Bay mit einigem Erstaunen jenseits der Boue und Grunettes in der Nähe von Suzanne ein Segel.
Nicht weit von Cobo Bay auf der einsamen Landzunge von Houmet, welche die Bucht von Bason bildet, waren zwei Liebende im Begriff sich zu trennen und heimzukehren.
»Ich verlasse Dich, nicht weil ich ungern bei Dir bin, sondern weil ich nicht länger bleiben darf,« – sagte das Mädchen zu dem Burschen. Im Begriff, sich den Abschiedskuß zu geben, wurden sie durch eine ziemlich große Barke gestört, welche nahe an ihnen vorüberfuhr und nach den Messelettes steuerte.
Monsieur Le Peyre des Norgiots, der den Cotillon-Pipet bewohnte, untersuchte um neun Uhr eine Oeffnung, welche Herumstreicher in die Hecke seines Hanffeldes, der Jennerotte, gemacht hatten. Doch selbst in dem Augenblick, wo er sich über den Schaden Gewißheit verschaffte, konnte er nicht umhin, eine Barke zu beobachten, die bei dieser Nachtzeit waghalsig den Crocq-Point umschiffte.
Jene Straße war am Tage nach einem Unwetter, wo das Meer noch immer in einiger Erregung ist, sehr unsicher. Wer keine genaue Kenntniß des Fahrwassers hatte, handelte thöricht, die Fahrt zu unternehmen.
Ein Sacknetzfischer, der seine Geräthe heimtrug, mäßigte seine Schritte um halb zehn Uhr zu L'Equerrier, um einen zwischen Colombelle und Souffleresse sichtbaren Gegenstand zu beobachten, der ein Fahrzeug sein mußte. Dasselbe setzte sich großer Gefahr aus. In jener Gegend herrschten heftige und sehr verderbliche Windstöße. Der Felsen führt den Namen Souffleresse, weil der Wind in seiner Nähe die Barken ungestüm anbläst.
Als der Mond aufging und die kleine Meerenge Li-Hou durch die hohe Fluth gefüllt war, wurde der einsame Wächter der Insel Li-Hou in großen Schreck versetzt. Zwischen seiner eigenen Gestalt und dem Monde erschien eine lange, schmale, schwarze Figur. Sie glich einem ausgebreiteten, wandelnden Leichentuch. Langsam glitt sie oberhalb der Felswände hin, welche durch die dortigen Untiefen gebildet wurden. Der Wächter von Li-Hou glaubte die schwarze Dame zu erkennen.
Die Residenz der schwarzen Dame ist Tau de Pez d'Amont, die der grauen Dame Tau de Pez d'Aval, die rothe Dame bewohnt La Silleuse (im Norden der Bank Marquis) und die schwarze Dame lebt auf dem Grand-Étacré im Westen von Li-Houmet. Zur Nachtzeit, wenn der Mond scheint, verlassen diese Damen ihre Residenzen und begegnen einander bisweilen auf dem Wege. Streng genommen konnte diese schwarze Gestalt ein Segel sein. Die langen Felsmauern, auf welchen sie zu wandeln schien, konnten wirklich den Rumpf einer hinter ihnen dahingleitenden Barke verbergen. Aber der Wächter fragte sich, welch' Fahrzeug sich wohl zu dieser Stunde in das Fahrwasser zwischen Li-Hou, la Pécheresse, les Angullières und Lérée-Point wagen würde! Und zu welchem Zweck? Es dünkte ihm wahrscheinlicher, daß jene Gestalt die schwarze Dame sei.
Als der Mond hinter dem Glockenthurm von St. Pierre du Bois hervorkam, bemerkte der Sergeant des Schlosses Rocquaine, als er die Zugbrücke gerade zur Hälfte aufgezogen hatte, daß in der Bucht eine Barke segelte und zwar nicht so weit entfernt als Sambule, doch weiter als die Haute Canée von seinem gegenwärtigen Standpunkt war. Dem Anschein nach kam sie aus Norden und zog nach Süden.
Auf der Südküste von Guernesey, hinter Plainmont befindet sich in einer Bay, deren Ufer ganz aus Abgründen und Felsenwänden besteht, ein sonderbarer Hafen, der durch steil abfallende Uferabhänge gebildet wird. Ein Franzose, der sich auf dieser Insel seit 1855 aufhält, vielleicht derselbe, welcher diese Zeilen geschrieben hat, gab ihm den Namen »der Hafen zur vierten Etage,« eine Bezeichnung, deren man sich in jener Gegend heute allgemein bedient. Damals hieß er La Moie. Er besteht aus einem Felsplateau, das halb von der Natur gebildet, halb ausgehauen ist und vierzig Fuß hoch über dem Wasserspiegel liegt. Zu letzterem gelangt man auf zwei starken nebeneinander gelegten Bohlen, deren eines Ende auf dem Rande des Plateau's ruht, während das andere in's Meer gestützt ist. Die Barken werden auf diesen Balken durch Armkraft an Ketten an's Land gezogen und gehen auf dieselbe Weise denselben Weg hinunter. Für die Menschen hat man dort eine Treppe angebracht. Dieser Hafen wurde damals häufig von Schmugglern besucht. Gerade seiner Unbequemlichkeit wegen war er ihnen recht.
Gegen eilf Uhr befanden sich auf der Plattform von La Moie Schleichhändler mit ihren Waarenballen. Vielleicht waren es dieselben Männer, auf deren Kommen Clubin gerechnet hatte. Wer betrügt, ist auf der Lauer. Die Schmuggler spähten umher, ob keine Gefahr im Anzug sei, und bemerkten mit Erstaunen, daß plötzlich, jenseits der schwarzen Silhouette des Cap Plainmont ein Segel auftauchte. Der Mond schien hell. In der Befürchtung, es gehöre vielleicht zu dem Fahrzeug eines Küstenwächters, der sich hinter dem großen Hanois in den Hinterhalt legen wolle, beobachteten die Schmuggler das Segel. Doch in nordöstlicher Richtung la Boue Blondel hinter sich lassend, glitt es an den Hanoisfelsen vorbei und zog über die offene See dem bleichen Nebel am Horizont zu.
– Wohin zum Teufel fährt diese Barke? fragten sich die Schmuggler.
An demselben Abend, bald nach Sonnenuntergang klopfte Jemand an die Mauerpforte des Bû de la Rue. Es war ein Knabe mit braunen Kleidern und gelben Strümpfen, welcher Anzug ihn als Schreiber der Pfarrei bezeichnete. Die Thür wie auch die Fensterläden des alten Hauses waren verschlossen. Eine alte Frau, die sich vom Sammeln des Meerauswurfs nährte, streifte, eine Laterne in der Hand, auf der Sandbank umher, redete den Knaben an und wechselte folgende Worte mit ihm:
– Was suchst Du, Bursche?
– Den Mann, der dies Haus bewohnt.
– Er ist nicht darin.
– Wo hält er sich auf?
– Ich weiß es nicht.
– Wird er morgen daheim sein?
– Ich weiß es nicht.
– Ist er verreis't?
– Ich weiß es nicht.
– Ich frage nur danach, weil der ehrwürdige Ebenezer Caudray, der neue Rector des Kirchspiels, ihm einen Besuch zu machen wünscht.
– Ich weiß es nicht.
– Seine Ehrwürden schickt mich, um zu fragen, ob der Herr des Bû de la Rue morgen zu Hause sein wird.
– Ich weiß es nicht.
Während der nächsten vierundzwanzig Stunden nahm Mess Lethierry weder Speise noch Trank zu sich, auch kam kein Schlaf in seine Augen. Er küßte Déruchette's Stirn, erkundigte sich, ob Nachrichten von Clubin eingelaufen seien, unterzeichnete eine Erklärung, welche besagte, daß er keine Klage beim Gericht einreichen wolle und ließ Tangrouille in Freiheit setzen. Am ganzen nächstfolgenden Tage lehnte er an dem Tisch des Bureau's der Durande, ohne seine Stellung zu verändern und antwortete freundlich, wenn man mit ihm sprach. Als die Menge ihre Neugier befriedigt hatte, zog Einsamkeit in das Haus ein. Es gewährt großen Reiz, zu beobachten, mit welchem Eifer sich die Leute zum Mitleiden bewegen lassen. Die Thür war wieder geschlossen; man hatte Mess Lethierry mit Déruchette allein gelassen. Das Licht, welches die Blicke des Ersteren eine Weile aufhellte, war wieder jenem düstern Ausdruck gewichen.
Déruchette, die sich Sorge um Mess Lethierry machte, hatte auf Douce's und Grâce's Rath ein Paar Strümpfe, an welchen er strickte, als ihn die Unglücksbotschaft traf, schweigend neben ihn auf den Tisch gelegt. Er lächelte bitter und sagte:
– Man hält mich also für närrisch!
Nach einem viertelstündigen Schweigen fügte er hinzu:
– Solche Dinge sind angebracht, wenn man glücklich ist.
Déruchette hatte das Strickzeug wieder fortgenommen und die Gelegenheit benutzt, den Compaß und die Schiffspapiere, welche Mess Lethierry zu viel betrachtete, verschwinden zu lassen.
Nachmittags, kurz vor der Theezeit öffnete sich die Thür und zwei schwarzgekleidete Männer, der eine jung, der andere alt, traten in's Zimmer.
Den Einen haben wir wohl schon im Lauf der Erzählung kennen gelernt.
Das Aeußere dieser beiden Männer verrieth Ernst, doch hatte dieser Ernst einen verschiedenen Charakter. Man hätte sagen können, daß der des Greises ein Amtsernst, und der des Jünglings ein natürlicher war. – Das Kleid erzeugt den einen, der Gedanke den andern.
Ihre Tracht bezeichnete die Ankömmlinge als Männer der Kirche, die sich zu der gegenwärtig herrschenden Religion bekannten. An dem jungen Mann mochte den Beobachter zunächst der Umstand überraschen, daß der tiefe Ernst seines Auges, ein Ernst, dessen Ursprung unverkennbar in seiner Vernunft lag, kein Ergebniß seiner übrigen Natur war. Der Ernst rechtfertigt die Leidenschaft des Wesens und reißt zu derselben fort, indem er sie läutert; das Bemerkenswertheste nächst jener Eigenschaft war die Körperkraft des Jünglings. Als Priester mußte er wenigstens fünfundzwanzig Jahre alt sein; doch durfte man glauben, er zähle erst achtzehn. In ihm offenbarten sich die Harmonie und der Widerspruch einer Seele, die für Leidenschaft, und eines Körpers, der für Liebe geschaffen schien. Er war blond, rosig, frisch und erschien in seiner ernsten Tracht fein und geschmeidig. Seine Wangen waren die eines jungen Mädchens, seine Hände zeichnete Zartheit aus. Er hatte einen lebhaften, ungezwungenen und doch gezügelten Gang. Alles an ihm war reizend, schön, fast verführerisch. Sein ernst-edler Blick erhöhte noch die Anmuth seines Wesens. Das aufrichtige Lächeln, welches Zähne wie die eines Kindes sehen ließ, war gedankenvoll und fromm. Er vereinigte die Zierlichkeit eines Pagen mit der Würde eines Bischofs. Unter seinen dichten blonden Haaren, die einen so lebhaften Goldschein hatten, daß man sie »coquett« nennen konnte, wölbte sich ein wohlgeformter Schädel, der auf ein Gemüth ohne Falsch schließen ließ. Eine doppelte, leichte Furche zwischen seinen Augenbrauen erinnerte an die Gestalt eines Vogels, der die Gedanken seiner Seele tragend, mit entfaltenen Schwingen auf der Stirn schwebt.
Man fühlte bei seinem Anblick, daß er zu den wohlwollenden, unschuldsvollen und reinen Wesen gehörte, die im Gegensatz zu gröberen Naturen Täuschungen sich zur Belehrung dienen lassen und durch Lebenserfahrungen zu Enthusiasten gebildet werden.
Seine spiegelreine Jugend ließ geistige Reife durchschimmern. Beim ersten Blick hätte man ihn für den Sohn, beim zweiten für den Vater des ihn begleitenden grauhaarigen Geistlichen gehalten.
Dieser war Niemand, als der Doctor Jaquemin Hérode. Er gehörte zur englischen Hochkirche, welche eigentlich den Papismus ohne Papst darstellt. Der Anglicanismus äußerte sich damals durch Tendenzen, welche seitdem geklärt und dann anerkannt wurden.
Der Doctor Jaquemin Hérode bekannte sich zu der Secte des Anglicanismus, die fast eine Art Katholicismus ist. Er hielt sich für vollkommen, war hochfahrend, beschränkt und gebieterisch. Sein innerer Gesichtsstrahl durchdrang kaum die Materie. Der Buchstabe diente ihm statt des Geistes. Das Uebrige ersetzte seine Erhabenheit. Seine Persönlichkeit forderte Anerkennung. Er hatte weniger das Aussehen eines Geistlichen als das eines Monsignore. Sein rechter Platz wäre Rom gewesen. Der Schnitt seines Oberrockes war ganz der des Geistlichen. Er war geborner Kammerprälat. Man sah, daß er eigens erschaffen war, um einem Papste Glanz zu verleihen und mit dem ganzen päpstlichen Hofstaat in abitto paonazzo hinter dem Tragsessel einher zu marschiren. Der Zufall, als Engländer geboren zu sein, und eine mehr auf das alte als das neue Testament gegründete Ausbildung ließen ihn jene große Bestimmung verfehlen. Seine ganze Herrlichkeit bestand kurz zusammengefaßt darin, daß er Rector von Saint-Pierre-Port, Decan von Guernesey und Amtsgehülfe des Bischofs von Winchester war. Hierin lag ohne allen Zweifel große Herrlichkeit! Alles in allem betrachtet hinderte dieselbe M. Jaquemin indeß nicht, ein leidlich braver Mann zu sein.
Als Theologe erfreute er sich der Achtung Sachverständiger und galt am Hofe des Arches, diesem Sorbonne von England, fast als Autorität. Er zeigte die Miene eines Gelehrten, blinzelte in wichtigthuerischer und übertriebener Weise mit den Augen, besaß haarige Nasenlöcher, ließ beständig die Zähne sehen, hatte eine dünne Ober- und eine dicke Unterlippe, mehrere Diplome, eine reiche Pfründe, Freunde mit dem Barontitel, das Vertrauen des Bischofs und führte stets eine Bibel in seiner Tasche. Mess Lethierry war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß der Eintritt der beiden Priester ihn nur zu einem kaum merklichen Runzeln der Augenbrauen veranlaßte.
M. Jaquemin Hérode trat näher, grüßte, meldete in einigen mäßig hochtönenden Worten seine neue Berufung und fügte dann bei, daß er der Sitte gemäß komme, um seinen Nachfolger, den neuen Rector von Saint-Sampson, Ehrwürden Joë Ebenezer Caudray, Mess Lethierry's künftigen Pastor, bei den Standespersonen des Kirchspiels, insbesondere aber bei Mess Lethierry einzuführen.
Déruchette erhob sich.
Ehrwürden Ebenezer, der junge Priester, machte eine Verbeugung.
Mess Lethierry betrachtete ihn und murmelte zwischen den Zähnen: Schlechter Matrose.
Grâce rückte Stühle heran. Die beiden Ehrwürden nahmen in der Nähe des Tisches Platz.
Doctor Hérode fing sogleich ein Gespräch an.
Er hatte erfahren, daß die Durande zu Grunde gegangen war. Er kam in seiner Eigenschaft als Pastor, um zu trösten und zu rathen. Dieser Schiffbruch war ein Unglück und doch wieder ein Glück. Werfen wir einen prüfenden Blick in unser Inneres. Hatte der Wohlstand uns nicht aufgebläht? Die Gewässer der Glückseligkeit sind gefährlich. Man soll das Mißgeschick nicht als etwas Böses betrachten. Die Wege des Herrn sind dunkel. Mess Lethierry war zu Grunde gerichtet. Nun, was lag daran? Reich sein, heißt in Gefahr leben. Man hat falsche Freunde. Die Armuth verscheucht dieselben. So bleibt man allein! Solus eris. Die Durande brachte, wie es hieß, jährlich tausend Pfund Sterling ein. Zuviel für den Weisen. Fliehet die Versuchungen, verachtet das Gold. Nehmet den Ruin und die Verlassenheit dankbar hin. Vereinsamung bringt reiche Früchte. Man schmeckt in ihr die Gnade des Höchsten. In der Einsamkeit beim Hüten der Eselinnen seines Vaters Sebeon fand Ahia die heißen Quellen.
Lehnen wir uns nicht gegen die unergründlichen Bestimmungen der Vorsehung auf. Nachdem der heilige Hiob im Elend gelebt hatte, wurde sein Reichthum größer denn zuvor. Wer konnte wissen, ob der Verlust der Durande nicht durch andere, sogar zeitliche Güter ausgeglichen werden würde? – So sprach Doctor Jaquemin Hérode. Er selber hatte bei sehr ergiebigen Unternehmungen in Sheffield Kapitalien angelegt; wenn Mess Lethierry mit dem Rest seiner Mittel sich an dem Geschäft betheiligen wollte, würde er sein Vermögen wieder gewinnen. Die Unternehmung bestand in einer großen Waffenlieferung an den Czaaren, der Polen zu unterdrücken suchte. Man gewann dabei dreihundert Procent. – Das Wort »Czaar« schien Lethierry emporzurütteln. Er unterbrach den Doctor Hérode.
– Ich will keinen Czaaren.
Der ehrwürdige Hérode antwortete:
– Mess Lethierry, die Fürsten sind durch Gottes Willen da. Es stehet geschrieben: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist. Czaar heißt Kaiser.
Letthierry war schon wieder halb und halb in seinen Traum versenkt.
– Was kümmert mich der Kaiser? Ich kenne ihn nicht! sagte er.
Der ehrwürdige Jaquemin Hérode fuhr in seiner belehrenden Unterhaltung fort. Keinen Kaiser wollen, heißt Republikaner sein. Mess Lethierry war Republikaner. Er konnte auch sein Vermögen leichter in den vereinigten Staaten als in England wieder erwerben. Wenn er den Rest seines Geldes um das Zehnfache vermehren wollte, durfte er nur bei der großen Pflanzer-Compagnie in Texas, die zwanzigtausend Neger beschäftigte, Actien zeichnen.
– Ich will keine Sclaverei, sagte Lethierry.
– Die Sclaverei, entgegnete der ehrwürdige Hérode, ist eine geheiligte Einrichtung. Es steht geschrieben: »Wenn der Herr seinen Sclaven züchtigt, darf ihm Niemand darum zu Rechenschaft ziehen; denn er ist sein Geld.«
Grâce und Douce standen auf der Schwelle und hörten mit einer Art Begeisterung den Worten des ehrwürdigen Rectors zu.
Dieser setzte seine Rede fort. Alles in allem betrachtet war er, wie wir schon vorhin sagten, ein guter Mann und wie sehr seine Standes- und persönlichen Ansichten ihn auch von Mess Lethierry trennten, so spendete er demselben doch mit voller Aufrichtigkeit allen geistlichen und selbst zeitlichen Rath, der ihm, dem Doctor Jaqumin Hérode, zu Gebot stand.
Wenn Mess Lethierry bis zu einem Grade ruinirt war, daß er keiner Speculation, sei es in Rußland oder in Amerika, mit Erfolg beitreten konnte, warum trat er dann nicht in den Dienst der Regierung und suchte ein Amt mit Gehalt? Eine solche Stellung ist ehrenvoll und Se. Ehrwürden war bereit, Mess Lethierry dazu behülflich zu sein. Die Stellung eines Abgeordneten der Vice-Grafschaft war zu besetzen. Mess Lethierry genoß allgemeine Liebe und Achtung und der ehrwürdige Hérode, Decan von Guernesey, Substitut des Bischofs, machte sich anheischig, ihm die Stelle zu verschaffen. Der Vice-Grafschafts-Abgeordnete ist ein Beamter von Bedeutung; er wohnt als Repräsentant Seiner Majestät den Hauptprozessen, den Debatten der Landgerichte und den Vollstreckungen der Urtheile des Obergerichtes bei.
Lethierry heftete sein Auge auf den Doctor Hérode.
– Ich bin nicht für das Henken.
Der Doctor Hérode, welcher seine bisherigen Worte in gleichmäßiger Betonung gesprochen hatte, legte auf die folgenden einen Ausdruck von Strenge und sagte mit erhöhter Stimme:
– Mess Lethierry, die Todesstrafe ist eine göttliche Verordnung. Der Herr hat dem Menschen das Schwert übergeben. Es steht geschrieben: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Der ehrwürdige Ebenezer näherte seinen Stuhl unmerklich dem des ehrwürdigen Jaquemin und flüsterte, ohne daß die Andern es hören konnten:
– Dieser Mann sagt, was ihm zu sagen eingegeben wird.
– Von wem? Durch was? fragte der ehrwürdige Jaquemin in demselben Ton.
– Durch sein Gewissen, antwortete Ebenezer ganz leise.
Der ehrwürdige Hérode suchte in seiner Tasche, zog ein mit Klammern geschlossenes Buch hervor, legte es auf den Tisch und sagte mit lauter Stimme:
– Hier ist das Gewissen!
Doctor Hérode wurde ruhiger. Er wünschte, Mess Lethierry, den er sehr achtete, nützlich zu sein. Als Pastor hatte er die Pflicht und das Recht, Rath zu ertheilen, mochte Mess Lethierry dann thun, was er wollte.
Dieser, auf's Neue von Niedergeschlagenheit und Gedankenabwesenheit erfaßt, hörte nichts mehr. Déruchette, die neben ihm saß und durch ihre eigenen Betrachtungen in Anspruch genommen, schlug die Augen nicht auf und brachte in die so wenig belebte Unterhaltung noch den Zwang, welchen ein stummer Zuhörer auszuüben pflegt. Ein Zeuge, der nichts spricht, ist eine unerklärliche Last. Uebrigens schien der Doctor Hérode von derselben nicht gedrückt zu werden.
Lethierry antwortete nicht mehr, aber Doctor Hérode fuhr fort:
Ein Mensch kann Rath ertheilen, doch Gott ist's, von dem die Eingebung kommt. In den Rathschlägen eines Priesters liegt göttliche Weisheit. Es ist gut, sie anzunehmen, und gefährlich, sie zurückzuweisen. Sochoth war von elf Teufeln besessen, weil er die Ermahnungen des Nathanael verachtete. Tiberius wurde vom Aussatz befallen, weil er den Apostel Andreas aus seinem Hause gestoßen hatte. Barjesus, obgleich ein Zauberer, verlor das Gesicht, als er die Worte des heiligen Paulus verlachte.
Elxaï nebst seinen Schwestern Martha und Marthene sitzen jetzt in der Hölle, weil sie nicht glaubten, als Valencianus ihnen klar wie der Tag bewies, daß ihr Jesus Christ, acht und dreißig Meilen über ihnen, ein Teufel sei. Oolibama, auch Judith genannt, befolgte die göttlichen Rathschläge. Ruben und Pheniel gehorchten der Stimme aus der Höhe; schon ihre Namen dienen als Beweis hierfür. Ruben heißt Sohn der Vision und Pheniel bedeutet Gottes Antlitz.
Mess Lethierry schlug mit der Faust auf den Tisch.
– Meiner Seel', es ist mein eigner Fehler! schrie er.
– Was wollen Sie hiermit sagen? fragte M. Jaquemin.
– Ich sage, daß es mein Fehler ist.
– Ihr Fehler? Inwiefern?
– Weil ich die Durande am Freitag heimfahren ließ.
M. Jaquemin flüsterte dem M. Ebenezer Caudray in's Ohr:
– Der Mann ist abergläubisch.
Darauf erhob er wieder seine Stimme und sagte in belehrendem Ton:
– Mess Lethierry, es ist kindisch, an den Freitag zu glauben. Man soll nicht auf Fabeln bauen. Der Freitag ist ein Tag wie alle andern; oft sogar ein glückliches Datum. Melendez gründete die Stadt St. Augustin an einem Freitag, am Freitag übertrug Heinrich VII. an Johann Cabot seine Geschäfte; am Freitag langten die Pilger der »Maiblume« in Province Town an. Freitag den zwei und zwanzigsten Februar 1732 wurde Washington geboren; Christoph Columbus entdeckte am Freitag den 12. Oktober 1492 Amerika.
Nach diesen Worten erhob sich M. Jaquemin.
Ebenezer, sein Begleiter, that dasselbe.
Grâce und Douce merkten, daß die ehrwürdigen Herren Abschied nehmen wollten und öffneten die beiden Thürflügel.
Mess Lethierry sah und hörte nichts.
M. Jaquemin Hérode sagte bei Seite zu Ebenezer: Er grüßt uns nicht einmal! Dies ist nicht Kummer, sondern Geisteszerrüttung. Man muß glauben, daß er den Kopf verloren hat.
Während er dies sagte, nahm er seine kleine Bibel vom Tisch und hielt sie zwischen den ausgespannten Händen, wie man einen Vogel, der nicht entfliehen soll, zu halten pflegt. Diese Art und Weise erregte bei den Anwesenden eine gewisse Aufmerksamkeit. Grâce und Douce reckten die Köpfe.
Doctor Hérode's Stimme that ihr Möglichstes, um majestätisch zu klingen.
– Mess Lethierry, wir werden uns nicht trennen, ohne eine Seite in dem heiligen Buch gelesen zu haben. Man wird in allen Lebenslagen durch Bücher erleuchtet. Die Gläubigen erhalten durch die Bibel Fingerzeige. Das erste, beste, auf gut Glück geöffnete Buch giebt uns einen Rath, die Bibel dagegen giebt uns göttliche Offenbarungen. Sie eignet sich vornehmlich für die betrübten Herzen. Man schöpft unfehlbar Linderung des Schmerzes aus der heiligen Schrift. Traurigen gegenüber muß man das heilige Buch befragen, ohne eine besondere Stelle auszuwählen und alsdann mit aufrichtigem Gemüth lesen, was das Auge zuerst erblickt. Gott wählt für den Menschen. Er weiß, was uns Noth thut. Sein unsichtbarer Finger zeigt auf die unerwarteten Worte, welche wir vor uns erblicken. Sei die Seite, welche sie wolle, sie erleuchtet uns unfehlbar. Halten wir uns an diese, ohne eine andere zu suchen. Der Text, den wir mit Vertrauen und Hoffnung heraufbeschwören, verkündet uns geheimnißvoll unser Schicksal. Mess Lethierry, Sie sind in Trübsal; hier ist das Buch des Trostes; Sie sind krank, sehen Sie hier das Buch der Gesundheit!
Der ehrwürdige Jaquemin Hérode öffnete dann die Bibel, ließ einen Augenblick seine Hand auf der aufgeschlagenen Seite ruhen, sammelte sich, senkte die Augen mit würdevoller Miene und las dann mit lauter Stimme:
»Isaak aber kam vom Brunnen des Lebendigen und Sehenden, denn er wohnte im Lande gegen Mittag. – –
– Und Rebecca hob ihre Augen auf und sprach zu dem Knecht: Wer ist der Mann, der uns entgegen kommt?
– Da führte sie Isaak in die Hütte seiner Mutter und sie ward sein Weib und gewann sie lieb.« 1. Buch Moses 24, 62.
Ebenezer und Déruchette sahen einander an.