Victor Hugo
Die Meer-Arbeiter
Victor Hugo

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Viertes Buch.
Gilliatt's Flöte.

Erstes Capitel.
Morgenröthe oder Feuersgluth?

Gilliatt hatte niemals mit Déruchette gesprochen; er hatte sie, wie den Morgenstern, nur immer von fern gesehen.

Als sie ihm auf dem Wege von St. Pierre-Port nach Valle begegnete, und zu seiner Ueberraschung seinen Namen in den Schnee schrieb, war Déruchette sechszehn Jahre alt. Den Tag zuvor hatte Mess Lethierry zu ihr gesagt: »Mit den Kindereien hat es jetzt ein Ende, Déruchette. Du bist ein großes Mädchen.«

Der Name Gilliatt, von diesem Kind in den Schnee geschrieben, war für den Träger desselben verhängnißvoll geworden.

Bis jetzt hatte Gilliatt noch mit keinem weiblichen Wesen verkehrt. Wenn er eine Frau oder ein Mädchen sah, lief er davon; er war niemals der »Galan« irgend einer Bäuerin gewesen, nur im alleräußersten Fall sprach er mit einer Frau; sogar vor einer Alten nahm er Reißaus; er fürchtete sich vor dem schönen Geschlecht.

Einmal in seinem Leben hatte er eine Pariserin gesehen. Sie hatte auf der Reise Guernesey berührt; ein zu jener Zeit seltenes Ereigniß. Gilliatt hörte diese Pariserin in folgender Weise das ihr zugestoßene Mißgeschick erzählen: »Ich bin sehr ärgerlich, mein Hut ist naß geworden! Er ist aprikosengelb, und diese Farbe ist die empfindlichste von der Welt.«

Später fand Gilliatt in einem Buche ein altes Modekupfer. Zum Andenken an diese Pariserin klebte er das Bild an die Wand. An Sommerabenden versteckte er sich zuweilen hinter den Felsen der Bucht Houmet-Paradis und sah den Bäuerinnen zu, wie sie, in ihre lange Hemden gehüllt, in der See badeten. Eines Tages hatte er gesehen, wie die Hexe von Torteval hinter einer Hecke ihr Strumpfband befestigte. Er war noch ganz jungfräulich.

Den Weihnachtsmorgen, an welchem Déruchette ihm begegnet war und lachend seinen Namen in den Schnee geschrieben hatte, kam er wieder nach Hause, ohne sich besinnen zu können, warum er eigentlich ausgegangen war. Der Abend kam; er legte sich zu Bett, allein er konnte nicht schlafen, weil er an tausend Dinge dachte: – erstens hielt er es an der Zeit, die schwarzen Rettige im Garten zu pflanzen; – dann wunderte er sich, daß ihm heute das Schiff von Serk nicht begegnet war; sollte ihm wohl ein Unglück zugestoßen sein? – daß er blühenden Hauswurz gesehen, war ein Wunder in dieser Jahreszeit. – Er wußte niemals genau, in welchem Verhältniß er eigentlich zu der verstorbenen alten Frau, seiner früheren Hausgenossin, gestanden; er meinte, sie müsse wohl jedenfalls seine Mutter gewesen sein, und gedachte ihrer mit doppelter Zärtlichkeit. Dann erinnerte er sich des Brautschatzes, der in dem ledernen Koffer verschlossen war. Und von dem ledernen Koffer mit dem Brautschatz schweiften seine Gedanken zu dem ehrwürdigen Herrn Jaquemin Hérode; er vermuthete, daß dieser würdige Mann wohl eines Tages Dechant von St. Pierre-Port werden könne, wodurch das Rectorat von St. Sampson vakant würde. Er dachte, daß der Tag nach Weihnachten der siebenundzwanzigste nach dem Neumond wäre, und daß in Folge dessen die Fluth um drei Uhr 21 Minuten, die Halbebbe um sieben Uhr 15, die Ebbe um neun Uhr 33 Minuten und die Halbfluth um zwölf Uhr 39 Minuten eintreten würde. Er erinnerte sich mit allen Einzelheiten an die Tracht des Hochländers, der ihm die Flöte verkauft hatte. Die seltsame Tracht stand ihm stets vor Augen, die Gestalt verfolgte ihn wie ein Gespenst. Er begann zu phantasiren; dann entschlummerte er. Er erwachte erst am hellen Tage, und sein erster Gedanke war Déruchette.

In der nächsten Nacht sah er im Traume immer wieder nur den schottischen Soldaten. Dann träumte er auch von dem alten Rector Jaquemin Hérode. Als er erwachte, dachte er wieder an Déruchette, und gerieth in heftigen Zorn gegen sie. Er bedauerte, daß er nicht mehr ein kleiner Knabe wäre, weil er ihr dann sicher die Fenster eingeworfen hätte.

Dann aber dachte er wieder, wenn er ein kleiner Knabe wäre, so lebte seine Mutter noch, und er begann wie ein Kind zu weinen.

Er nahm sich vor, drei Monate nach Chousey oder nach den Minquiers zu reisen; allein er reiste nicht.

Doch betrat er nie wieder den Weg von St. Pierre-Port nach Valle. Er bildete sich ein, der von Déruchette in den Schnee geschriebene Namen Gilliatt sei für alle Zeiten in die Erde eingegraben, und alle Vorübergehenden müßten ihn lesen.


Zweites Capitel.
Der Eintritt in eine unbekannte Welt.

Betrat aber Gilliatt nicht mehr den Weg von St. Pierre-Port nach Valle, so ging er dafür alle Tage in die Gegend des Hauses von Mess Lethierry. Er hatte dabei durchaus keine Absicht, es traf sich ganz zufällig, daß er immer an jenen Ort kam; und merkwürdiger Weise wählte er auch ohne alle Absicht immer den Weg, der dicht an der Mauer von Déruchette's Garten vorbeiführte.

Eines Tages sagte eine Bäuerin, die eben aus dem Garten Mess Lethierry's kam, zu einer anderen Frau: »Miß Déruchette ißt gern Spargel.«

Am nächsten Tage legte Gilliatt auf seinem kleinen Grundstück mit vieler Mühe ein schönes Spargelbeet an.

Die Mauer des Gartens an den Bravées war sehr niedrig; man konnte mit der größesten Bequemlichkeit hinübersteigen. Dieser Gedanke erschreckte Gilliatt. Er hätte es nimmer gewagt, hinüberzusteigen. Aber das konnte doch keinem Vorübergehenden verwehrt sein, die Stimmen derer, die im Garten oder in den Zimmern sprachen, zu hören. Er horchte nicht, aber er hörte.

Ein Mal hörte er, wie die beiden Mägde, Grâce und Douce, mit einander zankten. Dieser Zank berührte Gilliatt's Ohr wie die lieblichste Musik.

Ein anderes Mal hörte er eine Stimme, die ganz anders, ach! viel, viel schöner als alle übrigen klang; das mußte Déruchette's Stimme sein! Er ergriff die Flucht.

Aber die Worte, die jene Stimme gesprochen, blieben seinem Gedächtniß für immer eingeprägt; in jedem Augenblick wiederholte er sie sich. Die Stimme hatte gesagt: »Würden Sie mir wohl die Ginster ablassen?«

Nach und nach wurde Gilliatt kühner; ungesehen von Déruchette, wagte er stundenlang nach ihrem Fenster empor zu schauen. Einmal hörte er sie ihr Lieblingslied Bonny Dundee singen; freilich wurde er sehr blaß, allein er war so muthig, zu bleiben, bis das Lied zu Ende war.

Der Frühling kam. Um diese Zeit hatte Gilliatt eine Vision; er sah den Himmel offen, und erblickte Déruchette, wie sie ihren Lattig begoß.

Bald hatte er sich die Stunden gemerkt, wo sie in den Garten kam; er gewöhnte sich daran, sie kommen und gehen zu sehen; man gewöhnt sich an das Gift. Oft umflatterte sein Blick mit dem Schmetterling um die Wette die Hagebuttenlaube, worin sie mit ihrem Oheim saß und plauderte, und er belauschte dann mit athemloser Spannung ihr Gespräch mit Mess Lethierry. Die Worte kamen ganz deutlich an sein Ohr.

Schon so weit war Gilliatt im Lande des Unbekannten vorgedrungen. Er lauschte! Ja, das Menschenherz ist ein alter Spion!

Noch ein anderes Plätzchen, wo Déruchette sich zuweilen niederließ, kannte Gilliatt.

Auch ihre Lieblingsblumen hatte er sich gemerkt; er wußte, daß sie den Geruch der Winde allen andern Blumendüften vorzog. Nach der Winde erhielt die Nelke, nach der Nelke der Jasmin, nach dem Jasmin das Gaisblatt den Vorzug; dann erst kam die Rose. Die Lilie sah sie gern, doch athmete sie niemals ihren Duft ein.

Nach der Wahl ihrer Lieblingsblumen beurtheilte Gilliatt Déruchette; der besondere Duft jeder einzelnen Blume bedeutete für ihn irgend eine besondere Geistes- oder Körperschönheit der Geliebten.

Nur der Gedanke, mit ihr zu sprechen, trieb ihm das Haar zu Berge.

Eine alte Weberfrau, welche ihr Gewerbe von Zeit zu Zeit in die Nähe der Bravées trieb, hatte Gilliatt schon mehrmals lauschend und spähend an der Gartenmauer angetroffen. Sollte wohl diese alte Frau auf den Gedanken gekommen sein, daß hinter dieser Mauer, an welcher Gilliatt wie angewurzelt stand, ein junges Mädchen sei? Schlug dieser alten Frau denn unter ihren Lumpen ein Herz, welches, dem Alter und dem Elend zum Trotz, sich noch in die schöne Blüthenzeit des Lebens, das auch ihr einst lächelte, versetzen konnte? Zauberte ihre Phantasie ihr im Winter die Sonnenwelt des Frühlings vor die Seele? Wir können es nicht sagen. So viel aber ist gewiß, daß sie einmal ganz dicht an Gilliatt vorbeistreifte, ihn mit ihrem alten runzligen Gesicht so freundlich wie ein junges Mädchen anlächelte und ihm zuraunte: »Das macht heiß! Nicht wahr?«

Gilliatt vernahm das Wort; er erschrak und wiederholte mit leisem Murmeln die Frage: Das macht heiß? Was will die Alte damit sagen?

Den ganzen Tag wiederholte er sich dieses Wort und grübelte unaufhörlich seinem Sinne nach; allein vergebens, er verstand es nicht.

Eines Abends badeten fünf bis sechs junge Mädchen, die eigens zu dem Zweck aus L'Ancresse gekommen waren, in der Bucht des Houmet-Paradis. Gilliatt konnte sie ganz deutlich von seinem Zimmer aus sehen. Heftig schlug er das Fenster zu und wendete sich ab. Er bemerkte, daß ein nacktes Weib ihm Schauder einflößte.


Drittes Capitel.
Das Lied Bonny Dundee findet ein Echo auf dem Hügel.

Hinter der Umzäunung des zu den Bravées gehörigen Gartens befand sich ein von Stechpalmen, Moos und Brennnesseln völlig überwachsener Mauerwinkel; eine baumartig in die Höhe geschossene wilde Malve und eine hohe Königskerze sproßten zwischen dem Steingerölle empor. In diesem Schlupfwinkel brachte Gilliatt seinen ganzen Sommer zu. Die Eidechsen hatten sich schon an den stillen friedlichen Träumer gewöhnt, und wärmten sich zutraulich neben ihm auf den von der Sonne durchglühten Steinen. Der Sommer war schön; laue Lüfte kühlten die Hitze der Atmosphäre und spielten mit den Locken Gilliatt's, über dessen Haupt die Wolkenbilder sich kreuzten. Er saß im Rasen; rund um ihn her war tiefer Friede, eine Ruhe, welche nur der Gesang der Vögel mit fröhlichem Leben unterbrach. Gilliatt hielt sich mit beiden Händen die brennende Stirn und fragte sich: Warum schrieb sie nur meinen Namen in den Schnee? Der Wind wehte heftig vom Meer herüber. Von Zeit zu Zeit hörte man das Signalhorn der Steinsprenger in der Baudue, welches den Vorübergehenden verkündete, daß sogleich eine Mine springen würde, und man sich vorsehen solle. Man konnte den Hafen von St. Sampson nicht sehen; nur die Spitzen der Masten ragten über den Bäumen hervor; es kamen Möwen und setzten sich darauf, schossen wieder hinab und flogen mit dem Winde davon. Gilliatt hatte einmal seine Mutter sagen hören, daß Frauen sich in Männer verliebten, so etwas käme bisweilen vor. Aha! dachte Gilliatt, ich begreife! Déruchette ist in mich verliebt, warum hätte sie sonst meinen Namen in den Schnee geschrieben? Gilliatt wurde tief betrübt. Er sagte sich: Aber auch sie denkt ebenso an mich; das ist wohl sicher. Er dachte daran, daß Déruchette reich, er aber arm sei. Er fand, daß das Dampfboot eine verwünschte Erfindung sei. Er konnte sich nie erinnern, den wie Vielten im Monat man schriebe; so gedankenlos blickte er auf Alles um ihn her.

Eines Abends schloß Déruchette, wie sie es gewöhnlich vor dem Schlafengehen zu thun pflegte, die Fenster. Die Nacht war finster. Plötzlich hörte sie Musik; sie ließ das Fenster geöffnet und lauschte. Es war ihr Lieblingslied Bonny Dundee, das Jemand auf dem gegenüberliegenden Hügel oder am Fuße der Thürme des Schlosses Du Balle auf der Flöte blies; doch bemühte sie sich vergebens, den nächtlichen Flötenspieler zu erkennen.

Seit jener Zeit wiederholte sich von Zeit zu Zeit, besonders in dunkeln Nächten, diese geheimnißvolle Musik.

Déruchette war nicht sonderlich davon erbaut.


Viertes Capitel.
Ein Vormund und ein Oheim, ehrwürdige Orakel,
Verdammen Serenaden als nächtlichen Spectakel.

(Vers aus einer alten Comödie.)

Vier Jahre waren seit der Zeit verflossen, wo Gilliatt Déruchette zum ersten Mal gesehen.

Déruchette zählte fast einundzwanzig Jahre und war noch immer unvermählt.

Es hat irgend Jemand einmal irgendwo gesagt: Eine fixe Idee ist ein Bohrer, der mit jedem Jahre um eine Windung tiefer eindringt. Wenn man ihn im ersten Jahr aus dem Kopf herausdrehen will, reißt man die Haare mit; im zweiten Jahre auch die Haut; im dritten zersprengt man den Schädel; im vierten aber reißt man das ganze Hirn heraus.

Gilliatt's fixe Idee hatte das vierte Jahr erreicht. Er hatte noch kein Wort mit Déruchette gewechselt. Er dachte fortwährend an das reizende Mädchen; das war Alles. Ein Mal, als sie vor der Thür ihres Hauses mit Mess Lethierry sprach, hatte er es gewagt, dicht an ihr vorbei zu gehen. Er glaubte bemerkt zu haben, daß Déruchette lächelte. War dieser Glaube ein Wahn? Wir wissen es nicht, doch sind wir von der Ueberzeugung tief durchdrungen, daß ein Lächeln bei Déruchette eben keine Unmöglichkeit war.

Gilliatt brachte noch immer seine nächtlichen Ständchen, Mess Lethierry war verdrießlich darüber; das nächtliche Flötengedudel unter Déruchette's Fenster gefiel ihm durchaus nicht. Er konnte die romantische Schwärmerei nicht leiden; denn er war ein praktischer Mann, der, wie in Allem, so auch in der Liebe, den geraden, offenen Weg den Schleichwegen vorzog. Er wollte seine Nichte verheirathen, aber ganz einfach, ohne Roman und ohne Musik. Es dauerte ziemlich lange, bis er aufmerksam wurde; doch als er endlich dem Jäger auf die Spur gekommen war, ruhete er nicht eher, bis er wußte, wer es war. Er legte sich daher in einer jener finstern Nächte, die der Flötenspieler sich vorzugsweise zu seinem Vortrag ausersah, auf die Lauer. Als er Gilliatt erkannte, fuhr er mit den Fingern in seinen Backenbart, wie er zu thun pflegte, wenn er grimmig war, und brummte vor sich hin: »Was hat das Thier da unten zu flöten? Er liebt Déruchette, das ist klar. Du opferst deine Zeit unnütz, mein Junge. Wer um Déruchette werben will, der muß sich geraden Wegs an mich wenden, aber nicht Flöte blasen!«

Zu jener Zeit aber geschah etwas, was die Bewohner von St. Sampson und der Umgegend schon lange als bevorstehend erwartet hatten. Dies wichtige Ereigniß war die Ernennung des ehrwürdigen Herrn Jaquemin Hérode zum Dechanten von St. Pierre-Port, welche neue Würde der geistliche Herr sogleich nach dem Eintreffen seines Nachfolgers, des neuen Rectors von St. Sampson, antreten sollte.

Dieser sein Nachfolger in dem bisher verwalteten Amte war ein normännischer Gentleman, ein gewisser Herr Joë Ebenezer Caudray, englisch geschrieben Cawdry.

Man wußte von dem zukünftigen Rector so mancherlei Dinge, welche die Wohlwollenden zu seinem Vortheil, die Mißgünstigen zu seinem Nachtheil auslegten. Man wußte, daß er jung und arm war; doch wurde seine Jugend durch große Gelehrsamkeit und seine Armuth durch große Hoffnung für die Zukunft aufgewogen. Er war der Neffe und Erbe des alten wohlhabenden Dechanten von St. Asaph; wenn der Dechant die Augen schloß, war der Neffe ein reicher Mann. Andrerseits gehörte Herr Ebenezer Caudray durch verwandtschaftliche Beziehungen zu hochgestellten Personen fast zu der Klasse der Honoratioren. Was seine Lehre betrifft, so beurtheilte man dieselbe in verschiedener Weise. Er war Anglikaner, allein nach dem Ausspruch des Herrn Bischof Tillotson sehr »freigeistig,« das heißt, sehr streng. Das Pharisäerthum war ihm zuwider; er hielt sich mehr zu dem Presbyterium als zu dem Episcopat. Er träumte noch von der Urkirche, welche Adam das Recht zuerkannte, Eva zu wählen, und wo Frumentanus, Bischof von Hierapolis, ein Mädchen entführte und zu seiner Gattin machte, indem er zu ihren Eltern sagte: »Sie will es und ich will es; Du, Vater, bist fortan nicht mehr ihr Vater, Du, Mutter, nicht mehr ihre Mutter: Ich bin der ›Engel‹ von Hierapolis, und ihr Vater ist Gott.« Wir können es nicht als Wahrheit verbürgen, man behauptete aber damals, daß M. Ebenezer Caudray den Text: Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren, dem von ihm höher geschätzten Text: Das Weib ist Fleisch von des Mannes Fleisch. Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen, unterordnete. Uebrigens ist dieses Bestreben, die väterliche Gewalt zu beschränken und unter dem Deckmantel der Religion jede Form der Eheschließung anzuerkennen, dem Protestantismus überhaupt, doch ganz besonders dem in England und in Amerika eigen.


Fünftes Capitel.
Wie sich die öffentliche Meinung über das Unternehmen Lethierry's vernehmen ließ.

Mess Lethierry hatte seine Schlußrechnung gemacht. Er war zufrieden; seine Schulden in Bremen und St. Malo waren getilgt und außerdem das »Haus der Muthigen« von seiner drückenden Hypothekenlast befreit. Die Durande hatte nicht nur bis jetzt ihre Schuldigkeit gethan, sie war auch zu gleicher Zeit ein produktives Kapital in den Händen ihres Besitzers geworden, das eine glänzende Zukunft in Aussicht stellte. Sie brachte jetzt einen jährlichen Reingewinn von tausend Pfund Sterling, der sich mit jedem Jahr noch vermehrte. Die Durande war also im eigentlichen Sinne des Wortes das Vermögen Mess Lethierry's, und nicht nur das seinige, sondern auch das des Landes.

Man hatte, um den Transport der Ochsen zu erleichtern, welcher am meisten einbrachte, die beiden kleinen Boote von der Durande entfernt. Das war vielleicht eine Unklugheit; denn es stand ihr jetzt nur noch ein einziges Fahrzeug, die Schaluppe, zu Gebot. Freilich war diese ein ganz vortreffliches Schiff.

Es waren seit dem Zeitpunkte, als sich Rantaine mit der Kasse Mess Lethierry's entfernt hatte, zehn Jahre verflossen.

Merkwürdig, daß man in ganz Guernesey nicht etwa der Unternehmung selber und ihrer vortrefflichen Leitung, sondern lediglich dem Zufall das erstaunliche Glück zuschrieb, welches die Durande machte. Der sich daraus entwickelnde Wohlstand ihres Besitzers wurde als eine Ausnahme betrachtet. Man bezeichnete das ganze Unternehmen als eine glücklich abgelaufene Narrheit. Es hatte Jemand in Cowes auf der Insel Wight diese Narrheit nachgemacht, doch ohne denselben glücklichen Erfolg zu erzielen. Dieser unglückliche Versuch hatte die Actionäre des Unternehmens ruinirt. Mess Lethierry war der Meinung, der Mißerfolg dieser Spekulation müßte jedenfalls das Resultat einer schlechten Construktion der Maschine sein. Man zuckte die Achseln über diese seine Meinung. Es ist das Schicksal aller Erfindungen, überhaupt alles Neuen, daß es von Anfang an die ganze Welt zum Gegner hat. Die öffentliche Meinung ist bei dem allergeringsten faux pas sogleich mit ihrem Verdammungsurtheil bei der Hand.

Eines der commerciellen Orakel des normannischen Pelagus zu jener Zeit war der Pariser Banquier Jauge. Man erzählt sich, daß, als Jemand seinen Rath und seine Hülfe für die Errichtung einer Dampfschifffahrt in Anspruch nehmen wollte, dieser würdige Mann diesem Jemand den Rücken kehrte, mit den Worten: »Wie könnt Ihr von mir erwarten, daß ich Silber in Dampf verwandle?«

Die Segelschiffe hingegen fanden ohne die geringsten Schwierigkeiten und überall ihre Commanditen. In Guernesey war die Durande eine Thatsache, aber der Dampf nicht Princip geworden. So tief ist der Haß zwischen der Negation und dem Fortschritt. Man sagte von Lethierry: »Es ist gut, aber zum zweiten Male thut er es nicht.« Sein Beispiel fand daher, ungeachtet des augenscheinlichen Erfolgs der Unternehmung, keine Nachahmer. Niemand hätte es gewagt, eine zweite Durande zu bauen.


Sechstes Capitel.
Wie Schiffbrüchige Einem begegnen können.

Die Aequinoctialstürme kündigen sich im Kanal zeitig an. Die Enge dieses Meeres hemmt und steigert den Wind. Schon im Monat Februar erschüttern die Westwinde die Wogen und machen die Schifffahrt unsicher. Die Küstenbewohner sehen nach dem Nothzeichen und ängstigen sich für die Schiffe, welche unterwegs sind. Das Meer erscheint wie ein Hinterhalt; unsichtbare Kriegstrommeten rufen zum Kampf; mit furchtbaren Athemzügen schnauben und stöhnen die Winde; hinter dem verdüsterten Gewölk bläht das Antlitz des Sturmes die Backen auf.

Ist aber der Sturm auf dem Meere gefährlich, so ist es der Nebel nicht weniger.

Der Nebel war zu allen Zeiten der Schrecken der Seeleute.

In gewissen Nebeln schweben mikroskopische Krystalle von Eis, welchen Mariott den Hof des Mondes, die Nebensonnen und Nebenmonde zuschreibt.

Die stürmischen Nebel reihen sich zu Bildungen an einander, indem verschiedene Dünste, von ungleichem specifischem Gewicht, sich mit den Ausdünstungen des Wassers vermischen, welche sich regelmäßig über einander häufen und so den dichten Nebel in Schichten theilen, wodurch derselbe eine bestimmte sichtbare Gestaltung gewinnt; zu unterst erscheint der Jod, über dem Jod der Schwefel, über diesem das Brom, und über dem Brom der Phosphor. Indem dadurch nach einem gewissen Verhältniß eine elektrische und magnetische Spannung entsteht, erklären sich viele Phänomene; das St. Elms-Feuer von Columbus und Magellan, die durch die Himmelszeichen fliegenden Sterne des Seneca, die beiden Flammen Castor und Pollux, wovon Plutarch spricht, die römische Legion, deren Speere Cäsar brennen zu sehen glaubte, die Spitze des Schlosses Duino in Friaul, welche Funken sprühte, als die Schildwache sie mit der Spitze ihrer Lanze berührte, und vielleicht auch die Lichterscheinungen von unten herauf, welche die Alten die Erdenblitze des Saturn nannten. Am Aequator erscheint ein ungeheurer immerwährender Nebel, wie um den Erdkreis geschlungen; das ist der Cloud-ring, der Wolkenring. Der Cloud-ring kühlt die tropische Gegend eben so ab, wie der Golfstrom die Pole erwärmt. Hier befindet sich die »Pferdebreite«, Horse latitude; die Schiffer des vorigen Jahrhunderts warfen nämlich in dieser Gegend die Pferde in das Meer, in Zeiten des Sturmes, um sich zu erleichtern, in ruhigen Zeiten, um den Wasservorrath zu ersparen. Columbus sagte: »Nube abajo es muerte.« Der niedrige Nebel ist der Tod. Die Etrusker, welche für die Meteorologie dasselbe sind, was die Chaldäer für die Sternkunde, hatten zwei Priesterschaften, eine für das Gewitter, die andere für den Nebel. Die Gewitterdeuter beobachteten die Blitze, die Wasserdeuter den Nebel. Das Collegium der alten Auguren des Tarquinius wurde von den Tyrern, den Pelasgern, den Phöniziern und von allen Mittelmeerschiffern der Urzeit um Rath gefragt. Man sagte damals die Entstehung des Sturmes voraus; diese aber ist auf das Genaueste verbunden mit der Entstehung des Nebels, ja, es ist im Grunde ein und dasselbe Phänomen. Es giebt auf dem Ocean drei Nebelregionen, eine aequatoriale und zwei polare; die Seeleute geben ihnen nur einen Namen: Der schwarze Topf.

Auf allen Seestrecken, und besonders auf der des Kanals, sind die Aequinoctialstürme gefahrdrohend; sie machen urplötzlich Nacht auf dem Meer. Eine Gefahr des Nebels, auch wenn er nicht sehr dicht ist, besteht darin, daß man die Veränderung des Grundes in Folge der Veränderung der Farbe der Oberfläche nicht erkennen kann; dadurch entsteht eine schlimme Verheimlichung der Klippen und Untiefen, welchen man sich nähert, ohne es zu ahnen. Oft gestatten die Stürme dem Schiff auf seinem Wege keine andere Vorsichtsmaßregel, als die Segel einzuziehen oder Anker zu werfen.

Es werden eben so viel Schiffbrüche durch Nebel wie durch Sturm veranlaßt.

Trotzdem kam nach einem sehr heftigen Nordwind, welcher auf einen jener Nebeltage folgte, das Postschiff Cashmere wohlbehalten aus England an. Es lief im Hafen von St. Pierre ein beim ersten Strahle des Tages, der vom Meer aufstieg, in demselben Moment, wo das Schloß Cornet durch einen Kanonenschuß den Anbruch des Tages verkündigte. Der neue Pfarrer von St. Sampson befand sich unter den Passagieren dieses Schiffes.

Kurz nach der Ankunft des Cashmere verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, daß dieses Boot während der Nacht auf dem Meere von einer Schaluppe angerufen worden sei, auf welcher sich eine schiffbrüchige Mannschaft befunden habe.


Siebentes Capitel.
Der Schläfer im Felsenstuhl.

In dieser Nacht war Gilliatt, als der Wind sich gelegt hatte, fischen gegangen; doch wagte er sich nicht in das Meer hinaus, sondern hielt sich dicht an der Küste.

Zur Zeit der Fluth kehrte er wieder nach Hause zurück; es mochte wohl um die zweite Nachmittagsstunde sein, die Sonne schien hell und strahlend. Als er am Kuhhorn vorüberkam, sah er einen Schatten in der Nische des Gild-Holm-'Ur. Als er nahe genug herangekommen war, um deutlich erkennen zu können, sah er, daß dieser Schatten ein Mensch war, der auf dem Felsenstuhl saß. Das Meer war schon sehr hoch gestiegen, die Wogen umzingelten das Kuhhorn, die Rückkehr war unmöglich. Gilliatt gab nun dem Mann im Felsenstuhl durch Zeichen zu verstehen, daß Gefahr im Anzuge sei; dieser jedoch beantwortete mit keiner Miene seine Zeichensprache; er schlief.

Dieser Mann trug einen schwarzen Anzug. – Er sieht aus wie ein Priester, dachte Gilliatt. Er kam ihm ganz nahe und sah, daß er ein junger Mann war.

Er kannte ihn nicht.

Das Meer war nun schon so hoch gestiegen, daß er die Füße des Schläfers erreichen konnte, wenn er sich auf den Rand des Schiffes stellte. Er that dieses, indem er zu gleicher Zeit beide Arme in der Richtung des Felsenstuhles ausstreckte. Diese Stellung brachte ihn in die äußerste Gefahr; wäre er in diesem Augenblick in das Meer gestürzt, so hätte er schwerlich je wieder die Oberfläche desselben geschaut, denn er hätte sich unfehlbar in dem engen Raum zwischen dem Kuhhorn und seiner Schaluppe den Kopf an den Felsen zerschmettert. Er ergriff den Schläfer am Fuß.

– Heda, was macht Ihr hier?

Der Jüngling erwachte.

– Ich genieße die schöne Aussicht, sagte er.

Er erhob sich nun und setzte hinzu:

– Ich komme von der Reise, habe die ganze Nacht auf dem Meere kein Auge geschlossen, und wollte mich durch einen Spaziergang am Strande erfrischen; dies Plätzchen hier lockte mich wegen der herrlichen Fernsicht, die es bietet, doch wollten die müden Augen nicht länger offen bleiben. – Ihr traft mich eingeschlafen hier auf diesem Felsenstuhl. –

– In zehn Minuten hätte Euch die Fluth in's Meer gespült.

– Pah!

– Springt in mein Schiff.

Gilliatt hielt mit dem Fuß die Barke fest, umklammerte mit einer Hand den Felsen und bot die andere dem Fremden dar; dieser erfaßte sie und schwang sich leicht und behend in das Fahrzeug. Es war ein außerordentlich schöner junger Mann. Gilliatt ergriff nun das Ruder und in zehn Minuten war er an seinem Hause angelangt.

Der junge Fremde trug einen runden Hut und eine weiße Kravatte. Sein langer schwarzer Rock war bis an den Hals zugeknöpft. Blondes Haar bedeckte sein Haupt wie eine Krone; er hatte ein fast weibliches Gesicht, ein reines Auge und ernste Züge.

Unterdessen hatte die Barke das Land erreicht; Gilliatt befestigte das Ankertau in dem eisernen Ring; als er sich umdrehte, reichte ihm die schöne weiße Hand des Fremdlings ein Goldstück.

Er schob diese Hand sanft zurück.

Es entstand eine Pause. Der Jüngling nahm zuerst wieder das Wort.

– Ihr habt mir das Leben gerettet, sagte er.

– Kann sein, antwortete Gilliatt.

Die Barke war nun befestigt; sie sprangen Beide an's Land. Der junge Fremde wiederholte:

– Ich verdanke Euch mein Leben.

– Was thut das?

Dieser Antwort Gilliatt's folgte abermals eine Pause.

– Seid Ihr aus diesem Kirchspiel? fragte nun der Fremde Gilliatt.

– Nein, war die Antwort.

– Zu welchem Kirchspiel gehört Ihr denn?

Gilliatt erhob die Hand gen Himmel und sagte:

– Zu jenem.

Der junge Mann grüßte und verließ ihn.

Nach einigen Augenblicken kehrte er jedoch zurück, zog ein Buch aus seiner Tasche und reichte es Gilliatt.

– Erlaubt mir wenigstens, Euch dieses anzubieten.

Gilliatt nahm es.

Es war eine Bibel.

Einen Augenblick darauf sah Gilliatt den jungen Mann den Weg nach St. Sampson einschlagen.

Da stand er, gelehnt an die Brustwehr, und sah dem sich Entfernenden so lange nach, als ihn sein Auge verfolgen konnte; dann aber senkte er den Kopf, vergaß seine neue Bekanntschaft, den Felsenstuhl und Alles, was eben jetzt noch seine Seele beschäftigt hatte, denn diese seine Seele hatte nur für ein einziges Bild, das der Geliebten, Raum.

Eine Stimme, die ihn bei seinem Namen rief, weckte ihn aus seinen Träumereien.

– He, Gilliatt!

Er kannte den Klang dieser Stimme.

– Was giebt es, Sieur Landoys?

Es war in der That Sieur Landoys, welcher in einer Entfernung von etwa hundert Schritten in seinem kleinen Phaeton an ihm vorüberfuhr. Er machte einen Augenblick Halt, um Gilliatt anzurufen, schien jedoch große Eile zu haben.

– Wichtige Neuigkeiten, Gilliatt, große Ereignisse. – Es hat sich etwas zugetragen –

– Wo?

– Im Hause der Muthigen.

– Was?

– Ich bin zu weit von Euch entfernt, um Euch Alles erzählen zu können.

Gilliatt erbebte.

– Verheirathet sich Miß Déruchette?

– Nein. Sie muß.

– Was meint Ihr?

– Gehet hin, so werdet Ihr es erfahren.

Sir Landoys trieb sein Pferd an, und wie der Wind sauste der kleine Wagen dahin.



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