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Sieur Clubin war ein Mann, welcher es verstand, seine Zeit abzuwarten, wenn er etwas vorhatte.
Er war klein und gelb und stark wie ein Stier. Vergebens hatte es das Meer versucht, sein wachsgelbes Gesicht zu bräunen; es blieb ein Wachsgesicht, und sogar sein Auge hatte etwas von dem Licht einer Wachskerze. Sein Gedächtniß ließ ihn niemals im Stich, es war von einer ganz merkwürdigen Unfehlbarkeit. Hatte er nur ein einziges Mal einen Menschen gesehen, so hatte er ihn fest im Gedächtniß wie in ein Notizbuch verzeichnet. Der lakonische Blick dieses Mannes packte Jeden gleichsam mit festen Fingern. Sein Augapfel bewahrte jedes Bild, das sich ihm einmal eingeprägt hatte; und mochten auch Jahre darüber hingegangen sein und das Alter die Gesichtszüge verändert haben, Sieur Clubin erkannte in dem gefurchten Gesicht das frühere junge Gesicht wieder. Es war unmöglich, das Gedächtniß dieses Mannes auch nur einen Augenblick zu täuschen. Sieur Clubin war wortkarg, nüchtern und kalt; niemals begleitete er seine Worte auch nur mit der geringsten Bewegung. Seine offene, redliche Miene nahm auf der Stelle für ihn ein. Viele Leute hielten ihn für naiv; er hatte eine gewisse Falte im Augenwinkel, welche ihm ein erstaunlich dummes Ansehen gab. Wir haben schon seine außerordentlichen Fähigkeiten als Seemann geschildert; auch sein Charakter als Mensch und Bürger ließ nichts zu wünschen übrig; er war in jeglicher Beziehung ein Muster. Keiner war so fromm, so heilig, als Sieur Clubin; es gab keinen gewissenhafteren, keinen redlicheren Menschen, als Sieur Clubin. Wem er verdächtig erscheinen konnte, der war sicherlich selbst ein verdächtiges Subject. Er war befreundet mit einem Wechsler, Namens Rebuchet, in St. Malo. Dieser Mann sagte: »Keinem Anderen als Sieur Clubin würde ich mein ganzes Geschäft anvertrauen.« Sieur Clubin war Wittwer. Seine verstorbene Frau stand in dem Rufe eben so großer Gewissenhaftigkeit, als er selber. Sie stand im Ruf einer unerschütterlichen Tugend. Hätte ihr jemals der Amtmann den Hof gemacht, so hätte sie es ganz sicher dem Könige angezeigt; und wäre der liebe Gott in sie verliebt gewesen, so hätte sie es sicher dem Pfarrer gebeichtet. Das Ehepaar Clubin war der personificirte Ausdruck des englischen Wortes »respectabel«. Sie galten in ganz Torteval für Muster des Anstandes. War Madame Clubin der Schwan, so war Herr Clubin das Hermelin. Er wäre an einem Flecken gestorben. Wenn er eine Stecknadel fand, so ruhete er nicht eher, als bis er ihren Eigenthümer entdeckte. Den Fund eines Packets Streichhölzer hätte er ohne alle Frage veröffentlicht. Eines Tages gab er dem Gastwirth von St. Servan fünfundsechszig Centimes zurück mit den Worten: »Freund', Ihr habt Euch, als ich vor drei Jahren hier frühstückte, um fünfundsechszig Centimes verrechnet.«
Das war ein großer Beweis von Ehrlichkeit. Er kniff dabei die Lippen mit einem seltsamen Ausdruck zusammen. Er schien ungehalten. Worüber? Wahrscheinlich über die Gauner.
Jeden Dienstag führte Sieur Clubin die Durande nach St. Malo. Er kam daselbst des Abends an, hielt sich zwei Tage auf, um seine Geschäfte zu besorgen, und kehrte dann Freitag früh mit seinem beladenen Schiff wieder nach Guernesey zurück.
Zu jener Zeit befand sich dicht am Hafen ein kleines Wirthshaus, welches man die Herberge zum Johannes nannte.
Das war das Absteigequartier Sieur Clubin's, denn es befand sich in diesem Hause zu gleicher Zeit das französische Bureau der Durande.
Die Zollbeamten und Küstenwärter aßen dort zu Mittag. Sie hatten ihren besonderen Tisch. Die Zollbeamten von Binic trafen dort mit ihren Collegen aus St. Malo zusammen.
Es kamen auch häufig Schiffscapitäne dorthin, welche ebenfalls, wie die Zollbeamten, ihren besonderen Tisch hatten.
Sieur Clubin setzte sich bald an diesen, bald an jenen Tisch; er war an beiden gleich gern gesehen, doch zog er in der Regel die Gesellschaft der Zollbeamten und Küstenwärter vor.
Man speiste sehr gut in diesem Hause. Ein gewisser Herr Gertrais-Gaboureau präsidirte an der Tafel der Schiffscapitäne. Dieser Mensch war eigentlich kein Mensch, sondern ein Barometer. Seine langjährigen Erfahrungen zur See hatten aus ihm einen unfehlbaren Wetterpropheten gemacht. Er bestimmte genau das Wetter des nächsten Tages vorher. Er erkannte den Wind durch das Gehör. Er fühlte der Fluth den Puls und sagte zu den Wolken: zeigt mir Eure Zunge, das heißt den Blitz. Er war der Arzt der Wogen, der Brisen, des Sturmes; der Ocean war sein Kranker; er kannte den Zustand der Klimate und die Pathologie der Jahreszeiten aus dem Grunde. Er haßte England eben so sehr, als er den Ocean liebte; er hatte die englische Marine nur studirt, um ihre schwachen Seiten kennen zu lernen. Er beurtheilte die Nationen nach ihren Marinen. England nannte er Trinity House, Schottland Northern commissioners, Irland Ballast board.
Selten war der Gegenstand des Gesprächs an dem Tische der Capitäne und an dem der Zollbeamten und Küstenaufseher derselbe. Dies war jedoch ausnahmsweise in den ersten Tagen des Februar, bis zu welchem Zeitpunkte unsere Geschichte vorgeschritten ist, der Fall. Der Capitän des Dreimasters Tamaulipas, Namens Zuela, welcher aus Chili gekommen war und wieder dorthin zurückkehren wollte, nahm dieses Mal die Aufmerksamkeit sämmtlicher Anwesenden in Anspruch. An der Tafel der Capitäne besprach man seine Schiffsladung, an dem Tische der Zollbeamten und Küstenwärter gaben seine Schliche den Stoff zur Unterhaltung. Der Capitän Zuela aus Copiapo hatte den Unabhängigkeitskrieg mitgemacht, und zwar in der unabhängigsten Weise. Er hielt es bald mit Bolivar, bald mit Morillo, auch wohl mit Beiden zugleich, wie es ihm Vortheil brachte. Er war Allerweltsdiener, und als solcher reich geworden. Er war Bonapartist, Bourbonist, Absolutist, Atheist, Katholik, und huldigte dem Liberalismus. Er war Alles, that Alles, wenn es ihm etwas einbrachte. Er gehörte zu der großen Partei, die man die Fraction »Nimm« nennen könnte. Von Zeit zu Zeit machte Herr Zuela Handelsreisen nach Frankreich, und wenn man dem Gerücht Glauben schenken darf, machte er dadurch, daß er politischen Flüchtlingen und Emigrirten, auch wohl bankerotten Kaufleuten die Hand zur Flucht bot, ganz ausgezeichnet gute Geschäfte; er nahm Alle, Schufte wie Ehrenmänner, in sein Schiff auf, wenn sie nur bezahlten. Die Polizei wußte er dadurch zu täuschen, daß er die verdächtigen Passagiere nicht im Hafen aufnahm, sondern von irgend einer einsamen Stelle am Strande durch eines seiner Boote abholen ließ. Er hatte auf seiner letzten Seereise den in contumaciam verurtheilten Berton entschlüpfen lassen, und dieses Mal wollte er, wie man sich erzählte, mehrere Personen, die sich in der Affaire an der Bidassoa compromittirt hatten, mitnehmen. Die Polizei hatte ein wachsames Auge auf ihn. Es war damals eine wahre Fluchtepoche. Die Restauration war eine Reaction. Die Revolutionen führen Emigrationen, die Restaurationen Verfolgungen herbei. Während der ersten acht Jahre nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen beherrschte ein panischer Schrecken die Finanzen, die Industrie und den Handel. Der Letztere stand auf einem Vulkan. Die Bankerotte waren an der Tagesordnung. »Rette sich, wer kann!« – war der Wahlspruch der Politik geworden. Lavalette war geflohen, Lefebvre Desnouettes war geflohen, Delon hatte die Flucht ergriffen. Die außerordentlichen Gerichtshöfe wütheten, mehr noch Trestaillon. Man floh die Brücke von Saumur, die Esplanade von La Réole, die Mauer des Observatoriums von Paris, den Thurm von Taurias in Avignon – düstere Schattenbilder, welche die Reaction in das Buch der Geschichte verzeichnet, und welchen noch heute die Spuren jener blutigen Hand anhaftet. In London hatte der sich nach Frankreich verzweigende Prozeß Thistlewood, in Paris der sich nach Belgien, nach der Schweiz und Italien verzweigende Prozeß Trogoff die Ursachen der Besorgniß und der heimlichen Flucht vermehrt und selbst die höchsten Schichten der damaligen Gesellschaft fast bis zur Entvölkerung unterwühlt. Alles zitterte und floh. Sich und sein Hab' und Gut in Sicherheit zu bringen, war das Einzige, woran man dachte. Wer verdächtig befunden wurde, war verloren. Man floh nach Texas, man rettete sich nach Peru oder Mexico. Die Männer von der Loire, damals Räuber, heute Nabobs, hatten jene Colonie, das berühmte »Zufluchtsfeld« in Texas gegründet. Béranger sang: Ihr Wilden, wir sind Franzosen, habt Mitleid mit unserem Ruhm! Die einzige Rettung war Auswanderung. Nichts aber ist weniger leicht als die Flucht. Dieses einsylbige Wörtlein bezeichnet einen Abgrund von Elend. Wer flüchtet, hat mit tausend Hindernissen zu kämpfen; sehr vornehme, sogar berühmte Personen mußten Verbrecher-Schleichwege wählen, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Es fehlt aber diesen Armen an der die Verbrecher auszeichnenden Geschicklichkeit; es giebt nichts Linkischeres, als die Rechtlichkeit vor dem Richterstuhl.
Nur für den Unredlichen ist die Flucht leicht und sogar mit Vortheilen verbunden. Es war durchaus nichts Ungewöhnliches, irgend einen vor den Gesetzen Englands oder Frankreichs Flüchtenden in fremdem Lande als Hohenpriester oder als Großmogul wieder auftauchen zu sehen. Es wurde ein bestimmter Industriezweig, den Flüchtlingen für Geld und gute Worte Gelegenheit zur Flucht zu bieten. Wer sich nach England flüchten wollte, wandte sich an die Schmuggler; wer nach Amerika zu flüchten beabsichtigte, wandte sich an Betrüger von so alter Praxis, wie der Capitän Zuela.
Zuela speiste zuweilen in dem Wirthshaus am Hafen. Sieur Clubin kannte ihn von Ansehen.
Man konnte Sieur Clubin nicht nachsagen, daß er stolz sei; er verschmähte es nicht, die oberflächliche Bekanntschaft von Banditen und Spitzbuben zu machen; zuweilen hatte er sogar freundschaftliche Beziehungen mit Einem oder dem Anderen dieser gefährlichen Spitzbuben angeknüpft; man bemerkte öfter, wie er ihnen im Vorübergehen die Hand reichte oder einen Gruß zuwinkte. Er sprach englisch mit dem Schmuggler und radebrecht spanisch mit dem »Contrabandist.« Sieur Clubin hatte darüber seine eigenen Grundsätze: Der Zweck heiligt die Mittel. – Auch das Böse kann dem Guten zu Nutz und Frommen gereichen. – Es kommt dem Wildhüter zu Statten, wenn er sich zuweilen mit dem Wilddieb unterhält. – Der Pilot muß den Piraten kennen lernen, denn der Pirat ist eine Klippe. Sieur Clubin sagte ferner: Ich bin der Arzt, der das Gift kostet. Wer kann gegen solche Grundsätze etwas einzuwenden haben? Alle Welt gab dem Sieur Clubin Recht; man hatte durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß Sieur Clubin mit Gesindel verkehrte; man hätte es für eine lächerliche Abgeschmacktheit gehalten, wenn er sich aus Furcht vor übler Nachrede nicht mit diesen Leuten eingelassen hätte. Wer konnte bei einem so ausgezeichneten Ehrenmann, wie Sieur Clubin etwas Arges darin finden? Man war so vollkommen davon überzeugt, daß Alles, was Sieur Clubin zu thun für gut fand, zum Besten der Durande geschah, daß er überall nur den Vortheil seines Capitäns im Auge hatte. Den Ruf Sieur Clubin's konnte Nichts erschüttern. Der Krystall nimmt keine Flecken an. Seine Sünden waren nur Scheinsünden, und als solche ihm im Voraus vergeben. Man kannte seine Klugheit; man wußte, daß sein vertraulicher Umgang mit den Spitzbuben nur das Resultat dieser Klugheit war; daher dienten derartige Klugheitsrücksichten seiner Ehrlichkeit nur als Relief.
Sieur Clubin stand in dem Ruf der Treuherzigkeit und Offenheit, demungeachtet mußte man ihm eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit zuerkennen. Es ist dieser scheinbare Widerspruch eine der Variationen des ehrlichen Mannes, welche ungemein geschätzt werden. Sieur Clubin besaß die so sehr geschätzte Vereinigung dieser beiden Eigenschaften. Wenn man ihn im Gespräch mit einem Spitzbuben überraschte, so hatte dies durchaus nichts Beunruhigendes; man wußte, Sieur Clubin war ein Ehrenmann; wenn er es für gut fand, mit Spitzbuben zu verkehren, so mußte er seine wohlbegründeten Absichten dabei haben, und es fiel Keinem auch nur im Entferntesten ein, dabei etwas zu finden, oder ihn wohl gar deshalb zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Dreimaster Tamaulipas war zur Abfahrt gerüstet und sollte in acht Tagen in See gehen.
An einem Dienstag Nachmittag kam die Durande noch bei hellem Tageslicht in St. Malo an. Sieur Clubin bewachte, wie gewöhnlich, das Einlaufen in den Hafen des Dampfbootes, denn er hatte als treuer, für den Vortheil seines Herrn bedachter Diener sein Falkenauge überall. Als das Schiff sich dem Hafen näherte, bemerkte er auf dem Strande an einem sehr einsamen Orte zwischen zwei Felsen zwei Männer, welche miteinander sprachen. Er nahm das Fernrohr zur Hand und erkannte den Einen derselben als den Capitän Zuela; es schien, daß ihm auch der Andere nicht unbekannt war.
Dieser Andere hatte eine robuste Gestalt; sein breiter Hut und sein übriger Anzug gab ihm das Ansehen eines Quäkers; auch hatte er den zu Boden gerichteten Blick dieser Secte.
Als Sieur Clubin in das Wirthshaus am Hafen kam, erfuhr er, daß der Dreimaster Tamaulipas gerüstet und in acht Tagen in See ginge.
Es ergab sich später, daß Sieur Clubin auch noch speciellere Erkundigungen eingezogen hatte.
Bei einbrechender Nacht ging er zu einem Waffenhändler in der Straße St. Vincent und sagte zu ihm:
– Wißt Ihr, was ein Revolver ist?
– Ja, antwortete dieser, es ist eine amerikanische Erfindung.
– Eine Pistole, welche immer von Neuem anfängt zu reden.
– Jawohl, welche stets der Frage die Antwort auf dem Fuße folgen läßt. –
– Und dann die Frage wiederholt.
– Ganz recht. Diese Pistole hat einen Lauf, welcher sich dreht.
– Und worin sich fünf bis sechs Kugeln befinden.
Der Waffenhändler schnalzte mit der Zunge, zum Zeichen seiner Verehrung für diese amerikanische Erfindung, und setzte mit wichtiger Miene hinzu:
– Es ist dieses eine ganz vortreffliche Waffe, Sieur Clubin, eine Erfindung, die ihren Weg machen wird.
– Ich wünschte einen Revolver mit sechs Kugeln zu kaufen.
– Ich habe keine.
– Wie das? Ihr seid ja Waffenhändler.
– Es ist eine funkelnagelneue Erfindung, Sieur Clubin, die so eben erst auftauchte. Man bedient sich in Frankreich noch immer der einfachen Pistole.
– Teufel!
– Ich führe diesen Artikel noch nicht.
– Teufel!
– Doch könnt Ihr bei mir ganz vortreffliche Pistolen kaufen.
– Ich brauche einen Revolver.
– Nun ja – ich begreife – ein Revolver ist schon besser, als eine einfache Pistole – wartet einmal – ich besinne mich – da ist –
– Was?
– In St. Malo –
– Ein Revolver?
– Ja.
– Zu verkaufen?
– Ja.
– Wo?
– Ich glaube es zu wissen – ich werde mich erkundigen –
– Wann kann ich mir die Antwort holen?
– Ihr macht da einen ganz vortrefflichen Kauf – ich kann Euch diesen Revolver empfehlen –
– Wann kann ich mir die Antwort holen?
– Wenn ich Euch sage, die Waffe ist gut, so könnt Ihr sie auf meine Verantwortung kaufen –
– Wann kann ich mir die Antwort holen?
– Wenn Ihr das nächste Mal nach St. Malo kommt.
– Verrathet nicht, daß der Revolver für mich ist, sagte Clubin.
Sieur Clubin belud die Durande mit einer gewissen Anzahl Ochsen und Passagiere und trat, wie gewöhnlich, am Freitag Morgen die Rückreise nach Guernesey an. Als das Schiff den Hafen verlassen und dem Kapitain die Zeit vergönnt war, die Kommandobrücke für einige Augenblicke zu verlassen, ging Clubin in seine Koje, schloß sich ein, nahm ein ihm gehörendes Felleisen, packte Kleidungsstücke, Bisquit, ein Pfund Cacao, einige Schachteln mit Eingemachtem in eine Abtheilung desselben und legte in die andere sein Chronometer und sein Fernglas. Dann schloß er das Felleisen sorgfältig zu und befestigte in beiden Ohren desselben ein Thau, um es im Notfall aufhissen zu können. Dann stieg er in den unteren Schiffsraum hinab, trat in das Kabelgat, und kam mit einem jener knotigen und an dem Ende mit einem Haken versehenen Stricke, deren sich die Kalfaterer auf dem Meere und die Diebe auf dem Lande bedienen, auf das Verdeck zurück.
Als Clubin in Guernesey angelangt war, ging er nach Torteval; daselbst hielt er sich eine Stunde auf. Er nahm den Hakenstrick und das Felleisen dorthin mit und brachte beides nicht wieder nach Guernesey zurück.
Sagen wir es ein für alle Mal: das Guernesey, von welchem hier die Rede ist, ist das ehemalige, nicht das jetzige Guernesey. Das alte Guernesey ist verschwunden; man würde höchstens in den Dörfern noch Spuren davon vorfinden, dort mag es wohl noch leben; in den Städten ist es todt. Was wir hier von Guernesey sagen, gilt auch von Jersey. St. Hélier ist so gut als Dieppe, St. Pierre-Port so gut als Lorient. Dank dem bewunderungswürdigen Geist der Initiative, der dieses muthige kleine Inselvolk auszeichnet, hat sich seit vierzig Jahren der ganze Archipelagus des Canals geändert. Da, wo ehemals Schatten war, ist heute Licht.
Zu jenen Zeiten, die schon durch ihre Entfernung historisch sind, wurde der Schleichhandel sehr stark betrieben. Die Westküste von Guernesey war wie besät mit Schmugglerschiffen. Mehr als genau unterrichtete Personen, welche noch bis in die kleinsten Details die Dinge zu schildern im Stande sind, welche vor einem halben Jahrhundert passirten, wissen jetzt noch die Namen mehrerer der damaligen Schiffe zu nennen. Gewiß ist, daß beinahe in jeder Woche einige, entweder in Plainmont oder in der Bucht der Heiligen einliefen. Sie kamen und gingen mit einer gewissen Regelmäßigkeit fast wie die heutigen Dampfboote. In der Nähe von Serk befand sich eine Grotte, welche man den Laden nannte, weil an dieser Stelle die Schmuggler ihre Waaren verkauften. Diese Leute hatten damals ihre besondere Sprache, welche heut zu Tage Niemand mehr verstehen würde; dieses Idiom verhielt sich ungefähr zur spanischen Sprache, wie das der Levante zur italienischen.
An vielen Orten des englischen und französischen Uferlandes bestand zwischen Kaufleuten und Schleichhändlern ein geheimes Einverständniß. Mehr als ein renommirtes Handelshaus öffnete dieser seine Thür, natürlich nur die Hinterthür; und gar mancher angesehene Handelsherr verdankte dem Schleichhandel seine Reichthümer. Wenigstens behauptete Séguin dieses von Bourgain und Bourgain von Séguin. Wir können die Wahrheit ihrer Aussage nicht verbürgen; vielleicht verleumdeten sie sich gegenseitig. Wie dem auch sei, der von den Gesetzen verdammte und verfolgte Schleichhandel stand mit der Finanzwelt, also mit der besten Gesellschaft, auf sehr gutem Fuße.
Eben dies gewährte ihm Schutz gegen die Gesetze; man sah den Schleichhändlern durch die Finger, weil sie Mitwisser vieler Geheimnisse waren. Es gab keine verschwiegnere Leute, als die Schmuggler, keine ehrlichere Spitzbüberei, als der Schleichhandel. Der Schleichhandel ohne Verschwiegenheit war eine Unmöglichkeit, seine Geheimnisse waren eben so heilig wie das Beichtgeheimniß.
Nichts konnte das gegebene Wort eines Schmugglers wankend machen. Ein Alkade in Oyarzun ließ eines Tages einen Schmuggler foltern; er sollte gestehn, wer ihn mit geheimen Geldvorschüssen unterstützte. Er gestand Nichts. Der ihm die Geldvorschüsse geliefert hatte, war der Alkade selber. Der eine der beiden Mitschuldigen mußte, um vor den Augen der Welt dem Gesetz zu genügen, den anderen foltern lassen; der andere hatte die Folterqualen ausgestanden, um den Eid zu brechen.
Die beiden berühmtesten Schmuggler, welche zu jener Zeit in Plainmont verkehrten, hießen Blasco und Blasquito. Sie waren Namensvettern, was in dem katholischen Spanien für eine Verwandtschaft gilt, und zwar deshalb, weil Beide denselben Schutzpatron im Himmel haben – in der That, ein beinahe ebenso inniges Band, als auf Erden denselben Vater zu haben!
Plainmont, nahe bei Torteval, ist einer der drei Winkel von Guernesey. Es befindet sich dort auf der äußersten Spitze des Kaps ein hoher, von Rasen bedeckter Bergrücken, der das Meer beherrscht.
Diese Höhe ist sehr einsam, um so einsamer, da man ein Haus daselbst bemerkt. Dieses Haus gesellt zu dem Gefühl der Einsamkeit noch den Eindruck der Furcht.
Es ist, wie man sagt, ein Gespensterhaus. Verhext oder nicht: jedenfalls ist sein Anblick ein unheimlicher.
Es steht mitten im Grünen, ist von Granit erbaut und hat nur ein einziges Stockwerk.
Es hat nichts von einer Ruine; es ist vollkommen wohnlich. Die Mauern sind dicht und das Dach ist fest. Es fehlt diesen Mauern kein Stein, dem Dach kein Schiefer. Der von Ziegelsteinen gebaute Schornstein ist unversehrt. Dieses Haus kehrt dem Meere den Rücken zu; es zeigt diesem nur eine leere Wand. Betrachtet man indessen diese Wand genauer, so bemerkt man in derselben ein zugemauertes Fenster. Die beiden Giebel haben drei Fensterluken: eine nach Osten, die beiden andern nach Westen. Alle drei sind vermauert. Nur die Landseite hat eine Thür und Fenster. Die Thür ist vermauert, die beiden Fenster des Erdgeschosses ebenfalls. Im ersten Stock sind zwei offene Fenster, deren Anblick das Haus doppelt unheimlich macht. Die zugemauerten Fenster sind weniger schreckenerregend, als diese beiden offenen, deren Oeffnung bei hellem Tage schwarz erscheint. Sie haben weder Scheiben noch Rahmen; es sind schwarze Mauerlöcher, welche wie zwei leere Augenhöhlen aussehen. Im Innern des Hauses ist Alles roh; man sieht hinter diesen beiden dunkeln Luken nichts, als die nackte Steinwand. Man glaubt ein Leichenhaus zu sehen. Keine menschliche Wohnung nah und fern, lautlose Stille rings umher. Nur Brennesseln welche der Wind bewegt, streifen den Fuß der Mauer. Dennoch hört man, wenn man das Ohr dicht an die Wand hält, bisweilen ein Geräusch wie der Flügelschlag aufgescheuchter Vögel. Ueber der Thür dieses Hauses sind die Buchstaben ELM-PBILG und das Datum 1780 eingegraben. Des Nachts fällt das trübe Mondlicht darauf.
Das Meer schlingt sich wie ein Gürtel um dieses Haus, seine Lage ist herrlich, und darum um so grauenvoller. Die Schönheit dieses Ortes wird zum Räthsel. Warum nur ist jenes Haus nicht bewohnt? Ist es nicht gut gebaut, und in wohnlichem Zustande? Woher kommt es nur, daß es so einsam und verlassen ist? Rings umher vortreffliches Erdreich; doch kein Pflug, der es beackert; keine Menschenhand, die den Pflug leitet, um Nutzen aus dem guten Boden zu ziehen. Hat dieses Haus denn keinen Herrn? Die Thür ist vermauert. Warum? Was geht in seinem Inneren vor? Wenn Nichts, warum wohnt Niemand darin? Warum flieht Alles vor diesem einsamen Gebäude? Ist es denn wirklich unbewohnt von menschlichen Wesen? Hausen nur Raubvögel und Geister darin? Geht Niemand über die Schwelle dieser vermauerten Thür? Nur Regen, Wind und Hagel erzwingen sich den Eingang durch die offenen Fenster, und lassen im Innern ihre verheerenden Spuren zurück. Nur der Sturm rast durch diese nackten Mauern. Birgt dieses Haus irgend ein Verbrechen? Scheint es doch, als müßte dies Haus des Nachts in seiner trostlosen Oede um Hülfe rufen. Schon am hellen Tage bietet es einen unheimlichen Anblick dar, wie wohl in der Nacht? Ist es nicht als ob diese Mauern ein tiefes, unergründliches Geheimniß bärgen? Ein heiliger Schrecken herrscht in diesen Mauern. Der Schatten, den sie in sich bergen, ist nicht bloßer Schatten, nein, es ist der dunkle Schooß, in dem das Unbekannte wohnt. Wenn die Sonne untergegangen ist, wenn die Fischer heimkehren und der Vögel Lied verstummt, wenn der Schäfer seine Heerde heimwärts treibt und sich das kriechende Gewürm zwischen dem Steingerölle ein Plätzchen für die Nachtrast sucht, wenn des Himmels Sternenaugen glänzen, und sich ein kühler Wind erhebt, und wenn die Nacht den dunkeln Schleier über die ganze Erde breitet, dann stehen die beiden Fenster dieses unheimlichen Hauses offen und schauen mit ihren hohlen Augen in die schwarze Nacht hinein. Des Volkes Aberglaube machte dieses herrenlose Haus zum Eigenthum der Nacht, zum Zufluchtsort der Nachtgeister und der armen Seelen, die Erlösung hoffend und ersehnend die Luft in diesen Räumen mit ihren Klagen füllen. Der stumpfsinnige, und doch zu gleicher Zeit auch tiefsinnige Glaube des Volkes macht dieses Haus zum Eigenthum der Geister. »Es ist ein Gespensterhaus«, damit ist alles gesagt.
Bildet sich der Aberglaube seine Meinung, so hat auch die Vernunft das Recht ihrer Meinung. Sie erklärt die Sache ganz einfach. Dieses Haus, sagt sie, ist ein alter Beobachtungsposten aus der Zeit der Revolutionskriege, des Kaiserreichs und des Schmuggels. Nach Beendigung des Krieges wurde der Posten aufgegeben; das Haus aber hat man stehen lassen, um es gelegentlich wieder einmal zu benutzen. Man hat die Thür und die Fenster des Erdgeschosses vermauert, um es vor Verunreinigung zu bewahren und unzugänglich für Menschen zu machen; und durch die Vermauerung der Fenster an seinen drei Seeseiten suchte man es gegen Beschädigung durch die Süd- und Westwinde zu sichern. Das ist Alles.
Die Unwissenden und Abergläubigen blieben bei ihrer Meinung. Erstens ist dieses Haus nicht während der Revolutionskriege erbaut. Es trägt an seiner Thür das Datum 1780, sei also älter als die Revolution. Zweitens war dieses Haus auch nicht zu einem Wachthaus bestimmt. Es trägt die Buchstaben ELM-PBILG; diese seien die doppelte Namenschiffer zweier Familien, und nach altem Brauche bedeute dies, daß das Haus zur Wohnung für ein junges Gattenpaar bestimmt gewesen sei. Es war also ehemals bewohnt. Warum ist es jetzt nicht mehr bewohnt? Wenn man die Thür und die übrigen Fenster zumauerte, warum ließ man gerade jene beiden Fenster offen? Man hätte sämmtliche Fenster oder keins zumauern müssen. Warum gerade die Fenster der Südseite, und nicht auch die der Nordseite vermauern? Ist denn die Nordseite weniger den Verheerungen der Stürme und des Unwetters ausgesetzt, als die Südseite?
Die Abergläubigen sind ganz sicher im Unrecht; aber auch die vernünftigen Leute haben nicht Recht. Die Sache war und blieb ein Räthsel.
Gewiß ist nur, daß dies Haus den Schmugglern eher nützlich als schädlich erscheinen soll. Der Schreck nimmt allen Dingen ihre wahren Verhältnisse. Ohne Zweifel würden viele Spukgestalten, die der Aberglaube in die Räume dieses Hauses versetzt, sich als natürliche, wirkliche menschliche Gestalten von Fleisch und Blut verstehen lassen, welche sich in nächtlicher Weile in diese Mauern flüchteten, und die Furcht des Volkes benutzten, um sich ungestört und ungehindert dort Beschäftigungen hinzugeben, welche das Auge des Gesetzes fürchten mußten.
Die Polizei war zu jener Zeit und ganz besonders in den kleineren Ländern noch kein so wohlorganisirtes Institut als heute; sie ließ der Kühnheit der Abenteurer und Verbrecher einen viel größeren Spielraum, als dieses jetzt der Fall ist.
Fügen wir dem Gesagten noch hinzu, daß dieses Haus ein um so erwünschterer Schlupfwinkel für die Schmuggler war, weil es sich durch seine Lage den beobachtenden Blicken der Zollbeamten und Küstenwärter entzog. Diese Leute fürchten bekanntlich weder den Teufel noch seine Großmutter; sie machen diesen eben so gut wie anderen Leuten den Proceß, während sich die Abergläubigen damit begnügen zu entfliehen, und das Kreuz zu schlagen, wenn sie in die Nähe der vermeintlichen Gespenster kommen. Es hat fast den Anschein, als ob diejenigen, welche Furcht zu erregen beabsichtigen, und die, welche Furcht empfinden, ein stilles Uebereinkommen mit einander getroffen hätten, sich gegenseitig durch die Finger zu sehen; die Erschrockenen bilden sich ein, etwas gesehen zu haben, dessen Enthüllung die Geister scheuen müßten und die sich an ihnen rächen würden; daher ihr unverbrüchliches Schweigen über dergleichen Dinge. Die Furchtsamen schweigen überdies schon aus Instinct, die Furcht hat etwas Schweigengebietendes. Es ist, als ob sie dem vor Schrecken Bleichen den Finger auf den Mund legte; das Wort erstarrt auf seinen Lippen, und die Züge seines Antlitzes werden zu Marmor.
Wir müssen unsere Leser daran erinnern, daß zu jener Zeit die Guerneseyer noch des Glaubens lebten; daß sich in jedem Jahre das Mysterium der Krippe um die Weihnachtszeit erneuere. Niemand hätte es gewagt, am heiligen Abend in einen Stall zu treten, aus Furcht, die Thiere vor der Krippe auf den Knieen liegend anzutreffen.
Wenn man den Legenden Glauben schenken darf, welche dort in der Gegend und zu damaliger Zeit gäng und gäbe waren, so hatten die Furchtsamen damals die Mauern jenes verrufenen Hauses in Plainmont ganz mit Ratten ohne Pfoten, Fledermäusen ohne Flügel, und mit Gerippen todter Thiere behängt. Man kann noch heute die Spuren der in den Wänden eingeschlagenen Nägel erkennen. Auch Büschel gelber Wolfsmilch und zwischen den Blättern einer Bibel zerquetschte Kröten hängte man dort auf. Die Vorübergehenden hielten es nämlich für eine ganz unerläßliche Nothwendigkeit, den Hexen und Gespenstern solche Opfergaben zu bringen, um sich auf diese Art von ihnen Verzeihung für ihren Vorwitz zu erkaufen.
Es giebt überall in der Welt Abergläubige, zuweilen sogar sehr hochgestellte.
Cäsar besuchte Sagane, Napoleon I. Mademoiselle Lenormand. Es giebt Menschen, die sogar den Teufel zu bestechen suchen; sie bitten ihn, daß er, was Gott gethan, nicht wieder verderben möge. Das war eins der Gebete Carl des Fünften. Es giebt aber auch furchtsame Menschen, welche sich einbilden, ein Unrecht gegen den Bösen begehen zu können, das sie ihm abbitten müßten; Menschen, deren eifrigstes Bestreben es ist, sich mit dem Teufel auf guten Fuß zu stellen. Daher die Opfer, welche dem Bösen gebracht werden. Es ist dieses eine Bigotterie wie jede andere. Gewisse kranke Gemüther glauben an das Vorhandensein von Sünden gegen die Dämonen. Die Theologen der Unwissenheit haben die abgeschmacktesten Vorstellungen von den Gesetzen der Hölle und ihren Uebertretungen. Es giebt Leute, welche sich einbilden, daß auch das Böse seinen Cultus, seine Religionsgesetze habe, deren Uebertretung eben so straffällig, wie die der übrigen Gesetze sei; daß man den Geist der Lüge nicht belügen dürfe, und vor dem Vater der Sünde ein Bußgebet sprechen müsse. Der Aberglaube hat so gut sein Glaubensbekenntniß und seinen Kultus wie die Religion; wenigstens war dies damals der Fall. Die Hexenprozesse, deren Akten von Paragraphen dieses eigentümlichen Glaubensbekenntnisses wimmeln, geben einen Beweis davon. Der menschliche Irrthum geht weit, so weit, daß eingebildete Sünden durch eingebildete Strafen getilgt, und unsaubere Gewissen mit dem Hexenbesen gereinigt werden.
Wie dem auch sein mochte, ob mit Recht oder Unrecht: dies Haus war verrufen; Keiner wagte sich herein, Jeder vermied die nähere Bekanntschaft dieser unheimlichen Bewohner.
Es hatte den Schrecken zu seinem Hüter angestellt; die Furcht hielt alle Beobachter fern. Es war daher sehr leicht, mit Hülfe einer Leiter oder des ersten besten von einem benachbarten Acker geraubten Pfahlzauns in seine inneren Räume zu dringen. Der Flüchtling, welcher ein Asyl vor dem verfolgenden Gesetze suchte, konnte, mit etwas Wäsche, Kleidung und Lebensmitteln versehen, ganz ruhig in diesem Hause so lange verweilen, bis sich ihm eine Gelegenheit zur heimlichen Entweichung bot.
Man erzählt sich, daß vor ungefähr vierzig Jahren ein politischer Flüchtling, wie die Einen, – ein Bankeruttirer, wie die Anderen sagen, in diesem Hause in Plainmont Zuflucht gefunden habe. Später sei ihm durch ein Fischerboot Gelegenheit zu weiterer Flucht geboten worden. Man sagt, er habe sich nach England gewandt. Von England aus gelangt man sehr leicht nach Amerika.
Es geht ferner die Sage, daß alle von den Flüchtigen auf dieser Stelle zurückgelassenen Sachen unberührt dort liegen bleiben; denn es sei sowohl für den Teufel, als für die Schmuggler von Interesse, daß der wieder komme, der sie daselbst zurückgelassen hat.
Vom Dache dieses Hauses steht man etwa eine Meile südwärts von der Küste die Klippe des Hanvis.
Diese Klippe ist berühmt. Sie hat so viel Böses angerichtet, als ein Felsen im Meere nur anrichten kann. Der Hanvis ist eins der gefürchtetsten Mörder des Kanals, er hat die Kirchhöfe von Torteval und Roquaine mit vielen Gräbern bereichert.
Im Jahr 1862 erbaute man auf einer der Klippen der Hanvis einen Leuchtthurm. Derselbe Felsen, der früher die Schifffahrer in das Verderben riß, beleuchtet jetzt das Meer. Man sucht jetzt als Beschützer und Leiter am Horizont das Licht auf jener selben Klippe, die man ehemals wie einen Uebelthäter floh. Der Hanvis ist jetzt eine Beruhigung für Diejenigen, welche bei Nacht jene Seestrecke befahren, die er ehemals so gefahrvoll machte. Diese Metamorphose hat einige Aehnlichkeit mit der Umwandlung eines Räubers in einen Soldaten.
Der Hanvis besteht aus drei verschiedenen Felsen, welche man den großen und den kleinen Hanvis und die »Malve« nennt. Auf dem kleinen Hanvis errichtete man den Leuchtthurm.
Diese drei Klippen beherrschen eine ganze Felsengruppe, welche sich zum Theil unter Wasser befindet und sich durch hervorragende Spitzen auch über dem Wasser bemerkbar macht. Diese, die kleineren Klippen beherrschenden Felsen haben das Ansehen einer Festung. An der hohen Seeseite bildet sich eine Kette von dreizehn Felsen; an der Nordseite befinden sich zwei Brandungen, die Haules-Fourquiers und die Aiguillons, und eine Sandbank, l'Héronée gegen Süden drei Felsen, der Cat-Roque, der Percée und der Roque Herpin; sodann die South Boue und die Boue Le Mouet; außerdem vor Plainmont, dem Wasser gleich, der Tas de Pois d'Aval.
Es ist sehr schwierig, jedoch nicht unmöglich, den Engpaß des Hanvis bis Plainmont zu durchschwimmen. Sieur Clubin hat es, wie wir wissen, bewiesen. Es bieten sich dem Schwimmer, welcher diesen Engpaß ganz genau kennt, zwei Ruhepunkte, der Roque ronde, und der diesem links in schräger Richtung gegenüberliegende Roque rouge dar.
Ungefähr zu derselben Zeit, wo Sieur Clubin in Torteval war, ereignete sich etwas in der Gegend von Plainmont, was erst längere Zeit nachher bekannt wurde; denn alles Schreckliche bindet denen, welche es erlebt haben, die Zunge.
Es war an einem Sonnabend – wir glauben dieses Datum mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen – als drei Knaben die steilen Felshöhen der Umgegend von Plainmont erkletterten. Sie waren eben im Begriff, mit reicher Beute versehen, nach Hause zu kehren. Es waren nämlich kleine Nest-Ausnehmer. Ueberall, wo es steile Gestade und Löcher in den in das Meer ragenden Felsen giebt, wimmelt es von diesen kleinen Räubern. Wir erwähnten dieser Sache schon, als wir von Gilliatt erzählten und von der großen Mühe, welche er sich gab, die gefährliche Jagd der Kinder zu verhüten.
Die kleinen Vogelnest-Ausnehmer sind so zu sagen, die Straßenbuben des Oceans. Furcht ist ihnen fremd.
Die Nacht war sehr dunkel; dicht übereinander gehäufte Wolkenschichten verfinsterten den Horizont. Die Glocke des runden, oben spitz zulaufenden Kirchthurms von Torteval, welcher der Mütze eines Magiers sehr ähnlich sah, schlug soeben die dritte Morgenstunde. Warum kehrten die Knaben so spät nach Hause zurück? Das ist ganz einfach. Sie hatten im Tas de Pois d'Aval Möwennester ausgenommen. Vom schönen Wetter hinausgelockt, hatten sie sich bei ihrem, eine ganz besondere Geschicklichkeit, große Aufmerksamkeit und viele Zeit erfordernden Jagdvergnügen verspätet. Die Fluth überraschte sie; sie konnten nicht schnell genug die kleine Bucht erreichen, in welcher sie ihr Boot befestigt hatten und waren daher gezwungen, auf einer der Felsenspitzen des Tas de Pois die Ebbe abzuwarten. So hatte die Nacht sie überrascht. Die von Angst und Sorgen um die Ihrigen gequälten Mütter erwarten ihre Sprößlinge mit fieberhafter Ungeduld. Kommen diese dann endlich, so macht sich das so lange geängstigte, von Unruhe gepeinigte, und nun wieder beruhigte Mutterherz, ungeachtet seiner geheimen Freude über die glückliche Wiederkehr der kleinen Ausreißer, gewöhnlich durch Püffe und Ohrfeigen Luft. Unsere Jäger, welche einen ähnlichen Empfang voraussahen, eilten, die Heimath zu erreichen. Allein eine gewisse Unruhe, welche sich mehr und mehr ihrer bemächtigte, je näher sie dem gefürchteten Ziele kamen, hemmte ihre Schritte. Sie hatten eine mit Rippenstößen versetzte Umarmung in Aussicht.
Nur einer der drei kleinen Landstreicher hatte Nichts zu fürchten; er war eine Waise, ein kleiner Franzose, der weder Vater noch Mutter hatte und in diesem Augenblick mit seiner Mutterlosigkeit ganz einverstanden war. Niemand ängstigte sich um ihn; es wird ihn also Niemand schlagen. Die beiden Anderen waren Guerneseyer Kinder und gehörten zu dem Kirchspiel von Torteval.
Als die Gruppe der höchsten Felsen erstiegen war, erreichten die kleinen Vogelräuber die Anhöhe, auf welcher sich das unheimliche Haus befindet.
Nicht ohne Furcht und Grauen näherten sie sich demselben. Kein Erwachsener, der bei Tage in diese verrufene Gegend kam, konnte sich eines ängstlichen Gefühles erwehren; wie viel weniger diese Kinder bei Nacht.
Es drängte sie, eiligst davon zu laufen, und zugleich fühlten sie sich festgebannt, um sich umzusehen. Sie blieben stehen.
Sie betrachteten das Haus.
Es war schrecklich dunkel, schauerlich öde.
Mitten auf der einsamen Höhe stand es da, ein dunkler Klotz, ein symmetrischer und doch häßlicher Auswuchs, eine hohe, viereckige Granitmasse mit gradlinigten Winkeln, gleich einem ungeheuren Altar, den Mächten der Finsterniß geweiht.
Der erste Gedanke der Kinder war, zu fliehen; der zweite, näher heranzutreten. Sie hatten noch niemals jenes Haus um diese Stunde gesehen. Es giebt eine Neugierde der Furcht. Es befand sich ein kleiner Franzose unter ihnen; dieser Umstand bewirkte, daß sie näher gingen.
Die Franzosen glauben bekanntlich an nichts. Ueberdies war man ja zu Dreien; getheilte Furcht giebt eine Art von Sicherheit.
Dann waren unsere kleinen Abenteurer ja auch Jäger und als solche an Gefahren schon gewöhnt. Sie zählten alle drei zusammen kaum dreißig Jahre. Es waren Kinder. Kinder aber wollen Alles wissen, Alles erforschen, jedem Ding auf den Grund gehen. Und unsere kleinen Helden waren aus uns bekannten Ursachen zu Untersuchungen gerade heute ganz besonders aufgelegt; sie hatten es, wie wir wissen, nicht besonders eilig, die Heimath zu erreichen. Sie steckten überall die Köpfe hinein, kein Loch, keine Felsspalte blieb ununtersucht. Wer auf die Jagd geht, folgt einer magischen Gewalt. Wer auf Entdeckungen ausgeht, wird wie von einem unsichtbaren Räderwerk vorwärts getrieben. Wer den ganzen Tag die Nase in Vogelnester gesteckt hat, den gelüstet es, sie auch in der Nacht einmal in Gespensternester zu stecken. Wen sollte es nicht reizen, in das Verborgene zu schauen, der Hölle auf den Zahn zu fühlen?
Vom Sperling bis zum Kobold ist nur ein Schritt. Und warum sollte unser muthiges kleines Kleeblatt diesen Schritt nicht wagen? Jetzt war ihnen einmal eine Gelegenheit geboten, sich mit eigenen Augen von der Wahrheit aller der von den großen Leuten ihnen erzählten grausigen Geschichten zu überzeugen. Eben so klug zu sein, vielleicht gar noch mehr zu wissen als die großen Leute, das war Etwas, das ihren kleinen Ehrgeiz spornte. Jetzt oder nie! war der Wahlspruch der kleinen Helden; mit Todesverachtung schritten sie ihrem unheimlichen Ziele zu.
Sie hatten aber auch in dem kleinen Franzosen einen Führer, der, wenn es galt, selbst den Teufel nicht scheute. Er war ein muthiger kleiner Kalfater-Lehrling, der zu den Wesen gehörte, welchen schon als Kindern die Selbstständigkeit des Mannes innewohnt. Er schlief des Nachts auf dem Zimmerplatz oder auf dem Heuboden und erwarb seinen Lebensunterhalt. Er hatte eine starke Stimme und war ein kerniger gewandter Knabe, der mit derselben Leichtigkeit Bäume wie Felsen erkletterte. Er verdiente sich sein Brod dadurch, daß er bei Ausbesserung von Fischerbarken behülflich war. Er war ein Kind der Liebe; der Würfel des Zufalls hatte ihn ausgespielt. Man wußte, daß er in Frankreich geboren war, doch kannte man weder seinen Geburtsort, noch seine Eltern. Er war eine lustige Waise. Er lebte so frei und so fröhlich wie der Vogel in der Luft, baute sich selber sein Nest, und sorgte auch selber für sein Futter. Eben so leicht wie er die Pfennige gewann, ließ er sie auch durch die Finger schlüpfen; wenn ihn ein Bettler um eine Gabe bat, gab er stets das Seinige hin, um ihm zu helfen. Er war ein wilder gutherziger Knabe mit röthlich blonden Haaren, der schon einmal mit Parisern gesprochen hatte. Er verdiente durch sein Handwerk täglich einen Schilling. Wenn ihm einmal die Lust ankam, Vogelnester auszunehmen, gab er sich selber Ferien. Das war der kleine Franzose.
Die Einsamkeit an diesem Orte hatte etwas von Todestrauer, etwas Unnahbares. Der Anblick war wild. Rings umher Abgrund; unten das Meer. Das Meer war still, es regte sich kein Lüftchen; kein Blatt, kein Grashalm rauschte; Todtenstille, Grabesruhe überall. Die drei Knaben näherten sich, der kleine Franzose voran, langsamen Schrittes dem Hause und betrachteten es.
Einer jener Knaben fügte, als er später die Abenteuer jener Nacht erzählte, hinzu: »Es sagte nichts!«
Sie näherten sich mit verhaltenem Athem, wie man einem wilden Thiere entgegentritt. Sie hatten die kleine Anhöhe erstiegen, welche sich dicht hinter dem Hause befindet und sich gegen die Meerseite hin zu einer kleinen, aus Felsen gebildeten Landzunge abflacht, deren Erklimmen dem Wanderer große Schwierigkeiten verursachen würde. Das kleine Plateau war glücklich erstiegen; das Ziel ihrer Beobachtung lag ihnen gerade gegenüber, allein es bot nur den Anblick der Südseite mit den zugemauerten Fenstern. Sie hatten nicht gewagt, sich nach links zu wenden, wo sie die andere Front mit den beiden schrecklichen Fenstern gesehen hätten. Indessen faßten sie Muth. Der Kalfater-Lehrjunge sagte leise zu ihnen: Wenden wir uns nach der Backbordseite; da wird's schön! Wir müssen die beiden schwarzen Fenster sehen!
Sie folgten ihm und langten auf der anderen Seite des Hauses an.
Die beiden Fenster waren erleuchtet.
Die Kinder flohen.
Als sie eine Weile gelaufen waren, blieb der kleine Franzose stehen und sah sich um.
Seht, sagte er, jetzt ist Alles wieder dunkel.
Es war so; die Fenster waren nicht mehr erleuchtet. Das unheimliche Gebäude setzte sich in scharfen Umrissen von dem dunkelblauen Grunde des Himmels ab.
Die Furcht wich nicht, aber die Neugierde kehrte zurück; die kleinen Vogelräuber näherten sich zum zweiten Mal dem Hause.
Plötzlich waren wie auf einen Schlag die beiden Fenster wieder erleuchtet.
Die beiden Guerneseyer nahmen wiederum die Beine in die Hand und liefen davon; der kleine französische Satan ging zwar nicht vorwärts, wich aber auch nicht zurück. Mit unverwandtem Blick blieb er unbeweglich vor dem Hause stehen.
Das Licht verschwand, dann erglänzte es von Neuem. Es war schrecklich. Der Reflex warf einen unsichern Feuerschein auf das vom Nachtthau schimmernde Gras. In gewissen Momenten zeichnete das Licht auf der innern Wand große schwarze Profile, die sich bewegten, und Schatten von unförmlichen Köpfen.
In dem Hause aber, welches weder eine Thür noch eine Decke, sondern weiter nichts als vier kahle Wände und ein Dach hatte, mußte der Lichtschein des einen Fensters auch das andere erleuchten.
Als die beiden flüchtig gewordenen Guerneseyer den Franzosen ruhig stehen bleiben sahen, kehrten sie, Schritt vor Schritt, Einer nach dem Andern, zitternd und neugierig zurück. Der Kalfater-Lehrling sagte ganz leise zu ihnen: Es sind Gespenster in diesem Hause; ich habe die Nase des Einen gesehen. Als die Beiden das hörten, duckten sie sich hinter den Franzosen, stellten sich auf die Zehen und sahen über seine Schultern nach dem Hause hin. Hinter diesem Schilde fühlten sie sich sicher; zwischen ihnen und den Gespenstern stand der Franzose.
Das alte Gemäuer schien seinerseits auch sie zu beobachten. Es glotzte mit seinen beiden feurigen Augen in die Nacht hinein.
Das Licht verschwand, kam wieder, und verschwand von Neuem. Dieses plötzliche Auftauchen und Wiederverschwinden des Lichtscheines hatte etwas von Höllenspuk. Das geht hin und her, öffnet und schließt sich. Die Luftlöcher einer Gruft bringen dieselben Lichtwirkungen hervor, wie eine Blendlaterne.
Plötzlich tauchte an einem der Fenster eine dunkle Masse auf, welche einer menschlichen Gestalt glich; sie schwang sich auf eins der Fenster, als käme sie von außen, und verlor sich dann im Innern des Hauses. Es schien, als wäre Jemand eingetreten.
Die Gespenster kommen immer durch die Fenster.
Der Lichtschein wurde einen Augenblick stärker, darauf verlosch er ganz. Das Haus wurde wieder dunkel. Jetzt vernahmen die kleinen Lauscher ein Geräusch, welches Menschenstimmen sehr ähnlich war. Es geht in der Regel so: wenn man sieht, hört man nicht, und wenn man hört, sieht man nicht.
Es herrscht in der Nacht auf dem Meere eine ganz eigenthümliche Stille. Während bei Tage das Geräusch der Wogen den Flügelschlag des Adlers übertönt, würde man in der Nacht bei Windesstille eine Mücke fliegen hören. Diese Stille gleicht der Ruhe des Grabes. Um so unheimlicher war das verworrene Geräusch, welches aus dem Hause drang.
– Sehen wir zu! – sagte der kleine Franzose.
Er ging dem Hause einen Schritt näher.
Die Andern folgten ihm nach, denn eine große Furcht hatte sich ihrer bemächtigt und schnitt ihnen den Rückzug ab; sie wagten es jetzt nicht mehr, ohne ihren Kameraden zu fliehen.
Als sie an einem großen Haufen Reiser vorüberkamen, welcher merkwürdiger Weise ihre Furcht ein wenig minderte, raschelte es in einem benachbarten Busch, und eine große Eule flog heraus. Der Flug der Nachteulen ist schräg und hat etwas Unruhiges, wie der Blick eines schielenden Menschen. Als der Vogel ganz dicht an den Kindern vorbeirauschte und sie mit seinen runden Augen anglotzte, zitterten sie wie Espenlaub. Der kleine Franzose aber redete besorgt den Vogel an:
– Spätzchen, Du kommst zu spät. Jetzt hab' ich keine Zeit. Ich will sehen!
Er ging weiter vor.
Man konnte, trotz dem Krachen, welches seine groben, mit großen Nägeln beschlagenen Schuhe auf dem Stechginster verursachten, deutlich die Stimmen im Innern des Hauses vernehmen, die sich in einem ruhig geführten Gespräch bald hoben, bald senkten.
Der kleine Franzose sagte:
– Nur dumme Leute glauben an Gespenster!
Frechheit in der Gefahr wirkt ermuthigend auf die Furchtsamen und treibt sie vorwärts. Die beiden Jungen aus Torteval folgten Schritt für Schritt den Fußtapfen des Kalfater-Lehrlings.
Je näher sie kamen, desto größer schien ihnen das Haus zu werden. In dieser optischen Täuschung, welche ihnen ihre Furcht vorspiegelte, lag etwas Wahres. Das Haus wurde in Wirklichkeit größer, weil sie sich ihm näherten.
Die Stimmen, welche aus demselben kamen, wurden jetzt immer deutlicher. Die Kinder hörten zu. Auch das Ohr hat seine Größentäuschungen. Das war kein Gemurmel; es war mehr als ein Geflüster und weniger als Lärm. Von Zeit zu Zeit tönten ein oder zwei deutlich vernehmbare Worte zu ihnen hinüber. Diese Worte waren unverständlich und klangen ganz sonderbar. Die Kinder standen still und lauschten; dann schritten sie wieder vorwärts.
– Hört Ihr? Die Gespenster sprechen mit einander, – sagte der Franzose; ich aber glaube nicht an Gespenster.
Die beiden Kleinen von Torteval hätten sich gern hinter dem Reiserhaufen versteckt, sie waren aber schon zu weit von ihm entfernt, und ihr Freund, der Franzose, ging immer muthig vorwärts. Sie fürchteten sich, bei ihm zu bleiben, und wagten nicht, ihn zu verlassen; sie folgte ihm Schritt vor Schritt in athemloser Spannung.
Der Kalfater-Lehrling drehte sich nun um und sagte:
– Ihr wißt, daß dies Alles nicht wahr ist. Es giebt keine!
Das Haus wurde immer größer, immer höher, je näher sie ihm kamen; die Stimmen wurden immer deutlicher.
Jetzt waren sie ihm ziemlich nahe.
Sie bemerkten nun das Licht im Innern; doch war es wie gedämpft, es war ein richtiges Gespensterlicht.
Als sie ganz nahe am Hause waren, machten sie Halt.
Einer der beiden Knaben aus Torteval faßte den Muth zu bemerken:
– Es sind keine Gespenster, es sind weiße Damen.
– Was ist das, was hier am Fenster herunterhängt? fragte der Andere.
– Es sieht aus wie ein Strick.
– Es ist eine Schlange.
– Nein, es ist der Strick eines Erhängten – sagte mit sehr bestimmtem Ton der kleine Franzose; solche Dinge gebrauchen die Gespenster; aber ich glaube nicht an Gespenster.
Und mit drei Schritten, die man eher Sprünge nennen konnte, war er am Fuß des alten Gemäuers. Es lag etwas Fieberhaftes in dieser Kühnheit.
Die beiden Andern waren ihm bebend nachgeschlichen und hielten sich dicht an seine Seite, der Eine rechts, der Andere links. Sie hielten nun die Ohren an die Mauer und hörten folgendes Gespräch, das die Gespenster im Hause führten:
– Asi, entendido esta?
– Entendido.
– Dicho?
– Dicho.
– Aqui esperara un hombre, y podra marcharse en Inglaterra con Blasguito?
– Pagando.
– Blasquito tomara al hombre en su barca.
– Sin buscar para, conocer a su pais?
– No nos toca.
– Ni a su nombre del hombre?
– Abgemacht.
– Es ist gesagt?
– Gesagt.
– Ein Mann wird hier warten, und würde mit Blasquito nach England gehen können?
– Für Geld und gute Worte.
– Blasquito wird den Mann in seine Barke aufnehmen.
– Ohne nachzufragen, aus welchem Lande er ist?
– Das geht uns nichts an.
– Ohne ihn zu fragen, wer er ist?
– No se pide el nombre, pero se pesa la bolsa.
– Bien. Esperara el hombre en esa casa.
– Tenga que comer.
– Tendra.
– Onde?
– En este saco que he llevado.
– Muy bien.
– Puedo dexar el saco aqui?
– Los contrababdistas no son ladrones.
– Y vosotros, quando marchais?
– Man fragt nicht nach dem Namen, man wiegt die Börse.
– Gut. Der Mann wird in diesem Hause warten.
– Er muß mit Lebensmitteln versehen werden.
– Er soll sie haben.
– Wo?
– In dem Sack, den ich mitbringe.
– Sehr gut.
– Kann ich den Sack hier lassen?
– Die Schmuggler sind keine Spitzbuben.
– Und wann werdet Ihr reisen?
– Mañana por la mañana. Si su hombre de usted esta parado, podria, venir con nosotros.
– Parado no esta.
– Hacienda suya.
– Cuantos dias esperara alli?
– Dos, tres, quatro dias. Menos o mas.
– Es cierto que el Blasquito vendra?
– Cierto.
– En este Plainmont?
– En este Plainmont.
– Morgen früh. Wenn Euer Mann bereit wäre, könnte er mit uns reisen.
– Er ist nicht bereit.
– Desto schlimmer für ihn.
– Wie lange wird er hier warten müssen?
– Zwei, drei, vier Tage. Etwas weniger, etwas mehr.
– Ist es ganz sicher, daß Blasquito kommt?
– Ganz sicher.
– Hierher? Nach Plainmont?
– Hierher nach Plainmont.
– A qual semana?
– La que viene.
– A qual dia?
– Viernes, o sabado, o domingo.
– No puede faltar?
– Es mi tocayo.
– Por cualquiera tiempo viene?
– Cualiquiera. No tieme. Soy el Blasco, es el Blasquito.
– Asi, no puede faltar de venir en Guernesey?
– In welcher Woche?
– In der nächsten.
– An welchem Tag?
– Freitag, Sonnabend oder Sonntag.
– Er kommt also unter allen Umständen?
– Er ist ja mein Namensvetter.
– Er kommt bei jedem Wetter?
– Bei jedem Wetter. Er hat keine Furcht. Ich bin Blasin, er ist Blasquito.
– Er wird also jedenfalls nach Guernesey kommen?
– Vengo a un mes, y viene al otro mes.
– Entiendo.
– A cuentar del otro sabado, desdehoy en vocho, no se pasaran cino dias sin que venga el Blasquito.
– Pero un muy malo mar?
– Egurraldia gaïztoa?Baskisch: Schlechtes Wetter.
– Si.
– No vendria el Blasquito tan pronto, pero vendria.
– Donde vendra?
– Einen Monat komme ich, den andern kommt er.
– Ich verstehe.
– Heute über acht Tage ist Sonnabend; von da an werden keine fünf Tage vergehen, ohne daß Blasquito kommt.
– Doch wenn das Meer hartnäckig ist?
– Ja.
– Dann wird Blasquito nicht so schnell kommen, doch kommen wird er.
– Von wo kommt er?
– Del Vilvao.
– Onde ira?
– En Portland.
– Bien.
– O en Tor Bay.
– Mejor.
– Su humbre de usted puede estarse quieto.
– No traidor sera, el Blasquito?
– Los cobardes son traidores. Somos valientes. El mar es la iglesia del invierno. La traicion es la iglesia del infierno.
– Von Bilbao.
– Wohin geht er?
– Nach Portland.
– Das ist gut.
– Oder nach Tor Bay.
– Das ist noch besser.
– Euer Mann kann ganz ruhig sein.
– Blasquito wird nichts verrathen?
– Feige sind Verräther. Wir sind tapfer. Das Meer ist die Kirche des Winters. Der Verrath ist die Kirche der Hölle.
– No se entiende a lo que dicemos?
– Escuchar a nosotros y mirar a nosotros es imposible. La espanta hace alli el desierto.
– Lo sè.
– Ouien se atravesaria a escuchar?
– Es verdad.
– Y escucharian que no entiendrian. Hablamos a una lengua fiera y nuestra que no se conoce. Despues que lu sabeis, ereis con nosotros.
– Soy venido para componer las haciendas con ustedes.
– Hört Niemand, was wir sprechen?
– Es ist unmöglich, uns zu hören oder uns zu sehen. Der Schrecken macht diesen Ort zur Wüste.
– Ich weiß es.
– Wer also sollte es wagen, uns zu belauschen?
– Das ist wahr.
– Und wenn uns wirklich Jemand belauschte, so würde er nicht verstehen können, was wir sprechen. Wir sprechen eine wilde Sprache, die nur wir verstehen. Weil Ihr sie auch versteht, gehört Ihr zu uns.
– Ich bin gekommen, um mit Euch meine Anordnungen zu treffen.
– Bueno.
– Y ahora me voy.
– Mucho.
– Digame usted, hombre. Si el pasagero quiere que el Blasquito le Lleve en ninguna otra parte que Portland o Tor Bay?
– Tenge onces.
– El Blasquito hara lo que querra el hombre?
– El Blasquito hace lo que quieren las onces.
– Es menester mucho tiempo para ir en Tor Bay?
– Das ist gut.
– Jetzt gehe ich.
– Meinetwegen.
– Sagt mir, ob der Passagier will, daß Blasquito ihn anderswohin als nach Portland oder nach Tor Bay bringt?
– Das hängt davon ab, ob er QuadrouplesEine spanische Münze. bekommt.
– Wird Blasquito thun, was der Mann haben will?
– Blasquito wird thun, was die Quadrouples haben wollen.
– Braucht man lange Zeit, um nach Tor Bay zu gelangen?
– Como quiere el viento.
– Ocho horas?
– Menos, o mas.
– El Blasquito obedeîera al pasagero?
– Si le obedeie el mar a el Blasquito.
– Bien pagado sera.
– El oro es el oro. El viento es el viento.
– Mucho.
– El hombre hace lo que puede con el oro. Dios con el viento hace lo que quiere.
– Wie es dem Winde gefällt.
– Acht Stunden?
– Weniger oder mehr.
– Wird Blasquito seinem Passagier gehorchen?
– Wenn das Meer dem Blasquito gehorcht.
– Er soll gut bezahlt werden.
– Gold ist Gold. Wind ist Wind.
– Das ist richtig.
– Der Mensch macht mit dem Geld, was er kann. Gott macht mit dem Wind, was er will.
– Aqui sera viernes el que desea marcharse con Blasquito.
– Pues.
– A qual momento llega Blasquito?
– A la noche. A la noche se llega, a la noche se marcha. Tememos una muger quien se llama el mar, y una hermana quien se llama la noche. La muger puede faltar, la hermana no.
– Todo dicho esta. Abour, hombres.
– Buenas tardes. Un golpe de aquardiente?
– Gracias.
– Der Mann, der mit Blasquito zu reisen wünscht, wird am Freitag hier sein.
– Gut.
– Um welche Zeit kommt Blasquito an?
– In der Nacht. Man kommt hier in der Nacht an, man reist in der Nacht ab. Unsere Frau heißt das Meer, unsere Schwester die Nacht. Die Frau täuscht zuweilen, die Schwester niemals.
– Gute Nacht. Wollt Ihr nicht einen Schluck Branntwein?
– Ich danke.
– Es mejor que xarope.
– Tengo vuestra palabra.
– Mi nombre es Pundonor.
– Sea usted con Dios.
– Ereis gentleman y soy caballero.
– Er ist besser als Syrup.
– Ich habe Euer Wort.
– Mein Name ist so gut wie ein Ehrenwort.
– Lebt wohl.
– Ihr seid ein Gentleman, ich bin ein Cavalier.
Es war klar, daß nur Teufel so sprechen konnten. Die Kinder hörten nicht weiter zu und liefen dieses Mal allen Ernstes davon. Der kleine Franzose hatte sich endlich überzeugt, daß es wirkliche Gespenster waren, und er lief nun schneller als die Andern.
An dem Dienstag, welcher auf diesen Sonnabend folgte, kam Sieur Clubin mit der Durande wieder, wie gewöhnlich nach St. Malo.
Der Dreimaster Tamaulipas lag noch immer auf der Rhede.
Sieur Clubin fragte, in Dampfwolken gehüllt, den Wirth des Gasthauses am Hafen:
– Nun, wann wird der Taumalipas in See gehen?
– Uebermorgen, am Donnerstag, antwortete der Wirth.
An jenem Abend speiste Sieur Clubin an dem Tische der Küstenwächter zu Nacht und entfernte sich gegen seine Gewohnheit nach dem Nachtessen. Er versäumte es deshalb, auf das Bureau der Durande zu gehen. Die Ladung der Durande schien diesmal für den Capitän Nebensache zu sein; denn er traf fast gar keine Vorbereitungen. Das war bei einem sonst so pünktlichen Mann wie Sieur Clubin ein merkwürdiger Fall.
Er unterhielt sich einige Augenblicke mit seinem Freunde, dem Wechsler.
Zwei Stunden, nachdem auf der Noguette die Abendglocke geläutet wurde, kam er wieder. Die brasilianische Glocke läutet immer um zehn Uhr. Es war also Mitternacht.
Vor vierzig Jahren befand sich in St. Malo eine kleine Gasse, die man Coutanchez-Gäßchen nannte; dies Gäßchen existirt nicht mehr; es fiel als ein Opfer der Verschönerungen. Dieses Gäßchen bestand aus zwei Reihen hölzerner Häuser, die so dicht an einander gedrängt waren, daß zwischen den Gebäuden nur ein schmaler Raum für einen kleinen Bach blieb, welchen man die Straße nannte. Wer durch diese Straße ging und nicht in das Wasser treten wollte, mußte sich sehr in Acht nehmen, daß er sich nicht rechts und links an den eckigen Vorsprüngen der alten Baracken Kopf, Schulter und Ellenbogen zerstieß. Diese alten Baracken aus dem normännischen Mittelalter haben fast menschliche Physiognomien; der Gedanke an Hexen liegt sehr nahe. Ihre eingezogenen Stockwerke, ihre Ueberhänge, ihre scharfkantigen Schirmdächer und Eisengitter sehen fast aus wie Lippen, Kinn, Nase und Augenbrauen; die Dachlucke stellt ihr eines Auge vor; die Wände sind die warzenbesäeten runzligen Wangen. Diese garstigen alten Hexenfratzen stecken ihre Nase so dicht zusammen, als wollten sie sich zu einem schlimmen Streich verschwören. Die veralteten Worte: Halsabschneider, Kehlabschneider, Gurgelabschneider erinnern an diese Architectur.
Das größte, berühmteste oder berüchtigteste unter den Häusern des Contanchez-Gäßchen war die sogenannte Jacressarde.
Die Jacressarde war das Obdach der Obdachlosen. In allen Städten und ganz besonders in Hafenstädten giebt es Menschen, welche zu der sogenannten Hefe des Volkes gehören. Es sind dies Tagediebe, Spitzbuben, Gauner, Landstreicher, Abenteurer, Diener des Lasters, Arbeiter und Arbeiterinnen des Bösen, Schelme und Schelminnen mit zerrissenen Kleidern und zerfetzten Gewissen. Hier findet man die zum tiefsten Elend herabgesunkene Liederlichkeit, den leichtsinnigen Verschwender am Bettelstab, die schlecht belohnte Nichtswürdigkeit, die im Zweikampf mit der Gesellschaft Besiegten, frühere Schlemmer, die jetzt am Hungertuche nagen, die Elenden in dem beklagenswerthen Doppelsinne des Wortes. Das sind die Bewohner dieser Herberge. Die menschliche Vernunft ist dort bestialisch. Es ist der Kehrichthaufen der Seelen. Dieser Kehricht sammelt sich in einem Winkel an, der von Zeit zu Zeit durch den Besen der Polizei gesäubert wird. Der Schmutzwinkel von St. Malo war die Jacressarde.
Man konnte die Jacressarde eher einen Hof als ein Haus, eher einen Brunnen als einen Hof nennen, denn ein solcher nahm den größten Raum desselben ein. Die Jacressarde hatte keine Straßenseite; eine leere nackte Wand, von einer Thür durchbrochen, war ihre Façade.
Man drückte auf die Thürklinke, öffnete und befand sich im Hofraum.
In der Mitte desselben befand sich ein großes rundes Loch von Pflastersteinen eingerahmt; das war der Brunnen.
Die Straßenseite war wie gesagt nur eine hohe Mauer; alle Wohnungsräumlichkeiten dieses merkwürdigen Gebäudes befanden sich im Hofe.
Wer bei Nacht auf seine eigene Gefahr dies Haus betrat, vernahm zunächst ein von vielen Athemzügen verursachtes Geräusch. Wenn Mond und Sterne Licht genug gewährten, um die dunkeln Umrisse, die man erblickte, einigermaßen genauer zu erkennen, bot folgender Anblick sich dar:
Der Hof, der Brunnen, der Thür gegenüber eine Art Schoppen, wenn man eine offene wurmstichige Galerie, deren aus halb verfaulten Balken bestehende Decke von unregelmäßig auseinander stehenden steinernen Pfeilern gestützt wurde, so nennen konnte. In der Mitte der Brunnen; um den Brunnen herum auf einer Streu von Stroh, in Form eines Rosenkranzes, ein Kreis von Schuhsohlen, von heruntergetretenen Stiefeln, zerrissenes Fußzeug, aus dem vorne die Zehen heraussehen, nackte Männer-, Frauen und Kinderfüße.
Alle diese Füße schliefen. Jenseits dieser Füße entdeckt das Auge, sobald es sich erst ein wenig an das Halbdunkel dieser Galerie gewöhnt hat, die zu denselben gehörenden menschlichen Formen: schlafende Gesichter, langhingestreckte träge Leiber, Lumpenpack beiderlei Geschlechts, das wüste Durcheinander eines Kehrichthaufens, der durch irgend einen ungeschickten Zufall als ein menschliches Lager benutzt wird. Diese elende Schlafstelle stand Jedermann für den Miethszins von zwei Sous die Woche offen. Die Füße der Schläfer stießen an den Brunnen. In Gewitternächten strömte der Regen, im Winter fiel der Schnee auf die Körper der dort Gelagerten.
Und wer sind diese elenden Geschöpfe?
Unbekannte. Der Abend führt sie her, der anbrechende Tag führt sie wieder fort. Die menschliche Gesellschaft ist reich an solchen Wesen. Einige von ihnen schlichen sich am Morgen fort ohne zu bezahlen.
Die Meisten hatten den Tag über nichts gegessen. Hier schläft das Laster, die Verworfenheit, die Ansteckung, das Elend denselben Schlummer der Ermattung auf demselben Bett von Schmutz. Die Träume dieser Elenden halten gute Nachbarschaft; sie geben sich an diesem Ort ein grauenvolles Stelldichein. Da liegen sie in friedlicher Eintracht neben einander gebettet, die Müden, die Hinfälligen, die Berauschten, die Ausschweifenden, die armen Notleidenden, die ohne ein Stück Brod und ohne einen guten Gedanken ihren Tag verbracht. Wie viel Begierden und Gewissensbisse schlummern hinter den ermatteten feuchten Augenlidern dieser Hingestreckten; ihr Haar vermischt sich mit dem Kehricht. Die menschliche Fäulniß gährt in diesem Bottich. Das Verhängniß, eine Reise, der Zufall, die Nacht hat sie alle auf diesen Fleck zusammengeweht. Das Schicksal leerte hier die mit Abfall und Kehricht gefüllte Bütte aus. Wer da wollte, kam; wer da konnte, schlief; wer es wagte, sprach. Es war ein Ort des Flüsterns. Man war bemüht, sich und sein Geschick im Schlafe zu vergessen, da man sich nicht verlieren konnte. Was man vom Tode zu nehmen vermochte, das nahm man. Sie schlossen die Augen, um sich in die jeden Abend von Neuem beginnende Agonie zu versenken. Woher kamen sie? Aus der Gesellschaft, deren Elend, von der Woge hergetrieben, deren Abschaum sie waren.
Nicht Jeder, der Stroh suchte, fand es. Mehr als ein Nackter streckte sich auf dem Steinpflaster. Zusammengekauert legten sie sich nieder; gelähmt standen sie auf.
Der Brunnen ohne Brustwehr und Verschluß, stets offen, war dreißig Fuß tief. Der Regen fiel hinein, die Unreinigkeiten sickerten durch; alle Abflüsse vom Hofe drangen ein. Der Schöpfeimer für das Wasser stand daneben. Wer Durst hatte, trank. Wer das Leben satt hatte, ertränkte sich darin. Von dem Schlaf auf dem Kehrichthaufen schlüpfte man in den ewigen Schlaf. Im Jahre 1819 zog man ein vierzehnjähriges Kind aus dem Brunnen.
Um in diesem Hause nicht Gefahr zu laufen, mußte man »vom Bau« sein. Die Laien wurden mit scheelem Auge angesehen.
Kannten diese Elenden einander? Nein; sie witterten sich.
Eine junge, ziemlich hübsche Frau war die Wirthin der Herberge. Sie hatte ein hölzernes Bein, trug eine Haube mit Bändern, und wusch sich zuweilen mit dem Wasser des Brunnens.
Wenn der Tag anbrach, wurde der Hof leer; die Stamm-Gäste machten sich davon.
Es befanden sich auch ein Hahn und Hühner in diesem Hofe, die den ganzen Tag im Kehricht kratzten. Auf einem quer über einigen Pfählen liegenden Balken, der den Anblick eines Galgens bot, (ein an diesem Ort nicht übel angebrachtes Bild) trocknete zuweilen die junge Frau mit dem hölzernen Bein ein vom Regen durchnäßtes und von Straßenkoth beschmutztes seidenes Kleid.
Ueber dem Schoppen, und wie dieser selbst, den Hof umschließend, befand sich ein Stockwerk, und über diesem ein Speicher. Eine wurmstichige hölzerne Treppe führte in dieses obere Stockwerk; und von dort aus führte eine Leiter auf den Speicher. Diese wackelige Leiter ward sehr oft, und in sehr geräuschvoller Weise von der hinkenden Frau mit dem hölzernen Bein erstiegen.
Die wechselnden, für eine Woche oder nur für eine Nacht zahlenden Miether wohnten im Hofe, die festen Miether im Hause.
Die Fenster waren ohne Rahmen, Gesimse ohne Thüren, Rauchfänge ohne Heerd. Ein Zimmer war mit dem andern nur durch ein länglich viereckiges Loch, das einst eine Thür gewesen war, verbunden. Der Mörtel war von den Wänden gefallen und bedeckte den Boden. Man wußte nicht, wie das Haus noch zusammenhielt. Bei jedem Windstoß zitterte es. Den durch langjährigen Gebrauch glatt gewordenen Treppenstufen konnte man sich nicht ohne Gefahr anvertrauen. Der Winter drang in das alte Gemäuer, wie das Wasser in einen Schwamm. Die Fülle von Spinnenfüßen sicherte gegen einen plötzlichen Einsturz. Zwei oder drei mit Löchern reich versehene Strohsäcke, aus welchen mehr Asche als Stroh hervorsah, füllten die Winkel der Stuben aus; sonst befanden sich außer einigen Krügen und Schüsseln, die zu verschiedenen Zwecken dienten, gar keine Geräthschaften darin. Es herrschte ein süßlicher, widerwärtiger Geruch.
Von den Fenstern hatte man die Aussicht auf den Hof. Diese Aussicht glich der auf einen Karren voll Unrath. Die Dinge, um nicht zu sagen die Menschen, welche sich daselbst im Schlamme wälzten, welche dort verfaulten und verschimmelten, sind nicht zu beschreiben. Alle Ueberreste hielten dort gute Kameradschaft; der Boden war wie besäet von Fetzen und Abfällen aller Art.
Aus der wechselnden Einquartierung im Hofe beherbergte die Jacressarde drei feste Miether: einen Kohlenbrenner, einen Lumpensammler und einen Goldmacher. Der Kohlenbrenner und der Lumpensammler hatten zwei Strohsäcke im ersten Stocke inne; der Goldmacher, ein Chemiker, wohnte auf dem Boden, der auch – man weiß nicht warum – die Dachstube genannt wurde. In welchem Winkel die Frau schlief, wußte man nicht. Der Goldmacher war ein wenig Dichter. Er bewohnte im Dachstuhl, unter den Ziegeln, eine Kammer, welche eine schmale Dachluke und einen großen steinernen Kamin hatte, durch den der Wind heulte; die Luke war in Ermangelung von Fensterscheiben mit einem alten Stück Eisenblech nothdürftig zugenagelt, welches dem Tageslicht, aber nicht der Kälte den Eingang verwehrte. Der Kohlenbrenner zahlte von Zeit zu Zeit mit einem Sack voll Kohlen; der Lumpensammler wöchentlich ein Mäßchen Getreide für die Hühner; der Goldmacher zahlte gar nicht. Statt dessen steckte er das Haus in Brand. Er hatte das wenige vorhandene Holz unter seinem Schmelztiegel verbrannt; jetzt zog er schon die Latten aus der Mauer, um seinen Goldtopf damit zu heizen. Ueber dem Lager des Lumpensammlers sah man zwei Reihen mit Kreide geschriebener Ziffern: eine Reihe mit 3, die andere mit 5 bezeichnet. Der Lumpensammler vergrößerte dieselben in jeder Woche durch Hinzufügung einer neuen 3 oder neuen 5, je nachdem das Maß Getreide, welches er für seiner Wirthin Hühner erstanden, drei Liards oder fünf Centimes kostete. Der Schmelztopf des »Chemikers« war eine alte zerplatzte Bombe, die er zum Tigel promovirt hatte, in welchem er seine Ingredienzien vermischte. Die Umwandlung derselben in Gold nahm ihn ganz in Anspruch. Bisweilen sprach er davon mit den Nacktfüßen im Hofe, die ihn auslachten. Er sagte dann: »Diese Leute sind voller Vorurtheile.« Er war entschlossen, nicht eher zu sterben, als bis es ihm gelungen wäre, der Wissenschaft mit dem Stein der Weisen die Fenster einzuwerfen. Sein Ofen fraß viel Holz. Das Treppengeländer war bereits verschwunden. Das ganze Haus ging nach und nach in Feuer auf. Die Wirthin sagte ihm: »Ihr werdet mir nur noch das Gehäuse lassen!«
Er entwaffnete sie durch einige Verse.
Das war die Jacressarde.
Ein gnomenartiges, mit einem Kropf behaftetes und einen Besen in der Hand haltendes Geschöpf, welches eben so wohl ein zwölfjähriger Knabe als ein sechszigjähriger Greis sein konnte, war Hausknecht in dieser Herberge.
Die Stammgäste traten durch die Hofthür in das Haus ein, das Publikum durch den Laden. Was war das für ein Laden? Die hohe Mauer, welche die Straßenfaçade vorstellte, war von einem winkeligen Loch durchbrochen, das zugleich als Thür und als Fenster diente, dieses einzige mit einem wirklich festen Verschluß, mit Rahmen, Scheiben, Riegeln und Angeln versehene Fenster hatte sogar auch Läden, dieses merkwürdige Thür-Fenster führte in eine Art von Bretterverschlag, welcher dicht an den Hofraum grenzte und durch eine Hinterthür mit demselben in Verbindung stand. Das war der Laden. Aus der Thür desselben war die mit Kohle gezeichnete Inschrift zu lesen: »Raritäten-Cabinet.« Die Raritäten wurden den Besuchern des Cabinetes auf drei zum Gestell arrangirten und mit Glasscheiben verschlossenen Brettern zur Schau gestellt. Dieser kostbare Raritätenkasten enthielt einige Porzellantöpfe ohne Henkel, einen chinesischen Sonnenschirm, den goldene Figuren und viele Löcher zierten, und welchen Niemand weder aufspannen noch schließen konnte; einige unförmliche Sand- und Eisensteine, verschiedene eingedrückte Männer- und Frauenhüte, zwei oder drei Muscheln, mehrere sonderbar geformte alte Hornknöpfe, eine Schnupftabaksdose mit dem Bildniß der unglücklichen Marie Antoinette, und einen einzelnen Band eines umfangreichen Werkes über Algebra von Boisbertrand. Diese reichhaltige Sammlung der verschiedensten Seltenheiten barg der Raritätenkasten in seinen gläsernen Wänden. Der Laden stand durch eine Hinterthür mit den inneren Räumen des Hauses in Verbindung. Es stand in demselben ein Tisch und ein Schemel. Die Frau mit dem hölzernen Bein hatte die Aufsicht daselbst und leitete das Geschäft.
Clubin war am Dienstag den ganzen Abend nicht in das Wirthshaus gekommen. Er kam auch am Mittwoch nicht.
An diesem Abend, um die Zeit der Dämmerung begaben sich zwei Männer in das Contanchez-Gäßchen; sie blieben vor der Jacressarde stehen. Der Eine von ihnen klopfte an das Fenster. Die Thür wurde geöffnet; sie traten ein. Ein Licht stand auf dem Tisch. Die Frau mit dem hölzernen Bein empfing sie mit einem Lächeln, dessen sich nur Standespersonen, das heißt Bürger von St. Malo zu erfreuen hatten.
Diese beiden Männer waren in der That Bürger.
Derjenige, welcher geklopft hatte, sagte:
– Guten Abend, Frau Wirthin; ich komme wegen der bewußten Sache.
Die Frau mit dem hölzernen Bein lächelte von Neuem und entfernte sich darauf durch die in den Hof führende Hinterthür.
Es währte nicht lange, so öffnete sich diese Thür wieder und ein Mann trat in den Laden, welcher unter seiner Blouse etwas zu verbergen schien; seine Haare und Kleider waren ganz besäet von Strohhalmen; sein Blick hatte etwas Starres, wie der eines Menschen, welcher aus dem Schlaf geweckt worden ist.
Er trat näher. Man betrachtete sich gegenseitig. Der Mann mit der Blouse sah etwas bestürzt aus. Er sagte:
– Seid Ihr der Waffenschmied?
Der Gefragte antwortete: Ja. Seid Ihr der Pariser?
– Genannt »Rothhaut.« Ja.
– Zeigt her.
– Hier.
Der Mann zog unter seiner Blouse eine Waffe hervor, welche zu seiner Zeit in Europa noch äußerst selten war, nämlich einen Revolver.
Der Revolver war neu und glänzte. Die beiden Herren untersuchten ihn. Derjenige, welcher das Haus zu kennen schien und den der Pariser als den Waffenschmied bezeichnet hatte, ließ den Mechanismus spielen. Dann reichte er das Ding seinem Begleiter, der fremd an diesem Orte zu sein schien und sich immer mit dem Rücken gegen das Licht hielt.
Der Waffenschmied fragte: Wie viel?
Der Mann in der Blouse antwortete: Ich komme damit aus Amerika. Andere schleppen Affen, Papageien, wilde Bestien mit nach Frankreich, als ob die Franzosen Wilde wären. Ich führe dies ein. Es ist eine nützliche Erfindung.
– Wie viel? wiederholte der Waffenschmied.
– Es ist eine Pistole mit einem Drehapparat –
– Wie viel?
– Paff! ein erster Schuß – Paff! ein zweiter – ein dritter – Paff! ein ganzer Hagel! Das macht Arbeit!
– Wie viel?
– Er hat sechs Läufe.
– Nun ja! Also wie viel?
– Sechs Läufe, macht sechs Louis.
– Wollt Ihr fünf Louis?
– Unmöglich. Jede Kugel einen Louis, das ist der Preis.
– Wollen wir ein Geschäft machen? Laßt uns vernünftig reden.
– Ich habe Ihnen den rechten Preis gesagt. Sehen Sie sich das Ding nur an, Herr Büchsenschmied.
– Ich habe es untersucht.
– Die Schraube dreht sich wie Talleyrand. Das ist eine Schraube, so beweglich wie eine Wetterfahne. Ein wahres Juwel!
– Ich hab's gesehen.
– Die Läufe sind spanisches Fabrikat.
– Ich hab's bemerkt.
– Er ist damascirt. Sehen Sie nur, wie das gearbeitet ist.
– Ich sehe es wohl.
– Das ist eine große Seltenheit, mein Herr.
– Seid Ihr denn auch vom Handwerk?
– Ich bin von allen Handwerken.
– Sagen wir also: fünf Louis. Seid Ihr's zufrieden?
– Ich erlaube mir die Bemerkung, daß ich die Ehre hatte zu sagen, sechs Louis.
Der Waffenschmied sagte in gedämpften Tone zu dem Blousenmann:
– Hört, Pariser, laßt Euch die gute Gelegenheit nicht entgehen. Schlagt das Ding los. Für Leute wie Ihr seid, ist so eine Waffe ja doch nichts. So ein Ding lenkt blos die Aufmerksamkeit auf Euch.
– Ihr mögt Recht haben, sagte der Pariser. Für einen soliden Bürger paßt's besser.
– Wollt Ihr fünf Louis?
– Nein, sechs. Einen Louis jeder Lauf.
– Gut also, sechs Napoleons.
– Ich fordre sechs Louis.
– So seid Ihr also kein Bonapartist? Ihr zieht einen Louis einem Napoleon vor?
Der Pariser, genannt Rothhaut, lächelte.
– Napoleon ist mehr, sagte er, doch Louis gilt mehr.
– Sechs Napoleons.
– Sechs Louis. Das macht für mich einen Unterschied von 24 Francs.
– Dann wird nichts aus unserem Geschäft.
– Wie Ihr wollt. Dann behalte ich meine Waffe.
– Behaltet sie.
– Ich mich handeln lassen? Donnerwetter! Man soll mir nicht nachsagen, daß ich eine solche Erfindung um ein Butterbrod losgeschlagen habe!
– Dann, gute Nacht.
– Das ist ein Fortschritt über die Pistole hinaus, die die Indianer Nortay-u-Hah nennen.
– Fünf Louis baar ist Geld –
– Nortay-u-Hah heißt so viel wie kurze Flinte. Die Wenigsten wissen das.
– Wollt Ihr fünf Louis und ein Thälerchen Trinkgeld?
– Herr, ich habe gesagt: sechs.
Der Mann, welcher bisher dem Licht den Rücken gekehrt und der sich während dieses Gesprächs, ohne ein Wort zu reden, mit der Untersuchung des Mechanismus beschäftigt hatte, trat nun an den Waffenschmied heran und flüsterte ihm leise in's Ohr:
– Ist das Ding gut?
– Vortrefflich.
– Dann gebe ich die sechs Louis.
Fünf Minuten später, nachdem der Pariser das Gold eingestrichen und in einer geheimen Tasche unter der Achselhöhle seiner Blouse verborgen, und der Käufer des Revolvers diesen in die Tasche seines Beinkleides gesteckt hatte, entfernte sich der Letztere mit seinem Begleiter durch das Gäßchen.
Am nächsten Tag – es war am Donnerstag – geschah nahe bei St. Malo, bei dem Vorsprung von Decollé, an einer Stelle, wo das Gestade steil und das Meer tief ist, etwas sehr Tragisches.
Der Gipfel des Decollé ist eine ziemlich breite Fläche, die ganz besät mit kleinen Felsblöcken ist, welche kolossalen Pflastersteinen gleichen; ein dichtes kurzes Gras sproßt in den Zwischenräumen. Dieser steile Abhang erhebt sich sechszig Fuß hoch über dem Meeresspiegel. Eine natürliche Treppe von kleineren Granit-Felsblöcken gebildet, führt bis zum Gipfel hinauf. Diese Treppe bietet große Schwierigkeiten; es gehören Riesenschritte oder Clown-Sprünge dazu, sie zu ersteigen.
Es mochte um die fünfte Abendstunde sein, als ein Mann, in einen weiten Uniform-Mantel gehüllt, dessen scharfwinkelige Falten verriethen, daß er Waffen darunter trug, am äußersten Rande dieses Abhanges stand. Er hatte ein Fernrohr in der Hand, und beobachtete mit großer Aufmerksamkeit die Bewegungen eines Schiffes, welches schon seit einer Stunde den Hafen von St. Malo verlassen hatte, doch anstatt die hohe See zu gewinnen, sich hinter den Dünen gleichsam versteckt hielt. Es war ein Dreimaster. Es hatte nicht Anker geworfen, vielleicht weil der Meeresgrund an dieser Stelle es nicht gestattete, sondern sich darauf beschränkt, aufzubrassen.
Der Mann, welchen sein Uniform-Mantel als einen von der Küstenwache bezeichnete, verlor das Schiff nicht einen Augenblick aus den Augen.
Es war noch heller Tag; besonders auf dem Meere und auf dem hohen Felsgestade; unten am Fuße des Felsens begann es allmälig zu dunkeln.
Der Küstenwächter war so vertieft in seine Beschäftigung, daß er weder rück- noch vorwärts sah, sondern seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gegenstand seiner Beobachtung richtete. Er bemerkte daher nicht, daß sich auf der Felsentreppe, welcher er den Rücken zuwandte, Etwas bewegte. Hinter einer der Krümmungen jener Treppe befand sich ein Mann, der jedenfalls schon vor der Ankunft des Küstenwächters an dieser Stelle versteckt gewesen war.
Von Zeit zu Zeit trat derselbe aus seinem Versteck hervor, und beobachtete den Beobachter auf der Zinne des Felsens. Dieser versteckte Späher trug einen breitkrempigen amerikanischen Hut, sein Aeußeres verrieth einen Quäker. Es war derselbe, welchen Sieur Clubin zehn Tage vorher zwischen den Felsen der kleinen Bucht mit dem Capitain Zuela sprechen sah.
Plötzlich schien sich die Aufmerksamkeit des Küstenwächters zu verdoppeln. Er putzte schnell mit dem Tuch seines Aermels das Glas seines Fernrohrs, und richtete dasselbe unverwandt auf den Dreimaster.
Ein schwarzer Punkt hatte sich von diesem abgelöst; dieser schwarze Punkt, ähnlich einer Ameise auf dem Meere, war ein Kahn. Einige Matrosen waren in dieses kleine Fahrzeug gestiegen, und ruderten mit aller Kraft dem Lande zu.
Die Aufmerksamkeit des Küstenwächters hatte den höchsten Grad erreicht, als plötzlich der kleine Nachen eine schräge Richtung nahm, und sich dem äußersten Rande des Felsvorsprungs näherte.
In diesem Augenblick erschien der Quäker in seiner ganzen Länge oben auf der Treppe. Der Wächter sah ihn nicht. Mit herabhängenden Armen, geballten Fäusten und mit dem Blick eines Jägers, welcher zielt, betrachtete dieser Mann den Rücken des Küstenwächters. Nur vier Schritte war er von ihm entfernt. Er that behutsam einen Schritt vorwärts, dann stand er still. Er that einen zweiten Schritt, dann blieb er wieder stehen. Er machte keine andere Bewegung als die des Gehens, sonst blieb sein ganzer Körper unbeweglich wie eine Bildsäule. Sein Fuß trat geräuschlos auf das Gras, jetzt that er den dritten Schritt und blieb wiederum stehen. Jetzt stand er dicht hinter dem Küstenwächter, der noch immer unbeweglich durch sein Fernrohr blickte. Langsam erhob der Mann jetzt seine beiden fest geschlossenen Hände bis zu der Höhe seiner Achseln, ließ dann plötzlich den Vorderarm fallen, und seine Fäuste trafen, wie aus der Pistole geschossen, die Schultern des Küstenwächters. Der Stoß war furchtbar.
Der Küstenwächter hatte nicht Zeit zu schreien. Er fiel kopfüber den Abhang hinunter in's Meer. Einen Augenblick sah man noch seine beiden Sohlen. Es war, als wenn ein Stein in das Wasser fiel. Die Wogen schlossen sich über ihm.
Zwei oder drei Kreise bildeten sich in dem dunkeln Wasser.
Das Einzige, was von ihm übrig blieb, war das Fernrohr, welches seinen Händen entfallen, im Gras am Boden lag.
Der Quäker beugte sich über den Rand des Abhanges, beobachtete, wie die Kreise in den Fluthen sich allmälig verloren, wartete noch einige Minuten, murmelte dann, sich wieder aufrichtend, halb singend in den Bart:
Einer von der Polizei
Brach sich das Genick entzwei.
Er beugte sich noch einmal hinab. Es war nichts mehr zu sehen. Nur auf der Stelle, wo der Küstenwächter versunken war, zeigte sich jetzt auf der Oberfläche des Wassers eine bräunliche Färbung. Wahrscheinlich hatte sich der in das Meer Gestürzte den Schädel an irgend einer Klippe unter dem Wasser zerschmettert, und es war sein heraufsteigendes Blut, das die Wogen an jener Stelle dunkler färbte. Als der Quäker die rothe Lache bemerkte, sang er:
Und vor einer Viertelstund
War der Mann noch . . .
Er endigte nicht.
Er vernahm hinter sich eine sehr sanfte Stimme, die ihn anredete:
– Ah! Ihr seid es, Rantaine! Guten Abend! Ihr habt soeben einen Mann getödtet.
Er wandte sich um. Fünfzehn Schritte hinter ihm, am Ausgang einer von Felsen gebildeten Grotte stand ein kleiner Mann, der einen Revolver in der Hand hielt.
Er antwortete: Wie Ihr seht. Guten Abend, Sieur Clubin.
Der kleine Mann begann zu zittern.
– Ihr kennt mich?
– Habt Ihr mich doch auch erkannt! – erwiederte Rantaine. Inzwischen vernahm man vom Meere her das Geräusch von Ruderschlägen. Es war das Boot, welches der Küstenwächter beobachtet hatte, und das sich jetzt näherte.
Sieur Clubin sagte mit leiser Stimme, als spräche er mit sich selber:
– Es ging schnell!
– Was steht Euch zu Diensten? fragte Rantaine.
– Nicht viel. Es sind jetzt gerade zehn Jahre, daß ich Euch nicht gesehen habe. Ihr müßt gute Geschäfte gemacht haben. Wie geht es Euch?
– Gut, erwiederte Rantaine. Und Euch?
– Sehr gut, antwortete Sieur Clubin.
Rantaine ging einen Schritt gegen Sieur Clubin vor. Er vernahm ein leises Knacken. Sieur Clubin spannte den Hahn seines Revolvers.
– Rantaine, sagte er, wir sind fünfzehn Schritte auseinander. Das ist eine gute Entfernung. Bleibt, wo Ihr seid.
– Ach was! Was wollt Ihr von mir?
– Ich will ein wenig mit Euch plaudern.
Rantaine rührte sich nicht von der Stelle.
Sieur Clubin fuhr fort:
– Ihr habt so eben einen Küstenwächter getödtet.
Rantaine lüftete seinen Hut und antwortete: Ihr habt mir bereits die Ehre erwiesen, es mir zu sagen.
– Ich hatte mich nicht ganz deutlich ausgedrückt. Ich hatte gesagt: einen Mann. Jetzt sage ich: einen Küstenwächter. Es war No. 619. Er war Familienvater, und hinterläßt eine Frau und fünf Kinder.
– Das kann sein, sagte Rantaine.
Es folgte eine unmerkliche Pause.
– Die Küstenwächter sind auserlesene Leute, sagte Clubin. Es sind fast lauter ehemalige Seeleute.
– Ich habe bemerkt, sagte Rantaine, daß in der Regel eine Frau und fünf Kinder zurückbleiben.
– Sieur Clubin fuhr fort: Rathet einmal, was dieser Revolver gekostet hat.
– Es ist eine schmucke Waffe, erwiederte Rantaine.
– Wie hoch schätzt Ihr ihn?
– Ich schätze ihn hoch.
– Er hat mich hundert und vier und vierzig Francs gekostet.
– Ihr hättet das Ding, sagte Rantaine, in dem Waffenladen im Contanchez-Gäßchen kaufen sollen.
Clubin erwiederte:
– Er hat nicht geschrieen. Der Fall benimmt die Stimme.
– Sieur Clubin, wir werden diese Nacht eine Brise bekommen.
– Ich bin allein in das Geheimniß eingeweiht.
– Verkehrt Ihr noch immer in dem Wirthshaus am Hafen? fragte Rantaine.
– Ja. Es ist ganz gut dort.
– Ich erinnere mich, einmal vortreffliches Sauerkraut dort gegessen zu haben.
– Ihr müßt außerordentlich kräftig sein, Rantaine. Ihr habt ein paar Schultern! Ich möchte keinen Nasenstüber von Euch haben! Als ich zur Welt kam, war ich so gebrechlich, daß man nicht glaubte, mich am Leben zu erhalten.
– Es ist doch gelungen. Das ist ein Glück!
– Ja, ich verkehre noch immer in dem alten Wirthshaus am Hafen.
– Wißt Ihr auch, Sieur Clubin, warum ich Euch erkannt habe? Weil Ihr mich erkannt habt. Ich sagte mir: Das kann nur Clubin!
Er ging einen Schritt vor.
– Stellt Euch wieder dahin, wo Ihr gestanden habt, Rantaine.
Rantaine wich zurück, und sagte leise für sich:
– Vor so einer Maschine wird man wie ein Kind.
Sieur Clubin fuhr fort:
– Orientiren wir uns. Wir haben zur Rechten, ungefähr dreihundert Schritte von hier, nach der Seite von St. Enogat einen andern Küstenwächter, Nr. 618, der noch lebendig ist, und zur Linken, nach der Seite von St. Lunaire eine Zollwache. Das macht sieben bewaffnete Männer, die in fünf Minuten hier sein können. Der Felsen wird umstellt, der Engpaß bewacht, es ist nicht möglich zu entfliehen. Am Fuß des Abhangs ist eine Leiche.
Rantaine warf einen Seitenblick auf den Revolver.
– Wie Ihr sagt, Rantaine, es ist eine schmucke Waffe. Vielleicht ist er nur mit Pulver geladen. Gleichviel; ein Schuß genügt, um die bewaffnete Macht herbeizurufen. Ich habe sechs Schüsse darin.
Das regelmäßige Geräusch der Ruderschläge wurde immer vernehmbarer; das Boot war nicht mehr fern.
Der große Mann fixirte den Kleinen mit einem eigenthümlichen Blick.
Sieur Clubin's Stimme wurde immer ruhiger und sanfter.
– Rantaine, sagte er, wenn die Männer in dem Boot, das sogleich anlegen wird, wüßten, was Ihr so eben gethan habt, würden sie den Andern hülfreiche Hand leisten, Euch fest zu nehmen. Ihr bezahlt dem Capitain Zuela zehn tausend Francs für die Ueberfahrt. Beiläufig gesagt, hättet Ihr es billiger haben können, wenn Ihr Euch an die Schmuggler von Plainmont gewandt hättet; aber diese hätten Euch nur bis England gebracht, und außerdem könnt Ihr nicht wagen nach Guernesey zu gehen, wo man die Ehre hat Euch zu kennen. Kommen wir also auf die Sachlage zurück. Wenn ich Feuer gebe, so werdet Ihr festgenommen, Ihr bezahlt dem Zuela dafür, daß er Euch zur Flucht verhilft, zehn tausend Francs. Fünf tausend habt Ihr ihm schon im Voraus gegeben. Zuela könnte die fünf tausend Francs behalten, und sich damit aus dem Staube machen. So steht's! Rantaine, Ihr habt eine gute Maske gewählt, dieser Hut, dieser närrische Anzug, diese Gamaschen machen Euch völlig unkenntlich. Ihr habt nur noch die Brille vergessen. Ihr habt wohl gethan, Euch einen Backenbart wachsen zu lassen.
Rantaine lächelte. Dieses Lächeln glich ziemlich einem Grinsen.
Clubin fuhr fort:
– Rantaine, Ihr tragt amerikanische Beinkleider; mit doppelten Tragbändern. In dem einen dieser Tragbänder befindet sich Eure Uhr. Ihr mögt sie behalten.
– Danke, Sieur Clubin!
– In dem andern ist eine kleine eiserne Dose, welche sich vermittelst einer Feder öffnet und schließt. Es ist eine alte Matrosen-Tabaksdose. Zieht sie aus Eurem Tragband hervor und werft sie mir zu.
– Das ist ja ein Diebstahl!
– Ich hindere Euch nicht, die Wache zu rufen. Indem er das sagte, sah Clubin ihm fest in's Auge.
– Hört Mess Clubin . . ., sagte Rantaine, indem er einen Schritt vorwärts that und Clubin seine offene Hand entgegenstreckte.
Mess war eine Schmeichelei.
– Bleibt wo Ihr seid, Rantaine!
– Mess Clubin, verständigen wir uns. Ich biete Euch die Hälfte.
– Sieur Clubin verschränkte seine Arme so, daß der blanke Lauf seines Revolvers hervorblitzte.
– Rantaine, wofür haltet Ihr mich? Ich bin ein Ehrenmann.
Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: Ich muß das Ganze haben, Rantaine.
Rantaine murmelte zwischen den Zähnen: Der Kerl ist ein wahrer Seeräuber!
Clubin's Augen leuchteten auf, seine Stimme wurde klar und schneidend wie scharf geschliffener Stahl.
Er rief:
– Ich sehe, Ihr seid im Irrthum. Ihr heißet: Diebstahl. Ich heiße: Wiedererstattung. Rantaine, hört mich an. Vor zehn Jahren habt Ihr bei Nacht und Nebel Guernesey verlassen. Von den hundert tausend Francs, welche Ihr damals mitnahmt, waren nur fünfzig tausend Euer Eigenthum. Die andern fünfzig tausend habt Ihr Eurem Wohlthäter und Geschäftsgenossen, dem biedern vortrefflichen Mess Lethierry gestohlen. Diese fünfzig tausend Francs mit zehnjährigen Zinsen, das macht achtzig tausend sechs hundert und sechszig Francs und sechsundsechszig Centimes. Gestern wart Ihr bei einem Wechsler. Ich will ihn Euch nennen; er heißt Rebuchet und wohnt in der Straße St. Vincent. Ihr habt ihm sechs und siebenzig tausend Francs in französischen Banknoten bezahlt und erhieltet dafür von ihm drei englische Tausend-Pfund-Noten. Diese drei englischen Banknoten verwahrt Ihr in der eisernen Dose und die eiserne Dose in Eurem rechten Trageband. Diese drei Banknoten betragen fünf und siebenzig tausend Francs. Im Namen Mess Lethierry's will ich mich damit begnügen. Ich reise Morgen nach Guernesey, und will sie ihm überbringen. Rantaine, der Dreimaster da unten ist der Tamaulipas. Ihr habt in voriger Woche Eure Kisten und Kasten zwischen dem Gepäck der Mannschaft dort untergebracht. Ihr wollt Frankreich verlassen, und Ihr habt Eure Gründe dazu. Ihr geht nach Arequipa. Das Boot kommt, Euch abzuholen. Ihr erwartet es hier. Von mir hängt es ab, Euch fest zu halten, oder reisen zu lassen. Genug der Worte. Werft mir die eiserne Dose zu.
Rantaine öffnete sein Tragband, zog eine kleine Dose hervor und warf sie Clubin zu. Es war die eiserne Dose. Sie rollte zu Clubin's Füßen.
Clubin bückte sich danach, ohne den Kopf zu neigen, und hob, seine zwei Augen und seine sechs Revolverläufe fest auf Rantaine gerichtet, mit der Linken die Dose auf.
Dann rief er:
– Kehrt mir den Rücken, Freund!
Rantaine gehorchte.
Clubin schob den Revolver unter den linken Arm und drückte auf die Feder der Dose. Sie sprang auf.
In der Dose lagen die drei Tausend-Pfund-Noten und eine Zehn-Pfund-Note.
Er faltete die drei Tausend-Pfund-Noten wieder zusammen, legte sie in die Dose, schloß dieselbe und steckte sie in seine Tasche.
Dann nahm er einen Kieselstein von der Erde, wickelte die Zehn-Pfund-Note um denselben und sagte:
– Kehrt Euch wieder um!
Rantaine that es.
Sieur Clubin sprach:
– Ich habe Euch gesagt, daß ich mich mit den drei Tausend-Pfund-Noten begnügen würde. Nehmt diese Zehn-Pfund-Note zurück.
Dabei warf er die Note mit dem Kieselstein Rantaine zu.
Rantaine schleuderte Beides mit einem Fußtritt in's Meer.
– Ganz nach Belieben! rief Clubin. Aber Ihr müßt sehr reich sein. Das beruhigt mich.
Das Geräusch der Ruderschläge, welche während dieses Gespräches der beiden Männer immer vernehmbarer geworden war, hörte plötzlich auf. Das Boot hatte am Fuße des Abhangs angelegt.
– Euer Fiacre ist unten, Ihr könnt abreisen, Rantaine.
Rantaine wandte sich nach der Treppe und stieg hinab. Clubin näherte sich vorsichtig dem Rand des Abhangs, und mit vorgebeugtem Haupte sah er ihn hinabsteigen. Das Boot hatte auf derselben Stelle angelegt, wo der Küstenwächter hinabgestürzt war.
Als Clubin Rantaine hinunterklettern sah, murmelte er leise vor sich hin:
– Arme Nummer Hundertundneunzehn! – Er glaubte sich allein. Rantaine glaubte, zu Zweien zu sein. Ich allein wußte, daß wir unser Drei waren.
Sein Blick fiel auf das zu seinen Füßen liegende Fernrohr, das der Küstenwächter hatte fallen lassen. Er hob es auf.
Das Geräusch der Ruderschläge begann von Neuem. Rantaine war in das Fahrzeug gestiegen. Das Boot suchte das Weite.
Nach den ersten Ruderschlägen des sich von dem Abhang entfernenden Bootes sprang Rantaine plötzlich in die Höhe; seine Miene war entsetzlich, er ballte krampfhaft die Faust und kreischte wild: – Ha, der Teufel selber ist eine Canaille!
Einige Sekunden später hörte der auf dem Rand des Abhangs stehende und das Boot mit dem Fernglas beobachtende Clubin folgende mit starker Stimme vernehmlich gesprochenen Worte:
– Sieur Clubin, Ihr seid ein braver Mann; aber Ihr werdet es in der Ordnung finden, daß ich an Mess Lethierry schreibe, um ihn von der Sache in Kenntniß zu setzen. In dem Boot befindet sich ein Matrose, der zu der Mannschaft des Taumalipas gehört; er ist aus Guernesey, heißt Ahier-Tostevin, und wird mit dem Capitän Zuela bei dessen nächster Fahrt nach St. Malo zurückkommen. Er wird bezeugen, daß ich Euch die Summe von 3000 Pfund Sterling für Mess Lethierry eingehändigt habe.
Es war Rantaine's Stimme.
Sieur Clubin war aber nicht der Mann der halben Maßregeln. Unbeweglich, das Auge unverwandt an das Fernglas geheftet, ganz so wie vor ihm der Küstenwächter, stand er auf derselben verhängnißvollen Stelle, und sah das Boot immer kleiner und kleiner werden. Er sah es verschwinden und wieder auftauchen; er sah, wie es sich dem Tamaulipas näherte, wie es anlegte; er sah endlich die kräftige Gestalt Rantaine's auf dem Verdeck des Tamaulipas.
Als das Boot wieder eingebracht war, stach der Tamaulipas in See. Ein frischer Wind blähte die wieder aufgehißten Segel. Eine halbe Stunde später war der Tamaulipas nur noch ein kleiner schwarzer Punkt am Horizont, der sich in der immer tiefer werdenden Dämmerung bald ganz verlor.
An diesem Abend kam Sieur Clubin spät nach Hause. Eine der Ursachen seiner Verspätung war, daß er noch vor seiner Rückkehr ein Wirthshaus vor dem Dinan-Thor besucht hatte. Er kaufte in diesem entlegenen Hause, wo man ihn nicht kannte, eine Flasche Branntwein; dann stattete er der Durande noch einen Besuch ab, um sich zu überzeugen, ob für die Abfahrt am nächsten Morgen Alles bereit sei.
Als Sieur Clubin in das Wirthshaus am Hafen trat, fand er Niemanden als den Capitän Gertrais-Gaboureau in der Wirthsstube, der, sein Pfeifchen schmauchend, bei einem Schoppen saß.
Herr Gertrais-Gaboureau, der eben den Mund an den Rand seines Glases gesetzt hatte, winkte zwischen Schoppen und Rauchwolke mit den Augen Sieur Clubin einen Gruß zu.
– Good bye, Capitain Clubin!
– Guten Abend, Capitain Gertrais!
– Nun ist der Tamaulipas ja abgesegelt.
– So? erwiederte Clubin; ich habe nicht darauf geachtet.
Herr Gertrais spuckte aus, und sagte:
– Zuela ist durchgerannt.
– Diesen Abend.
– Wohin geht er?
– Zum Teufel.
– Ohne Zweifel. Aber wohin?
– Nach Arequipa.
– Ich wußte nichts davon, erwiederte Clubin.
Er fügte hinzu:
– Ich gehe jetzt zu Bette.
Er zündete sein Licht an, ging nach der Thür, kehrte aber wieder zurück und sagte:
– Wart Ihr schon ein Mal in Arequipa, Capitän Gertrais?
– Ja, vor Jahren.
– Wo wird denn angelegt?
– Ueberall, wo man will. Aber der Tamaulipas wird nirgends anlegen.
Capitän Gertrais-Gaboureau klopfte die Asche seiner Pfeife auf den Rand eines Tellers aus, und fuhr fort:
Ihr erinnert Euch wohl des Wallfischfängers »das Trojanische Pferd« und des Dreimasters »Trentemouzin«, die nach Cardiff segelten? Ich warnte Beide, nicht abzureisen, denn ich verstehe mich, wie Ihr wißt, ein wenig auf's Wetter. Sie haben nicht auf mich gehört, und mußten's büßen; sie sind in einem schönen Zustand wieder gekommen. Das »Trojanische Pferd« hatte Wasser geschluckt; es war mit Terpentin beladen. Man pumpte das Wasser mit sammt dem Terpentin heraus. Der Dreimaster lief in einem schauerlichen Zustand in den Hafen ein. Der Schiffsschnabel, der Ankerstock am Backbord, Alles zerbrochen; die Spiere des großen Vorstagsegels, die Bugsierthaue und die Krahnbalken, alles zum Teufel gegangen; sämmtliches Eisen am Bugsprit fehlte. Der Backbord hatte furchtbaren Leck. So geht es denen, die keinen guten Rath annehmen wollen.
Clubin hatte sein Licht auf den Tisch gestellt, und beschäftigte sich mit einigen Nadeln, die er bald aus seinem Rockkragen heraus zog, bald wieder hinein steckte.
– Sagtet Ihr nicht vorhin, Capitain Gertrais, der Tamaulipas würde nirgend anlegen?,
– Nein, er geht gerades Weges nach Chili.
– In diesem Fall würde er also unterwegs keine Nachrichten von sich geben können?
– Das habe ich nicht gesagt. Erstens kann er allen Schiffen, denen er begegnet, und die nach Europa gehen, Nachrichten mitgeben.
– Das ist wahr.
– Dann hat er auch noch den Briefkasten des Oceans.
– Den Briefkasten des Oceans? Was meint Ihr damit?
– Wie? Ihr kennt nicht den Briefkasten des Oceans?
– Nein.
– Wenn man die Magellanstraße passirt.
– Nun?
– Das ist eine Strecke, die keine vier Sous werth ist; überall Schnee, beständig Unwetter, Regen, Hagel und böse Winde.
– Und weiter?
– Wenn Ihr das Cap Monmouth umsegelt habt –
– Nun? Weiter!
– So kommt Ihr an das Cap Valentin –
– Weiter!
– Dann an das Cap Isidor –
– Weiter!
– Dann müßt Ihr das Vorgebirge Anna umsegeln.
– Gut. Aber was meintet Ihr mit dem Briefkasten des Oceans?
– Wir sind gleich da. – Berge zur Rechten, Berge zur Linken; überall Fettgänse und Sturmvögel; ein furchtbarer Ort! Tausend Heilige und tausend Affen! Ist das ein Lumpenpack! Wie das klappert! Hier braucht man dem Winde nicht mit Segeln zu Hülfe zu kommen; hier heißt es: aufgepaßt! Das Barkholz der Heckbalken in Acht genommen! Das große Segel wird hier mit dem Vorstagsegel vertauscht. Hu! Windstoß auf Windstoß! und dann manchmal vier, fünf, sechs Tage Windstille! Ihr bringt Charpie mit nach Hause, und wenn Ihr das schönste neue Spiel Segel mitgenommen habt. Das ist ein schöner Tanz! Der größte Dreimaster springt wie ein Floh auf den Wogen herum. Ich sah mit an, wie ein kleiner Schiffsjunge auf der englischen Brigg True-blue mit sammt dem Katerbaum zu allen fünf tausend Millionen Kreuz Donnerwettern fuhr. Wie ein Schmetterling flatterte er in der Luft. Ach, und diese Teufelsküste! Es giebt nichts Abschreckenderes, nichts Unwirthlicheres! Felsen so zackig als hätten sie Kinder ausgeschnitten. Aber das ist noch Nichts; kommt nur erst an den Port Famine, da ist es schlimmer als schlimm! Wogen so holperig wie Ihr noch niemals welche weder gesehen noch befahren habt! Eine wahre Hölle von einem Seestrich. Und an diesem schauerlichen Ort kommt Euch urplötzlich, Ihr wißt nicht wie, ein Ding vor die Augen, worauf mit roth gemalten Buchstaben: Post-Office zu lesen ist.
– Was soll das heißen, Capitain Gertrais?
– Das will ich Euch sagen, Capitain Clubin. Sobald ihr das Vorgebirge Anna umschifft habt, seht ihr auf einem Kiesel von hundert Fuß Höhe einen großen Stock. Es ist ein Pfosten, dem man ein Faß an den Hals gebunden. Dieses Faß ist der Briefkasten. Die Herren Engländer konnten es nicht unterlassen, ihr »Post-Office« darauf zu schreiben. In was mischen die sich nicht? Das ist die Oceanspost. Sie gehört nicht etwa dem Gentleman, dem König von England. Sie ist Gemeingut; sie gehört sämmtlichen Flaggen des Oceans. »Post-Office« ist das nicht fast chinesisch? Das ist ungefähr, als wenn der Teufel Euch urplötzlich eine Tasse Thee reichte.
– Wie aber wird es mit diesem Briefkasten gehalten?
– Nichts einfacher als das. Jedes vorüberfahrende Schiff expedirt sein Boot mit Depeschen. Die Schiffe, welche aus Amerika kommen, nehmen die Briefe mit, die für Europa bestimmt sind, und umgekehrt nehmen die Schiffe, welche aus Europa kommen, die Briefe für Amerika mit. Jedes ausgesendete Boot wird von einem Officier befehligt; dieser legt das Briefpacket seines Schiffes in die Tonne, und nimmt dafür das Packet, welches er darin vorfindet. Ich nehme Eure Briefe mit nach Amerika, Ihr nehmt dafür die meinigen mit nach Europa, und umgekehrt. Nichts ist einfacher als das. Die Tonne ist durch eine Kette an dem Pfosten befestigt; sie ist durch einen festen Deckel wohl verwahrt, der aber sonst weder Schloß noch Riegel hat. Ihr seht also, Capitän, daß auch das Meer seinen Briefkasten hat, und Ihr könnt Euch versichert halten, daß die Briefe ankommen, die Ihr an Eure überseeischen Freunde schreibt, und daß auch die Eurer Freunde richtig an Eure Adresse gelangen.
– Das ist sehr sonderbar, murmelte träumerisch Sieur Clubin.
Nach Beendigung dieser seiner anstrengenden Rede sprach Capitän Gertrais-Gaboureau von Neuem seinem Schoppen zu.
– Wenn es dem Schuft Zuela einfallen sollte, mich mit seinem Geschreibsel zu belästigen, so habe ich in einem Zeitraum von vier Monaten das Gekritzel dieses Lumpenhundes hier. – A propos, Capitän Clubin, reist Ihr Morgen?
Sieur Clubin hörte nichts; er befand sich in einer Art traumwachen Zustandes.
Capitain Gertrais-Gabonreau wiederholte seine Frage.
Clubin erwachte.
– Gewiß reise ich Morgen, Capitän. Es ist ja mein Tag; ich muß morgen reisen.
– Ich an Eurer Stelle reiste Morgen nicht. Schon seit zwei Nächten umflattern die Meervögel den Leuchtthurm. Das ist ein schlimmes Zeichen. Mein Sturmglas prophezeit auch nichts Gutes. Wir sind im zweiten Octant des Mondes; das ist das Maximum der Feuchtigkeit. Die Pimpinelle schließt die Blätter, die Regenwürmer kriechen aus der Erde, die Mücken stechen, die Bienen verlassen ihren Korb nicht, die Sperlinge stecken die Köpfe zusammen und halten Rath mit einander; man hört den Ton der fernen Glocken, ich hörte diesen Abend das »Angelus« von St. Lunaire. Die Sonne ist bleich untergegangen. Lauter böse Vorboten. Ich sage Euch, Capitain, bleibt Morgen ruhig an Bord. Wir haben einen furchtbaren Nebel zu erwarten. Nebel ist schlimmer als Sturm. Der Nebel ist ein heimtückischer Duckmäuser.