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Fünf Meilen von der Küste entfernt im Süden von Guernesey zwischen den Inseln des Canals und St. Malo liegt eine Gruppe von Klippen, unter dem Namen der Douvresfelsen bekannt. Diese Stelle ist sehr gefährlich.
Denselben Namen führen eine Menge Klippen und Brandungsplätze. Auf einem Douvresfelsen an der Nordküste wird gegenwärtig ein Leuchtthurm erbaut. Auch dieser Punkt ist unheilvoll, doch darf man ihn nicht mit den obenerwähnten Klippen verwechseln.
Das Cap Bréhant an der französischen Küste liegt den Douvresfelsen am nächsten. Die Douvresfelsen liegen ein wenig weiter von der Küste Frankreichs als von der ersten Insel des Archipels der Normandie. Eine große Diagonale, von Jersey aus gezogen, berührt fast jene Klippen. Wenn Jersey sich wie auf einer Thürangel nach Corbière hin herumdrehte, so würde die Landspitze St. Katharina beinahe auf die Douvresfelsen stoßen. Die Entfernung zwischen beiden Punkten beträgt etwa vier Meilen.
Selbst die wüstesten Felsen vielbefahrener Meere pflegen selten verlassen zu sein. Auf Hagot findet man Schmuggler, auf Binic Zollbeamte. Auf Cancale giebt es Austernzüchter, auf Césambre, der Insel Cäsars, Kaninchenjäger, Krabbensammler auf Brecqhou; Minquier und Ecrehou werden von Netzfischern und Anglern aufgesucht. Nur die Douvresfelsen sind menschenleer.
Die Seevögel haben dort ihr Reich.
Es giebt nichts Gefürchteteres. Die Helme, wo dem Glauben nach die »Blanche Nef« untergegangen ist, die Bank von Calvados, die Stacheln der Insel Wight, La Ronesse, welche die Küste von Beaulieu so sehr gefährdet, die Untiefe von Preel, welche die Einfahrt nach Merquel in einer Weise einengt, daß man dort zwanzig Klafter lange, roth gestrichene Baken vorlegen mußte, die gefährliche Strecke zwischen Etables und Plouha, die beiden »Druiden« im Süden von Guernesey, der alte und der kleine Anderlo, die Ratten-Insel, welche durch das Sprüchwort: »Wenn Du auch durch die Ratte kömmst ohne zu sterben, so zitterst Du wenigstens,« als Gegenstand des Schreckens bezeichnet wird, die todten Weiber, die Straße zwischen La Boue und la Frouquie, der Irrweg zwischen Guernesey und Jersey, das »böse Pferd« neben Boulay-Bay und Barneville sind weniger gefürchtet. Darum würde man lieber alle diese Orte befahren, als die Douvresklippen auch nur einmal berühren.
In dem ganzen gefährlichen Gewässer des Canals la Manche, dieses Archipels des Abendlandes, finden die Douvresfelsen nur ihres Gleichen an der furchtbaren Paternosterklippe zwischen Guernesey und Serk. Und doch kann man von letzterm Punkt aus wenigstens Signale geben, darf daher auf Hülfe in Gefahr hoffen. Nach Norden hin entdeckt man die Landzunge von Dicard oder Icare und im Süden die »Dicke Nase.« Von den Douvresfelsen aus steht das Auge nichts als Himmel und Wasser. Wasser, Windstöße, Regenwolken, Leere und Unbegrenztheit!
Nur ein Verschlagener nähert sich den Douvresklippen. Die Granitfelsen sind von einer gräßlich rohen Form, überall unzugänglich steil.
Und das Meer rings umher. Wasser von grundloser Tiefe. Eine so völlig verlorne Klippe, wie die der Douvres lockt und hegt Geschöpfe, welche nicht werth sind, in der Nähe menschlicher Wesen zu leben. Sie ist eine Art unterseeischer, unbegrenzter, riesiger Madrepore, ein ertrunkenes Labyrinth. In einer Tiefe, wohin die Taucher nur mit Mühe gelangen, finden sich unterirdische Höhlen, Löcher, Schlupfwinkel, verschlungene Gänge und düstre Gassen. Geschlechter von Ungeheuern erzeugen sich dort in üppigen Massen und verschlingen einander. Krabben fressen Fische und werden von diesen vertilgt. Erschreckende Gebilde, die nicht geschaffen sind, um von Menschenaugen angeschaut zu werden, treiben hier ihr Wesen. Eigenthümliche Formen von Rachen, Fühlfäden, Flossen, Schwimmblasen, aufgesperrten Kiefern, Fängen, Schuppen und Krebsscheeren schwimmen, zittern, wachsen oder zergehen und verschwinden in dem flüssigen, unheilbringenden Element. Grauenhafte Schwärme tummeln darin umher und gehen ihren Verrichtungen nach. Das Ganze ist ein riesiges Nest von Ungeheuern.
Das Abscheuliche ist dort das Ideal.
Man vergegenwärtige sich, wenn es möglich ist, ein ameisenartiges Gewimmel von Meernesseln und Quallen.
Einen Blick in das Innere des Oceans werfen, heißt die Phantasiewelt einer unbekannten Größe kennen lernen, das Reich der Schrecken betreten. Seine Abgründe gleichen der Nacht. Auch im Meere giebt es Schlaf, wenigstens einen scheinbaren Schlaf der Schöpfung. Dort vollziehen sich in vollkommener Sicherheit die Verbrechen von Creaturen, die keine Rechenschaft ablegen. Dort üben die schwächsten lebenden Gebilde, Phantome und doch ganze Teufel, wilde Werke der Finsterniß.
Vor vierzig Jahren bezeichneten zwei Felsen von sonderbarer Form den Vorüberfahrenden die Klippen der Douvres. Es waren zwei senkrecht emporragende Spitzen, die sich hoch oben krümmten und einander zuneigten. Man glaubte die Fangzähne eines ertrunkenen Elephanten aus dem Meere emporragen zu sehen, nur waren sie thurmhoch, als gehörten sie einem Thiere von der Größe eines Gebirgsarmes. Diese beiden von der Natur gebildeten Thürme der unbekannten, von Unthieren bewohnten Stadt, gestatteten nur einen schmalen Durchgang, in dem die Sturzwellen sich brachen. Er war winklig und krumm, wie eine zwischen zwei Mauern eingeengte Straße. Man nannte diese Zwillingsfelsen die beiden Douvres, den kleinen und den großen. Der eine war sechszig, der andere vierzig Fuß hoch. Das An- und Abprallen der Wogen hat dem Fundament dieser Thürme Zähne wie die einer Säge eingeprägt. Der heftige Aequinoctialsturm des 26. Octobers 1859 stürzte den einen. Der kleinere steht noch heute verstümmelt und verwittert an seinem Platz.
Am eigenthümlichsten gestaltet tritt aus der Douvresgruppe ein Fels unter dem Namen »der Mann« hervor. Auch er steht noch. Im vorigen Jahrhundert fanden Fischer, welche nach diesen Klippen verschlagen wurden, auf jenem Felsen den Leichnam eines Mannes und eine Menge leerer Muscheln neben ihm. Er mußte sich als Schiffbrüchiger dorthin gerettet haben und nährte sich kurze Zeit von dem Inhalt der Schaalen, bis er starb. Diese Begebenheit gab dem Fels den Namen »der Mann.«
Die Einsamkeit des Meeres ist schaurig. Aufruhr und Schweigen herrschen in ihm. Was innerhalb seines Bereichs geschieht, steht in keiner Beziehung zu dem Menschengeschlecht.
Das sind die schauerlichen Douvresfelsen. So weit das Auge reicht, entdeckt es nichts, als eine endlose, arbeitende, gepeinigte Wassermasse.
Am Freitag früh, dem Tage nach der Abfahrt des Tamaulipas, ging die Durande nach Guernesey ab.
Um neun Uhr verließ sie St. Malo.
Das Wetter war klar, ohne Nebel. Der alte Capitän Gertrais-Gaboureau schien nicht richtig prophezeit zu haben.
Sieur Clubins wichtige Nebengeschäfte ließen ihn sein Amt augenscheinlich ein wenig versäumen. Er hatte erst einige Ballen aus Paris mit allerhand Dingen für Galanterieläden in St. Pierre geladen, sowie drei Kisten für das Krankenhaus auf Guernesey, von denen die eine gelbe Seife, die andere gezogene Lichte und die dritte französisches Sohlen- und feines Corduanleder enthielt. Von seiner letzten Fahrt nahm er einen Kasten voll gemahlenen Zuckers und drei Kisten Conjou-Thee mit zurück, Gegenstände, deren Einfuhr das französische Zollamt nicht gestatten wollte. Sieur Clubin hatte außer einigen Ochsen kein Vieh eingeschifft. Jene Thiere standen ziemlich nachlässig eingesperrt im untern Schiffsraum.
Sechs Passagiere waren an Bord: ein Guerneseyer, zwei Viehhändler aus Malouins, ein »Tourist«, wie man schon damals sagte, ein Pariser Halbbürger, wahrscheinlich Handelsreisender und ein Amerikaner, der Bibeln verbreitete und austheilte.
Die Mannschaft der Durande zählte, Clubin nicht mitgerechnet, sieben Personen: einen Steuermann, zwei Maschinenheizer, den Zimmermann und Kohlenbrenner – beide versahen zugleich Matrosendienste – einen Koch, einen Bootsmann und den Schiffsjungen. Einer der Heizer war zugleich Mechanikus und seiner Abstammung nach ein Neger, der einst aus den Zuckersiedereien in Surinam entwischte und Holländer wurde, ein sehr ehrenwerther, höchst gescheidter Mann, Namens Imbrancam. Er verstand sich vortrefflich auf die Maschine und versah sie auf's Beste. Seine ganz schwarze Erscheinung im Maschinenraum trug in der ersten Zeit nicht wenig dazu bei, der Durande ein teuflisches Ansehen zu geben.
Der Steuermann, aus Jersey gebürtig, und seinem Ursprung nach ein Cotentin, hieß Tangrouille. Tangrouille gehörte zum hohen Adel.
Dies ist buchstäblich wahr. Auf den Inseln des Canals wie in England herrscht Hierarchie. Es giebt dort noch Kasten. Kasten haben ihre Ideen, durch welche sie sich behaupten. Diese Ideen sind überall dieselben, in Indien wie in Deutschland. Der Adel wird mit dem Degen erworben und durch die Arbeit ausgetilgt. Nur im Müßiggang erhält er sich. Nichtsthun heißt erhaben leben; wer nicht arbeitet, wird geehrt. Ein Handwerk treiben ist erniedrigend. In Frankreich bildeten die Glasfabrikanten früher eine Ausnahme von der Regel. Flaschenleeren war gewissermaßen der Ruhm eines Edelmannes und Flaschenmachen entehrte ihn keinesweges. Wenn Jemand in der Grande-Bretagne und auf den Inseln des Canals adlig sein will, muß er Reichthum besitzen. Ein Arbeiter kann kein Herr sein. Ein Matrose ist nur Matrose, selbst wenn er von einem Bannerritter abstammt. Vor dreißig Jahren sammelte in Aurigny ein Gorges, der rechtmäßige Ansprüche auf die von Philipp August eingezogene Herrschaft Gorges gehabt hatte, mit nackten Füßen im Wasser stehend, Meergras. Ein Carteret ist Kärrner in Serk. In Jersey und Guernesey leben zwei Männer Namens Gruchy, der erste ist Tuchweber, letzterer Schuhmacher und beide erklären sich für Grouchy's, Vettern des Marschalls von Waterloo. Die alten Pfründenregister des Bisthums von Coutances erwähnen einer Lehnsherrschaft Tangroville, welche jedenfalls mit der von Tancarville an der Basse-Seine zusammenhängt. Letztere ist als Montmorency bekannt. Im fünfzehnten Jahrhundert trug Johann von Héroudeville, der Bogenschütz des Sire von Tangroville, diesem »seine Panzer und die übrige Rüstung« an und 1371 versah ein Herr von Tangroville bei dem Proberitt Bertrand du Guesclin's den Dienst eines »Edelknappen«. Auf den normännischen Inseln entledigen die Leute sich ihres Adels sehr bald, wenn das Elend ihnen über den Kopf wächst. Eine Veränderung ihres Namens genügt, um sie davon zu befreien. Aus Tangroville entstand Tangrouille. So verhielt es sich mit dem Namen des Steuermanns der Durande.
Tangrouille, dieser wahrscheinliche Tancarville und mögliche Montmorency, besaß eine altadlige Eigenschaft, die ihm, als einem Steuermann, zum großen Fehler gereichte: er trank.
Es war Sieur Clubin's beständige Aufgabe, ihn zu bewachen. Er hatte sich Mess Lethierry gegenüber hierzu verpflichtet.
Der Steuermann Tangrouille verließ das Schiff nie und schlief sogar am Bord.
Als Sieur Clubin am Abend vor der Abreise zu später Stunde einen Besuch auf dem Fahrzeug machte, lag Tangrouille in seiner Hängematte und schlief. In der Nacht erwachte er, seiner Gewohnheit gemäß. Jeder, seiner Freiheit beraubte Trunkenbold hat seinen Versteck. Auch Tangrouille besaß einen solchen und nannte ihn seine Proviantkammer. Dieser geheime Ort befand sich in dem Schiffsraum, wo das Wasser aufbewahrt wird. Er hatte ihn dorthin verlegt, um keinen Verdacht zu erregen und glaubte, Niemand außer ihm kenne diesen Versteck. Der Capitän Clubin, ein mäßiger Mann, war strenge. Die wenigen Tropfen Rum und Gin, welche der Steuermann dem wachsamen, hinterlistigen Wächter zu entwenden vermochte, verbarg er in einer Senkkufe, die ihren Platz in dem geheimnißvollen Winkel des Schiffsraumes mit den Wasserbehältern hatte, und fast alle Nacht stattete er diesem Versteck einen zärtlichen Besuch ab. Die Ueberwachung war strenge; für gewöhnlich beschränkten sich die nächtlichen Ausschweifungen Tangrouille's auf zwei oder drei eilig hinuntergestürzte Schluck Rum. Zuweilen hatte er nicht den kleinsten Vorrath in seiner Proviantkammer. Heute Nacht fand er darin unverhofft eine Flasche Branntwein. Seine Freude war groß, noch größer sein Erstaunen. Aus welchem Himmel war diese Flasche gefallen? Er konnte sich nicht erinnern, wann und auf welche Weise er sie auf das Fahrzeug geschafft hatte, doch leerte er sie unverzüglich. Die Klugheit trieb ihn gewissermaßen dazu, indem er fürchtete, man könne den Branntwein entdecken und sich desselben bemächtigen. Die Flasche warf er in die See. Als Tangrouille am nächsten Morgen die Ruderpinne ergriff, verspürte er eine Art Schwindel, regierte aber trotzdem das Steuer fest, wie gewöhnlich.
Clubin war an jenem Abend, wie schon gesagt, nach Jean's Wirthshaus gegangen, um darin zu schlafen. Er trug unter seinem Hemde Tag und Nacht einen ledernen Reisegurt, worin er diesmal zwanzig Guineen aufbewahrte. Auf die innere rauhe Seite dieses Ledergürtels hatte er mit zäher unvertilgbarer Druckerschwärze seinen Namen »Sieur Clubin« geschrieben. Als er am Morgen seiner Abreise aufstand, steckte er die eiserne Dose mit den sechszigtausend Francs in Banknoten in den Gurt und schnallte diesen, seiner Gewohnheit gemäß, um den Leib.
Die Abfahrt ging heiter von Statten. Sobald die Reisenden ihre Felleisen und Mantelsäcke unter oder auf den Bänken in Sicherheit gebracht hatten, unterwarfen sie das Fahrzeug jener Prüfung, von der man glauben sollte, sie sei einem Jeden zur Bedingung gemacht, so allgemein und eifrig ward sie angestellt. Der Tourist und auch der Pariser hatten bisher noch kein Dampfschiff gesehen. Als das Rad sich zu drehen begann, bewunderten sie den Schaum, später den Rauch. Hierauf untersuchten sie auf dem Deck und im Zwischenraum mit haarscharfer Gründlichkeit alle Schiffsbestandtheile: die Ringe, Klammern, Haken und Bolzen, die so sauber und zierlich gearbeitet sind, daß sie den Eindruck kolossaler Schmuckgegenstände machen; es sind in der That eiserne Geschmeide, die das Unwetter mit goldenem Rost überzogen hat. Sie betrachteten von allen Seiten die Lärmkanone, welche angeschlossen auf dem Verdeck lag; »wie ein Hund an der Kette,« bemerkte der Tourist, und »mit einer Blouse von getheerter Leinwand bekleidet, um sich vor Erkältung zu schützen,« fügte der Pariser hinzu. Als man sich mehr und mehr von der Küste entfernte, wichen den gewöhnlichen Bemerkungen Betrachtungen über die Ansicht von St. Malo. Ein Reisender äußerte, die Entfernungen zur See seien trügerisch und eine Meile vom Lande gesehen, gliche Dunkerque auf's Täuschendste Ostende. Er vervollständigte das, was er über letztgenannten Ort zu sagen hatte, durch die Mittheilung, daß die beiden dortigen Wachtthürme rothgestrichen seien und die Namen Ruytingen und Mardyk führten.
St. Malo rückte dem Auge immer ferner und endlich war es ganz verschwunden.
Die See war ruhig. Das Kielwasser bildete hinter dem Schiff eine lange mit Schaum bekränzte Gasse, die fast ohne Windungen hinlief, so weit der Blick reichte.
Guernesey wird von einer graden Linie durchschnitten, die man sich von St. Malo in Frankreich nach Exeter in England gezogen denkt. Eine solche Linie kann man auf dem Meere nicht ziehen. Dennoch können Dampfschiffe bis zu einem gewissen Grade eine bestimmte, gerade Richtung innehalten, was Segelschiffe nicht vermögen.
Das Meer ist in Gemeinschaft mit dem Wind eine Verunreinigung von Kräften, das Schiff eine Zusammensetzung von Maschinen. Naturkräfte sind Maschinen von unbegrenzter Macht, die Kraft der gewöhnlichen Maschine ist beschränkt. Durch Verbindung dieser beiden Organismen, von denen der eine unerschöpflich, der andere beschränkt ist, bildet sich der Kampf, den man die Schifffahrt nennt. Die Willenskraft in letzterem Organismus hält dem Unendlichen das Gegengewicht. Auch das Unendliche hat seinen Mechanismus. Die Elemente kennen ihre Bestimmung. Keine Naturkraft ist blind. Der Mensch soll ihre Kräfte erforschen und ihre Bestimmung entdecken.
Während man bemüht ist, die Naturgesetze zu ergründen, besteht jener Kampf fort und in ihm bildet die Dampfschifffahrt eine Art siegender Herrschaft, die der menschliche Geist stündlich über alle Meerestheile ausübt. Das Bewundernswerthe an ihr ist die Zucht, in der sie das Fahrzeug hält. Sie gehorcht den Winden weniger als den Menschen.
Niemals hatte die Durande besser gearbeitet, als heute.
Gegen elf Uhr befand sie sich mit Hülfe einer frischen Nord-West-Brise den Minquiers gegenüber und trieb, wenig Rauch gebend, die Steuerbordhalsen zugesetzt, dem Wind fast entgegen nach Westen. Das Wetter war noch immer hell und schön. Nach und nach, als dächte Jeder nur daran, den Hafen wieder zu erreichen, verschwanden die Fahrzeuge von der See.
Man konnte nicht behaupten, daß die Durande genau ihren gewohnten Strich fuhr. Die Mannschaft wurde zwar durch nichts von ihrem Dienst abgezogen, und das Vertrauen zum Capitän war ein unbedingtes. Vielleicht durch die Schuld des Steuermannes fand eine kleine Abweichung von dem gewöhnlichen Wege statt. Die Durande schien eher die Richtung nach Jersey zu verfolgen, als nach Guernesey zu steuern. Bald nach elf Uhr verbesserte der Capitän den Fehler und das Schiff ging geradesweges auf das Cap von Guernesey zu. Man hatte nicht viel Zeit verloren. Er war ein schöner Februarsonnenschein.
Tangrouille befand sich in seinem gegenwärtigen Zustand weder auf sehr festen Füßen, noch vermochte er seinen Arm tüchtig zu gebrauchen. Es war also natürlich, daß er bald nach links, bald nach rechts steuerte, wodurch die Fahrt verzögert ward.
Der Wind hatte sich fast ganz gelegt.
Der Reisende aus Guernesey, welcher ein Fernrohr in der Hand hielt, richtete dasselbe von Zeit zu Zeit auf eine kleine Flocke grauen Schaumes, die der Wind westlich am äußersten Horizont langsam hin und her trieb. Sie glich einem Häufchen staubiger Watte.
Capitän Clubin zeigte wie gewöhnlich seine strenge, puritanische Miene. Er schien seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Am Bord der Durande war alles heiter; die Passagiere plauderten. Wer bei einer Seefahrt die Augen schließt, kann die Beschaffenheit des Meeres aus der Unterhaltung der Reisenden errathen. Die volle Geistesfreiheit entspricht der vollkommenen Ruhe der See.
Es ist zum Beispiel unmöglich, daß eine Unterhaltung wie folgende stattfinden kann, wenn nicht Windstille herrscht:
– Mein Herr, sehen Sie dort jene niedliche grün und rothe Fliege?
– Sie hat sich auf's Meer verirrt und ruht auf dem Schiffe aus.
Eine Fliege ermüdet nur wenig.
Gewiß; sie ist so leicht.
Mein Herr, man hat einmal eine Unze Fliegen gewogen und gezählt und fand ihrer sechstausend zweihundert achtundsechszig.
Der Guerneseyer mit dem Fernrohr hatte die Viehhändler aus Malouins angeredet und führte mit ihnen etwa folgende Unterhaltung:
– Der Aubracer Ochse hat einen runden untersetzten Rumpf, kurze Beine und eine falbe Haut. Wegen seiner kurzen Beine ist er etwas langsam bei der Arbeit.
– In diesem Punkt steht's mit dem Salers-Ochsen besser als mit dem Aubracer.
– Mein Herr, ich habe in meinem Leben zwei schöne Ochsen gesehen. Der erste hatte niedrige Beine, einen dicken Vorderleib, ein volles Schwanzstück, breite Hacken, eine tüchtige Kreuz- und Nackenlänge, kräftige Bewegungen und ein losesitzendes Fell. Der zweite besaß alle Eigenschaften eines tüchtigen Mastochsen: untersetzten Rumpf, starken Hals, leichte Beine, Senkrücken, roth und weißes Fell.
– Dies ist die Contentiner Race.
– Ja, doch ist eine gewisse Aehnlichkeit mit den Stieren von Angus und Suffo vorhanden.
Mein Herr, wollen Sie mir glauben, daß es im Süden Concurrenz-Esel giebt?
Esel?
Esel! Wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.
Man schenkt den häßlichen den Vorzug.
So macht man es auch mit den Mauleselinnen. Die häßlichsten sind die besten.
Richtig! Wie bei den Stuten von Poitevin. Dicken Bauch, dicke Beine.
Die beste Mauleselin ist wie eine dicke, von vier Stützen getragene Wulst.
Bei den Menschen verhält sich's mit der Schönheit anders als bei den Thieren.
Namentlich bei Frauen.
– Das ist wahr.
– Ich verlange von einer Frau, daß sie niedlich ist.
– Und ich sehe auf einen hübschen Anzug.
– Ja; zierlich, sauber und geputzt wie eine Puppe muß sie sein.
– Und immer frisch aussehen. Ein junges Mädchen sollte stets den Eindruck machen, als wäre es aus dem Ei geschält.
– Um wieder auf meine beiden Ochsen zurückzukommen, muß ich Ihnen sagen, daß ich mit ansah, wie man sie auf dem Markt in Thouars verkaufte.
– Ich kenne den Markt. Die Banneau's und Babu's aus La Rochelle und die Getreidehändler von Marans – ich weiß nicht, ob Sie von ihnen gehört haben – besuchen ihn.
Der Tourist und der Pariser plauderten mit dem Bibel-Amerikaner. Auch jene Unterhaltung zeugte davon, daß schönes Wetter war.
Mein Herr, sagte der Tourist, mit der schwimmenden Tonnenzahl verhält sich's folgendermaßen: Frankreich hat 716,000 Tonnen, Deutschland eine Million, das vereinigte Amerika fünf Millionen, England fünf Millionen fünf tausend. Rechnen wir noch die Fracht der übrigen kleinen Fahrzeuge hinzu, so erhalten wir die Gesammtsumme von zwölf Millionen neun hundert und vier tausend Tonnen, welche auf hundert fünfundvierzig tausend Fahrzeuge vertheilt, auf dem Gewässer des Erdballs umhertreiben.
Der Amerikaner unterbrach ihn.
– Mein Herr, die vereinigten Staaten allein haben fünf Millionen fünftausend Schiffe.
– Zugegeben, sagte der Tourist. Sie sind Amerikaner?
– Ja, mein Herr.
– Ich pflichte Ihnen noch einmal bei.
Es entstand eine Pause. Der amerikanische Missionar fragte sich, ob es wohl zweckmäßig sei, Bibeln anzubieten.
– Mein Herr, ergriff der Tourist das Wort, ist es wahr, daß die Amerikaner eine große Vorliebe für Spitznamen haben, um selbst ihre berühmten Männer dadurch lächerlich zu machen? Nennen Sie Ihren großen Banquier Thomas Benton in Missouri wirklich »die alte Metallbarre«?
– Gewiß, und Zacharias Taylor »den alten Zach«.
– Und General Harrison den »alten Tip«, nicht wahr? oder General Jackson den »alten Hickory«?
– Und zwar, weil Jackson hart wie das Holz des Hickorybaums ist, während Harrison die Rothhäute bei Tippecanon geschlagen hat.
– Sie folgen dabei einem byzantischen Gebrauch.
– Es ist unser eigener. Wir nennen Van Buren den »kleinen Hexenmeister«, Seward, der kleine Einschnitte in die Bankzettel machen ließ, »den kleinen »Bankzettel«, und Douglas, der demokratische Senator von Illinois, welcher vier Fuß hoch ist und große Beredsamkeit besitzt, heißt bei uns der »kleine Riese«. Sie können von Texas nach Maine wandern, ohne einem Menschen zu begegnen, der die Namen Caß und Clay ausspricht. Statt des ersteren sagt man der »große Michiganer« und letzterer heißt stets der »Müllerjunge mit der Schnarre«. Clay ist nämlich der Sohn eines Müllers.
– Ich würde der Kürze wegen Clay und Caß vorziehen, erwiederte der Pariser.
– Das wäre ein Verstoß gegen die allgemeine Sitte. Wir nennen Corvin, den Sekretär der Schatzkammer den »Karrenburschen« und Daniel Webster heißt der »schwarze Dan«. Was Winfield Scott betrifft, so hat er den Spitznamen »Schnell-einen-Teller-Suppe«, weil, nachdem er die Engländer bei Chippeway geschlagen hatte, sein erster Gedanke der war, sich zum Essen zu setzen.
Die in der Ferne sichtbare Schaumflocke war gewachsen. Sie nahm jetzt am Horizont etwa eine Ausdehnung von fünfzehn Graden ein. Es war, als ob in Folge einer Windstille ein Gewölk über dem Wasser stände. Kaum ein Lüftchen regte sich. Das Meer war noch unbewegt. Obgleich die Sonne im Mittag stand, schien sie zu ermatten. Sie schien zwar noch, wärmte aber nicht mehr.
– Ich glaube, das Wetter ändert sich, sagte der Tourist.
– Vielleicht bekommen wir Regen, fügte der Pariser hinzu.
– Oder Nebel, meinte der Amerikaner.
– Mein Herr, nahm der Tourist das Wort, zu Molfetta in Italien regnet es weniger und in Tolmezzo mehr als sonst irgendwo.
Um die Mittagszeit läutete, nach der Sitte des Archipels, die Mittagsglocke. Wer Lust hatte, konnte essen. Einige Reisende hatten bei sich, was sie brauchten und speisten heiter auf dem Verdeck. Clubin aß nie zu Mittag.
Auch während des Speisens ging die Unterhaltung ihren Gang.
Der Guerneseyer, welcher die Bibeln witterte, hatte sich wieder dem Amerikaner genähert und dieser fragte ihn:
– Sie kennen dies Meer?
– Gewiß, ich bin ja hier zu Hause.
– Ich auch, sagte der Reisende von Malouins.
Der Guerneseyer machte eine zustimmende Verbeugung und fügte hinzu: Wir find jetzt den Minquiers gegenüber; aber ich wünsche mir keinen Nebel, ehe sie uns zur Seite liegen.
– Die Inselbewohner sind besser mit dem Meer vertraut, als die Küstenbewohner, sagte der Amerikaner zu dem Malouinesen.
– Freilich, wir Küstenbewohner haben nur das halbe Bord.
– Was versteht man unter den Minquiers? fragte der Amerikaner.
– Sehr böse Kieselsteine, erwiederte der Malouinese.
– Wir haben auch solche, die Grelets heißen, fügte der Guerneseyer hinzu.
– Verdammt! rief der Andere.
– Und die Chouas, sagte der Guerneseyer.
Der Malouinese lachte.
– Die Sauvages gehören auch dahin.
– Und die Moines – bemerkte der Guerneseyer.
– Auch der Canard, rief der Andere.
– Mein Herr, sagte der Guerneseyer, Sie wissen auf Alles zu antworten.
– Malouin – malin, erwiederte der Malouinese, mit den Augen blinzelnd.
Der Tourist unterbrach die Beiden.
– Müssen wir durch diese Felsgruppen schiffen?
– Bewahre! wir haben sie bereits südöstlich liegen lassen.
Der Guerneseyer fuhr fort:
– Große und kleine Felsen mitgerechnet, zählen die Grelets siebenundfünfzig Spitzen.
– Und die Minquiers achtundvierzig, sagte der Malouinese.
Jetzt nahm die Unterhaltung zwischen den beiden Männern einen bestimmteren Charakter an.
– Wie es scheint, mein Herr, von St. Malo, vergessen Sie drei Felsen mitzurechnen.
– Ich zähle jeden mit.
– Die Dérée von der Maître-Insel?
– Ja.
– Und die Maisons?
– Sieben Felsen inmitten der Minquiers.
– Sie kennen die Steine, wie ich sehe.
– Wenn ich sie nicht kennte, müßte ich nicht in St. Malo wohnen.
– Es ist ergötzlich, die Beweisgründe der Franzosen zu hören.
Der Malouinese verbeugte sich und sagte:
– Die Sauvages sind drei Felsen.
– Und die Moines zwei.
– Der Canard ist ein einziger.
– Ja, er steht allein.
– Nein, denn die Suarde besteht aus vier Felsen.
– Was nennen Sie die Suarde? fragte der Guerneseyer.
– Die Felsen, welche bei Ihnen die Chouas heißen.
– Zwischen den Chouas und dem Canard ist nicht gut durchzuschiffen.
– Nur die Vögel können es.
– Und die Fische.
– Nicht leicht. Bei Unwetter stoßen sie sich an dem Seitengestein.
– Die Minquiers haben Sandgrund.
– Auch die Maisons.
– Dies sind acht Felsen, die man von Jersey aus sehen kann.
– Richtig, vom Sandufer d'Azette. Doch sind es sieben, nicht acht.
– Zur Ebbezeit kann man zwischen den Minquiers spazieren gehen.
– Ohne Zweifel; es giebt dort trockene Stellen.
– Und die Dirouilles?
– Haben nichts mit den Minquiers zu schaffen.
– Ich will nur sagen, daß sie gefährlich sind.
– Das heißt in der Richtung der Küste von Granville.
– Man sieht, daß ihr Leute von St. Malo ebenso, wie wir, es liebet, in diesen Gewässern umherzufahren.
– Ja, nur mit dem Unterschied, daß wir sagen: »wir haben die Gewohnheit,« während Ihr sagt: »wir lieben es,« erwiederte der Malouinese.
– Ihr seid gute Schiffer.
– Ich bin Ochsenhändler.
– Wer stammt doch gleich aus St. Malo?
– Surcouf.
– Noch ein Anderer?
– Duguay-Trouin.
Hier mischte sich der Pariser in die Unterhaltung.
– Duguay-Trouin? Er wurde von den Engländern gefangen genommen und war ebenso liebenswürdig als tapfer. Eine Engländerin, deren Herz er gewonnen, befreite ihn aus seiner Haft.
In diesem Augenblick schrie eine Donnerstimme:
Alle Reisenden wandten sich um.
Es war der Capitän Clubin, der jene Worte an den Steuermann richtete.
Sieur Clubin duzte sonst keinen. Daß er dies Fürwort auf den Steuermann Tangrouille anwandte, ließ erkennen, daß er sehr zornig war oder sich den Anschein geben wollte, es zu sein.
Ein Zornausbruch vermindert die Verantwortlichkeit dessen, der ihn sich zu Schulden kommen läßt, und hebt dieselbe zuweilen sogar auf. Der Capitän stand auf seinem Commandoplatz zwischen den beiden Laufrädern und sah den Steuermann fest an. Trunkenbold! wiederholte er zwischen den Zähnen.
Der ehrliche Tangrouille senkte den Kopf.
Der Nebel war mehr und mehr gestiegen und nahm jetzt fast die Hälfte des Horizonts ein. Er griff nach allen Richtungen um sich. Ein solcher Nebel gleicht einem Oeltropfen. – Unfühlbar dehnte er sich aus. Der Wind trieb ihn geräuschlos und langsam vorwärts. Nach und nach nahm er von der ganzen Meeresfläche Besitz. Er kam aus Nordwesten und das Fahrzeug eilte ihm entgegen. Man hätte ihn mit einem steilen Uferabhang vergleichen können. Wie eine Mauer durchschnitt er das Meer. An einer bestimmten Stelle schien das Wasser in diese Nebelwand zu dringen und darin zu verschwinden.
Jener Punkt war ungefähr eine halbe Meile weit von dem Schiff entfernt. Es gab eine Möglichkeit, dem Nebel zu entkommen. Das Drehen des Windes war Bedingung, doch mußte es unverzüglich geschehen. Der halbmeilenweite Zwischenraum füllte sich und nahm zusehends ab. Der Nebel eilte vorwärts und die Durande ebenfalls. Beide kamen einander entgegen.
Clubin befahl den Dampf zu verstärken und westlich zu steuern. Auf diese Weise schiffte man einige Zeit längs der Nebelwand hin, doch diese näherte sich mehr und mehr. Bis jetzt fuhr der Dampfer jedoch noch im Sonnenlicht dahin.
Ueber diesem Ausweichen, das schwerlich Stich halten konnte, verstrich die Zeit. Im Februar bricht der Abend schnell herein.
Der Guerneseyer beobachtete die bewegliche Mauer und sagte dann zu dem Malouinesen:
– Ein tüchtiger Nebel!
– Auf der See ein widerwärtiges Ding, erwiederte einer der Malouinesen und der erste fügte hinzu:
– Das die Ueberfahrt hindert.
Der Guerneseyer näherte sich Clubin.
– Capitän Clubin, ich fürchte, wir gerathen in den Nebel.
Clubin antwortete:
– Ich wollte in St. Malo bleiben, aber man rieth mir, in die See zu gehen.
– Wer rieth es?
– Die Alten.
– Natürlich war es recht, daß Sie ausreisten. Wer kann wissen, ob morgen kein Sturm ist? In dieser Jahreszeit muß man auf jede Witterung gefaßt sein.
Nach einigen Minuten tauchte die Durande in die Nebelbank.
Es war ein seltsamer Augenblick. Die auf dem Hinterdeck befindlichen Personen sahen die auf dem Vordertheil plötzlich verschwinden. Eine weiche, graue Scheidewand theilte das Schiff in zwei Hälften und alsbald war das ganze Fahrzeug in Nebel gehüllt. Die Sonne schien nur noch eine Art großen Mondes zu sein.
Jeder fühlte plötzlich Frostschauern. Die Reisenden warfen ihre Ueberzieher, die Matrosen ihre Jacken von Ochsenhaut über die Schultern. Das vollständig unbewegliche Meer lag in drohend kalter Ruhe da. Alles war bleich und grau. Die schwarzen Schornsteine und der Rauch kämpften gegen die Bleifarbe, welche das Schiff einhüllte.
Von jetzt an war es nutzlos, östlich zu steuern. Der Capitän schlug die Richtung nach Guernesey ein und verstärkte den Dampf.
Der Reisende aus jenem Orte hörte, als er um den Maschinenraum streifte, eine Unterredung zwischen dem Neger Imbrancam und seinem Cameraden, dem Heizer. Ersterer sagte:
Heute Vormittag bei Sonnenschein fuhren wir langsam und jetzt im Nebel schnell.
Der Guerneseyer begab sich zu Sieur Clubin.
– Capitän Clubin, es steht zwar nichts zu befürchten, geben wir aber nicht zu vielen Dampf?
– Was soll man machen, mein Herr? Die Zeit, welche jener Trunkenbold von Steuermann versäumt hat, muß wieder eingebracht werden.
– Freilich Capitän Clubin.
Ich beeile mich, nach Guernesey zu gelangen. Wir haben so viel Nebel, daß es bis dahin finster wird.
Der Guerneseyer suchte die Malouinesen auf und sagte zu ihnen:
– Wir haben einen ausgezeichneten Capitän.
Von Zeit zu Zeit trieben plötzliche, dicke Nebelwellen heran – Ballen gekämmter Wolle ähnlich – und verbargen die Sonne. Krankhaft aussehend und noch bleicher als vorher, kam sie dann und wann wieder zum Vorschein. Vom Himmel sah man nur noch zuweilen Streifen, die einer schmutzigen und ölfleckigen Theaterdecoration anzugehören schienen.
Die Durande gelangte in die Nähe eines Kutters, der aus Vorsicht Anker geworfen hatte. Es war der »Shealtiel« aus Guernesey. Der Capitän dieses Fahrzeuges bemerkte die schnelle Fahrt der Durande. Auch dünkte es ihm, daß diese nicht die gewöhnliche Richtung verfolgte. Sie schien zu weit westlich zu gehen. Dies mit voller Dampfkraft treibende Schiff setzte ihn in Erstaunen.
Gegen zwei Uhr war der Nebel so dicht geworden, daß Capitän Clubin sich gezwungen sah, seinen Stand zu verlassen und sich dem Steuermann zu nähern. Die Sonne schien gar nicht mehr. Auf der Durande herrschte eine Art blasser Finsterniß. Man schiffte in flüssiger Bleifarbe und sah weder Himmel noch Meer. Der Wind hatte sich völlig gelegt. Die an einem Ring unter dem Wetterdach der Laufräder hängende Flasche mit Terpentinöl zeigte nicht die leiseste Schwingung.
Die Reisenden waren verstummt.
Der Pariser trillerte ein Lied von Béranger vor sich hin: »An einem Tag erwachte Gott.«
– Der Herr kommt wohl aus Paris? fragte ihn einer der Malouinesen.
– Ja, mein Herr.
– Was treibt man in Paris?
– In Paris, mein Herr, geht alles verkehrt.
– Es ist also auf dem Lande nicht anders als auf dem Meer.
Wir haben allerdings einen bösen Nebel.
– Woraus Unglück entstehen kann.
Der Pariser rief:
– Aber weshalb denn Unglück! Wozu dient das Unglück? Was nützt es? Warum brannte das Odeum nieder? Weshalb giebt es Familien, die auf Stroh liegen? Ist das Gerechtigkeit? Ich kenne Ihre Religion nicht, mein Herr, aber ich selber fühle mich durch die meinige nicht befriedigt.
– Ich ebensowenig, entgegnete der Malouinese.
– Alles was auf Erden vorgeht, macht den Eindruck der Verkehrtheit. Der gute Gott ist, wie mir scheint, nicht an seinem Platz.
Der Malouinese kratzte sich den Kopf, als suche er über die Sache klar zu werden.
– Der gute Gott ist verreist. Man müßte ihn durch irgend einen Beschluß zum Daheimbleiben zwingen. Er lebt in seinem Landhaus und kümmert sich nicht um uns. Daher geht alles verkehrt. Es liegt auf der Hand, mein werther Herr, daß der gute Gott nicht mehr das Regiment führt. Er macht eine Ferienreise und sein Stellvertreter, irgend ein Engeleleve, ein Cretin mit Sperlingsflügeln, versieht seine Geschäfte.
Capitän Clubin näherte sich den beiden Sprechern und legte seine Hand auf die Schulter des Parisers.
– Stille! sagte er. Ueberlegen Sie ihre Worte, mein Herr. Wir sind auf der See.
Alles schwieg.
Nach fünf Minuten flüsterte der Guerneseyer, welcher jedes Wort mit angehört hatte, dem Malouinesen in's Ohr:
– Ein frommer Capitän!
Es regnete nicht und doch war alles durchnäßt. Man merkte nur an der zunehmenden Unbehaglichkeit, daß die Zeit verstrich und die Reise fortdauerte. Alles schien in Schwermuth zu verfallen. Der Nebel bewirkt tiefe Ruhe auf dem Ocean; er schläfert die Wellen ein und erstickt den Wind. Das Geräusch des Dampfers hatte in der lautlosen, ringsumher herrschenden Stille etwas Klägliches, Beängstigendes.
Einem Fahrzeug begegnete man nicht mehr. Selbst wenn an den fernen Küsten von St. Malo oder Guernesey Schiffe außerhalb des Nebels auf der See gewesen wären, hätten sie die Durande nicht entdecken können und der lange Schweif von Rauch würde ihnen, da er keinen Zusammenhang mit einem sichtbaren Körper hatte, den Eindruck eines schwarzen Kometen an einem blassen Himmel gemacht haben.
Plötzlich schrie Clubin:
– Hund, Du steuerst falsch! Wir werden Haferei machen! Du verdienst in Ketten gelegt zu werden. Fort mit Dir!
Mit diesen Worten ergriff er die Ruderpinne.
Der gedemüthigte Steuermann flüchtete sich unter das Takelwerk des Vorderdeckes.
– Wir sind gerettet, sagte der Guerneseyer.
Das Schiff ging mit reißender Schnelligkeit vorwärts.
Nach drei Stunden hob sich die untere Nebelschicht und man sah wieder Meer.
– Dies gefällt mir nicht, sagte der Guerneseyer.
Der Nebel kann in der That nur durch die Sonne oder den Wind geschlichtet werden. Der erste Fall ist der glücklichere. – Aber für die Sonne war es zu spät. Im Februar um drei Uhr Nachmittags ist ihre Kraft schwach und zu dieser Tageszeit wünscht man nicht das Sichwiedereinstellen des Windes, weil er oft den Orkan ankündigt. Wehte übrigens ein Lüftchen, so konnte man es jedenfalls kaum spüren.
Clubin hielt das Steuerruder und murmelte, das Auge auf den Compaß gerichtet, allerhand Worte, von denen folgende das Ohr der Reisenden erreichten:
– Es ist keine Zeit zu verlieren. Dieser Trunkenbold hat die Reise verzögert.
Seine Züge waren jedoch vollkommen ausdruckslos.
Das Meer lag nicht länger unter dem Nebel in tiefem Schlaf. Hin und wieder spielte eine Welle. Auf ruhigen Stellen schwammen glänzende, glatte Lichtflecken. Sie pflegen den Schiffern Besorgniß zu erregen, denn sie beweisen, daß der Wind von oben her Oeffnungen in die Nebeldecke gearbeitet hat. Die Nebeldecke lüftete sich, um nur noch schwerer und dichter niederzusinken. Die Dunkelheit war vollständig. Zuweilen öffnete sich die furchtbare Mauer wie eine Zange und ließ ein Stück Horizont sehen, worauf sie sich dann wieder zusammen fügte.
Der Guerneseyer stand, mit seinem Fernrohr bewaffnet, wie eine Schildwache auf dem Vorderdeck.
Plötzlich wurde es hell und gleich darauf finster.
Der Guerneseyer wandte sich erschrocken um.
– Capitän Clubin!
– Was giebt es?
– Wir steuern auf die Hanoisfelsen zu.
– Sie irren sich, entgegnete der Capitän kalt.
– Ich bin davon überzeugt.
– Unmöglich.
– Ich entdeckte soeben am Horizont Klippen.
– Wo?
– Dort!
– Unmöglich; in jener Richtung liegt offenes Meer.
Und Clubin hielt die Richtung nach dem bezeichneten Punkt inne.
Der Guerneseyer sah wieder durch sein Fernrohr.
– Capitän!
– Nun?
– Wechseln Sie die Richtung!
– Warum?
– Ich bin sicher, daß ich den Felsen hoch und drohend ganz in der Nähe sah. Es ist der große Hanois.
– Sie irren sich. Es wird eine dichtere Nebelstelle sein.
– Im Namen des Himmels, wenden Sie um; es ist der große Hanois!
– Clubin gab der Ruderpinne einen Stoß.
Man hörte ein Gekrache. Es giebt kein schaurigeres Geräusch als das Zerbersten eines auf eine Untiefe gerathenen Schiffes. Die Durande stand unbeweglich da. Mehrere Passagiere taumelten von dem Stoß und fielen auf das Verdeck hin.
Der Guerneseyer erhob die Hände zum Himmel.
– Auf dem Hanois, wie ich sagte!
Ein langer Schrei erscholl.
– Wir sind verloren!
Clubins kalte und harte Stimme übertönte Alles.
– Niemand ist verloren! Stille!
Der schwarze, bis zum Gürtel nackte Oberkörper Imbrancams zeigte sich in der viereckigen Oeffnung des Ofenraums. Mit ruhiger Stimme sagte er:
– Capitän, das Wasser dringt in's Schiff. Das Feuer erlischt.
Ein furchtbarer Augenblick!
Der Stoß konnte nicht furchtbarer gedacht werden. Er glich einem Selbstmord. Die Durande war auf den Felsen gerannt, als hätte sie ihn angreifen wollen. Eine Klippenspitze durchbohrte sie wie ein Nagel. Ein Quadrat, das über eine Klafter maß, befand sich im Schiffsboden, der Vordersteven war zerschmettert, das Vorderdeck eingeschlagen und mit grauenhaftem Gepolter drängte sich das Meerwasser in eine Oeffnung des Rumpfes – in die Todeswunde des Schiffes. Der Rückprall war so heftig gewesen, daß er die Leittaue des abgelösten, hin und her treibenden Steuerruders zerrissen hatte. Ein dichter, schwerer und jetzt fast schwarzer Nebel hüllte das von der Klippe durchbohrte und festgehaltene Fahrzeug ein. Die Nacht zog über das Meer.
Das Vorderdeck des Dampfers senkte sich in die Wogen, ähnlich wie ein Roß, das die Hörner eines Stiers in seinen Eingeweiden fühlt. Die Durande war verloren.
Während eines Schiffbruchs ist Niemand berauscht. Tangrouille stieg entnüchtert in das Zwischendeck hinab, erschien bald wieder oben und sagte:
– Capitän, das Wasser ist bis an die Deckbalken des Schiffsraums gedrungen, in zehn Minuten wird es das Speigatt erreicht haben.
Händeringend und vor Entsetzen außer sich liefen die Reisenden auf dem Verdeck umher, beugten sich über Bord, betrachteten die Maschine und führten Dinge aus, die unnöthig und nur Folgen ihres Schreckens waren.
Clubin gebot durch ein Zeichen mit der Hand Schweigen und man folgte ihm.
– Wie lange kann die Maschine noch arbeiten? fragte er Imbrancam.
– Fünf oder sechs Minuten.
– Ich war am Ruderstock, fuhr der Capitän zu dem Guerneseyer gewandt, fort; Sie beobachteten den Felsen. Auf welcher Klippe des Hanois sitzen wir?
– Auf der Mauve. Ich habe sie vorhin bei der Helle deutlich erkannt.
– Dann liegt der große Hanois am Backbord und der kleine am Steuerbord. Wir befinden uns eine Meile vom Lande.
Das Auge auf den Capitän geheftet, folgten Reisende und Schiffsleute mit angstvoller Aufmerksamkeit der Unterredung.
Das Fahrzeug flott zu machen, war unmöglich und zwecklos. Um die Ladung in's Meer werfen zu können, hätte man die Stückpforten öffnen und sich bemühen müssen, in tieferes Wasser zu gelangen. Ankerwerfen nützte nichts, denn das Schiff war fest genagelt. Da die Maschine als unbeschädigt dem Schiff zur Verfügung stand, so lange das Feuer nicht erlosch, konnte man mit Hülfe der Räder und des Dampfes zurückweichen und sich vom Felsen losreißen, doch wäre das Schiff durch solch Beginnen sofort umgestürzt. Die Klippenspitze füllte die Oeffnung bis zu einem gewissen Grade und hinderte das Eindringen des Wassers. Wurde jenes Hemmniß entfernt, so gab es keine Möglichkeit, den Leck zu verstopfen und die Pumpen arbeiten zu lassen. Wer den Pfeil aus der Herzenswunde zieht, tödtet den Getroffenen auf der Stelle. Sich von dem Felsen losmachen, hieße auf den Grund gehen.
Die Stiere im untern Schiffsraum, welche das Wasser fühlten, fingen an zu brüllen.
– Die Schaluppe in's Meer! commandirte Clubin.
Imbrancam und Tangrouille stürzten vorwärts und lösten die Bindseile. Der Rest der Mannschaft stand regungslos vor Schreck da und sah dem Thun der Beiden zu. Clubin commandirte mit kaltem Ton und in den Ausdrücken jener veralteten Sprache, welche die Schiffer der Jetztzeit nicht mehr kennen:
– Holt an! – Schürzt Knoten in die Taue, wenn die Spille nicht mehr arbeiten kann. – Raum genug für den Ganspill. – Hütet die ungetheerten Thaue vor den Blockrollen. – Segel nieder. – Schnell zwei Tonnen Süßwasser hinein. – Zuviel Reibung. – Den Takelläufer zur Hand. – Achtung. –
Die Schaluppe war im Meer.
In demselben Augenblick stockten die Räder der Durande, der Rauch hörte auf, die Maschine stand im Wasser. Die Reisenden glitten die Leiter hinab oder fielen, an dem laufenden Tauwerk klammernd, mehr in die Schaluppe, als sie hinabstiegen. Imbrancam hob den ohnmächtigen Touristen vom Boden auf, trug ihn in das Fahrzeug und stieg dann wieder in's Schiff. Die Matrosen stürzten den Reisenden nach. Der Schiffsjunge war zu Boden geworfen und wurde mit Füßen getreten. Imbrancam versperrte den Forteilenden den Weg.
– Niemand geht einen Schritt vorwärts! sagte er und drängte mit seinen schwarzen Armen die Matrosen. Er hob das Kind empor und reichte es dem Guerneseyer, der in der Schaluppe stand. Als der Schiffsjunge gerettet war, trat Imbrancam bei Seite und rief:
– Jetzt geht!
Clubin war indessen in seine Cajüte getreten, um die Schiffspapiere und Urkunden hervorzuholen. Auch den Compaß nahm er aus dem Häuschen und gab die Schriften Imbrancam, den Compaß aber Tangrouille und sagte: Steigt in die Schaluppe.
Sie gehorchten. Die übrige Mannschaft war bereits darin untergebracht, kaum ein Platz war noch leer. Die Wellen streiften den Bord.
– Jetzt stoßt ab! rief Clubin.
Ein allgemeiner Schrei tönte aus der Schaluppe.
– Und Sie, Capitän?
– Ich bleibe.
Schiffbrüchige haben wenig Zeit zu Berathungen und noch weniger zum Mitleid. Doch die Mannschaft in der Schaluppe fühlte im Bewußtsein eigener wahrscheinlicher Sicherheit eine selbstlose Bewegung. Alle erhoben ihre Stimmen zu dem bittenden Ruf:
– Begleiten Sie uns, Capitän!
– Ich bleibe.
Der Guerneseyer, welcher das Meer genau kannte, erwiederte:
– Capitän, hören Sie mich! Sie sind auf die Hanoisfelsen geworfen. Ein Schwimmer hat bis Plainmont eine Meile, aber zu Schiff kann man nur in Rocquaine, zwei Meilen von hier landen. Klippen und Nebel machen den Weg gefährlich. Die Schaluppe kann nicht vor zwei Stunden in Rocquaine anlangen. Dann wird es finstere Nacht sein. Heftiger, plötzlicher Sturm ist im Anzuge. Wie gerne kämen wir, um Sie abzuholen, aber wenn das Unwetter losbricht, ist es unmöglich. Wenn Sie bleiben, sind Sie verloren. Begleiten Sie uns.
Der Pariser mischte sich ein.
– Die Schaluppe ist allerdings voll, zu voll und ein Mensch mehr ist ein Mensch zu viel. Wir sind jedoch unserer Dreizehn, eine böse Zahl für die Barke und es ist deshalb besser, sie durch einen Menschen, als durch eine Zahl zu gefährden. Kommen Sie, Capitän.
– Ich trage die ganze Schuld, nicht Sie, Capitän Clubin. Es ist ungerecht, daß Sie zurückbleiben! rief Tangrouille.
– Ich weiche nicht von meinem Platz. In der Nacht wird der Orkan das Fahrzeug zertrümmern. Ich werde es nicht verlassen. Wenn der Capitän sein Schiff verloren hat, ist er todt. Man wird von mir sagen: er that seine Pflicht bis an's Ende. Tangrouille, ich verzeihe Ihnen!
Und die Arme kreuzend rief er: Gebt Acht auf das Commando! Stoßt ab! Geht in die See!
Die Schaluppe setzte sich in Bewegung. Imbrancam ergriff das Steuer. Alle Hände, die kein Ruder führten, streckten sich dem Capitän entgegen und jeder Mund rief: Ein Hoch dem Capitän Clubin, hurrah!
– Ein bewunderungswürdiger Mann, sagte der Amerikaner.
– Mein Herr, rief der Guerneseyer, es giebt auf der ganzen See keinen ehrenwertheren.
Tangrouille weinte. – Hätte es mir nicht an Muth gefehlt, so wäre ich bei ihm geblieben, murmelte er vor sich hin.
Die Schaluppe verlor sich im Nebel und man sah nichts mehr von ihr. Auch das Geräusch des Ruderschlags verhallte und verstummte.
Clubin war allein.
Als Clubin auf der nebelumhüllten Klippe mitten auf dem Meer, fern vom Geräusch der Welt und fern von jedem lebenden Wesen, den Tod sicher vor Augen sah, ergriff ihn eine glühende Freude.
Er hatte sein Ziel erreicht. Sein Traum war erfüllt. Der schon verfallene Wechsel, den er auf das Schicksal gezogen hatte, wurde ihm nun bezahlt.
Verlassen sein, hieß für ihn befreit sein. Er befand sich auf den Hanoisfelsen, eine Meile vom Lande entfernt, und hatte fünfundsiebzigtausend Franken bei sich. Nie gab es einen Schiffbruch, der sich in strengeren Formen vollzogen hätte, es war der regelrechteste Schiffbruch der Welt. Es hatte nichts gefehlt, um ihn vollständig zu machen; Alles war fein eingeleitet. – Clubin verfolgte seit seiner Jugend Ein Ziel. Rechtschaffenheit war sein Einsatz in dem Roulette des Lebens. Er wollte als ehrlicher Mann gelten, der das Glück abwartet und nur bei jedesmaligem Spiel den Satz verdoppelt, die Sache am rechten Ende anfängt, den günstigen Augenblick benutzt, nicht blindlings umhertappt, sondern beherzt zugreift. Einen »Coup« wollte er wagen, doch nur einen einzigen und mit diesem wollte er über alle Schwachköpfe triumphiren. Ihm sollte auf einen Streich gelingen, was gaunerischen Schwachköpfen zwanzig Mal nacheinander mißglückte; ihr Thun fand den Schluß am Galgen, das seinige endete im Hafen des Glücks. Das Zusammentreffen mit Rantaine hatte ihm Licht über sein künftiges Verhalten gegeben.
Unverzüglich entwarf er seinen Plan, der dahin ging, Rantaine zu stürzen und selber zu verschwinden, um etwaige Enthüllungen zu nichte zu machen. Er wollte für todt gelten – das ist die beste Art des Verschwindens. Zu diesem Zwecke mußte er die Durande vernichten. Indem er sogar einen guten Ruf hinterließ, krönte er seine ganze Vergangenheit. Wer Clubin in diesem Schiffbruch sah, hätte ihn für einen beglückten Dämonen gehalten.
Er hatte sein ganzes Leben auf diese Minute gewartet.
Endlich! Dies eine Wort drückte den ganzen Inhalt seiner Empfindungen aus. Eine abschreckende Heiterkeit erhellte seine düstere Stirn. Sein glanzloses Auge, in dem man sonst nichts lesen konnte, nahm einen sonderbaren Ausdruck an. Die lodernde Gluth seiner Seele spiegelte sich darin wieder. Die innere, wie die äußere Natur des Menschen hat ihre elektrischen Spannungen. Eine Idee ist ein Meteor. Der Erfolg ist das Resultat aus verschiedenen Betrachtungen, welche sie vorbereitet haben. Es ist ein Glück, wenn Diejenigen, welche das Böse in sich hegen und pflegen und eine geheime Beute desselben sind, durch solch einen zündenden Funken ihr Wesen offenbaren; ein unedler Gedanke, zur Ausführung gelangt, belebt das Gesicht; gewisse gelungene Berechnungen, wilde Befriedigungen, glücklich errungene Erfolge kündigen sich durch einen düstern Glanz der Augen an.
Dieser Glanz zeigte sich in Clubin's Blicken. Weder auf Erden noch in andern Regionen konnte man ein ähnliches Leuchten finden.
Der in Clubin verborgene Schurke enthüllte sich durch diesen Glanz.
Er sah in die unergründliche Finsterniß hinein und konnte ein leises, unheilvolles Lachen nicht unterdrücken.
Er war frei und reich!
Sein eigentliches »Ich« sprengte seine Fesseln. Er hatte seine Aufgabe gelöst.
Zeit genug lag vor ihm. Die steigende Fluth mußte der Durande zu Hülfe kommen, indem sie dieselbe von dem Felsen löste und endlich emporhob. Doch konnte dies nicht schnell geschehen, da das Fahrzeug fest auf der Klippe haftete. Die Gefahr umzuschlagen, war nicht vorauszusehen. Das Rettungsfahrzeug mußte hinreichende Zeit haben, sich von den Hanoisfelsen zu entfernen, vielleicht unterzugehen. Clubin hoffte es.
Auf der gescheiterten Durande stehend, kreuzte er die Arme und schwelgte in dem Gefühl, sich in dieser Finsterniß einsam und verloren zu wissen.
Dreißig Jahre hatte die Heuchelei diesen Mann gedrückt. Er war ein Bösewicht, der sich mit der Rechtschaffenheit vermählt hatte und für die Tugend den Haß eines unglücklichen Ehemanns hegte. Er trug sich von jeher mit verbrecherischen Berechnungen; so lange er Mann war, verschanzte er sich hinter der starren Rüstung des Scheins. Innerlich war er ein Ungeheuer. Er hatte sich in die Haut eines vortrefflichen Mannes gesteckt und trug ein Banditenherz in seiner Brust. Er war ein Seeräuber von sanften Geberden, ein Gefangener der Redlichkeit und lag eingezwängt in dem Mumiensarg der Unschuld. Auf dem Rücken wuchsen ihm Engelflügel, deren Last ihn, den Taugenichts, zu Boden zog. Die öffentliche Achtung erdrückte ihn fast. Es ist hart, in solchem Fall als unbescholtener Mann dazustehen. Welche Arbeit, sich im Gleichgewicht zu halten; Böses denken und Gutes reden! Er stellte bisher das Phantom der Redlichkeit vor, während er eigentlich das Gespenst des Verbrechens war. Zu diesem Widerspruch hatte das Schicksal ihn verdammt. Er war gezwungen, gute Haltung anzunehmen, wohlanständig zu sein, über der Mittelmäßigkeit zu stehen und heimlich mit den Zähnen zu knirschen. Es war der Fluch der Tugend, welcher ihn zu ersticken drohte. Sein Leben lang hatte er Lust verspürt, in die auf seinen Mund gedrückte Hand zu beißen.
Und doch mußte er sie küssen.
Gelogen und gelitten haben ist eins. Ein Heuchler ist im doppelten Sinn des Worts ein Leidender: er müht sich ab, einen Triumph zu erringen und erduldet dabei Todespein. Die schwankende Berechnung eines schlechten Streichs unter dem Anscheine von Sittenstrenge und Festigkeit; innere Bosheit, die sich hinter einem vorzüglichen Ruf versteckt; das Streben, die Menschen zu täuschen, sein eigentliches Wesen verleugnen, ist eine beschwerliche Arbeit. Aus der ganzen schwarzen Bosheit seines Wesens ein Gebilde der Reinheit zu schaffen, liebkosend, versteckt, stets auf seiner Hut sein, sich unaufhörlich selbst bewachen, seinem geheimen Verbrechen eine gute Maske anlegen, diejenigen, welche uns verehren, am liebsten zerreißen wollen, die eigene Mißgestalt in Schönheit und die Nichtswürdigkeit in Vollkommenheit umwandeln, Gift versüßen, mit dem Dolche spielen, die Sanftheit seiner Geberden und den milden Klang seiner Stimme wahren – nichts ist schwieriger und trauriger! Die Abscheulichkeit der Heuchelei sättigt den Heuchler im Geheimen; nährt er sich jedoch beständig von der Milch seines Betruges, so wirkt dieselbe ekelerregend! Die Süßigkeit, welche die Arglist der Bosheit verleiht, widert den Bösewicht an, da er gezwungen ist, sie beständig im Munde zu führen, und es giebt Augenblicke, wo der Heuchler hochherzig genug ist, sich ihrer zu entledigen. Jenen Speichel verschlingen, ist abscheulich. Eingewurzelter Stolz kann diesen Zustand herbeiführen. Der Heuchler hat seine Zeiten der Selbstachtung. In der Schurkerei liegt eine unbegrenzte Selbstsucht. Der Wurm hat dieselben Schlangenbewegungen wie der Drache. Der Verräther ist nichts als ein eingeengter Despot, welcher seine Pläne nur verfolgen kann, indem er sich mit der zweiten Rolle begnügt; eine Kleinlichkeit, die auf unbegrenzte Geistesstärke schließen läßt. Der Heuchler ist Zwerg und Riese in einer Person. Clubin glaubte mit voller Ueberzeugung, ein Unterdrückter gewesen zu sein. Nach welchem Recht war er nicht reich geboren? Er hätte nichts Besseres verlangt, als von seinen Eltern hunderttausend Livres Renten zu beziehen. Weshalb war dies unmöglich? Der Fehler lag nicht an ihm. Warum wurde er gezwungen zu arbeiten, das heißt zu betrügen, zu verrathen und zu zerstören, indem man ihm alle Genüsse der Welt versagte? Weshalb verdammte man ihn auf diese Weise zur Marter des Schmeichelns, Kriechens, Beifallsuchens, des Strebens nach Liebe und Achtung, weshalb war er verurtheilt bei Tage und Nacht ein anderes Gesicht als das seinige zu tragen? Verstellung ist eine unterjochte Gewalt. Man haßt Denjenigen, welchen man belügt. Endlich schlug seine Stunde! Clubin rächte sich.
An wem? An Allen und an Allem.
Lethierry hatte ihm nur Gutes erwiesen. Um so schlimmer; er rächte sich an Lethierry und Allen, deretwegen er sich Zwang angethan hatte. Er schritt zur Vergeltung. Wer jemals Gutes von ihm gedacht, war sein Feind. Lethierry gehörte auch zu diesen.
Jetzt war Clubin frei und seinem Gefängniß entronnen. Er befand sich außerhalb des Bereichs der Menschen. Was man seinen Tod nennen würde, war sein Leben; er stand jetzt erst im Begriff, das Leben anzufangen. Der echte Clubin brach aus der Höhle des falschen hervor. Mit einem Schlage stand er da. Er hatte Rantaine mit einem Fußtritt in das Nichts gestoßen, Lethierry zu Grunde gerichtet, irdische Vergeltung unmöglich gemacht, die Meinung der Leute irre geleitet und sich aus dem Bereich der Menschheit entfernt. Er war mit der Welt fertig.
Was Gott betraf, so kannte er dies aus drei Buchstaben zusammengesetzte Wort kaum und kümmerte sich nicht darum.
Er hatte für einen religiösen Mann gegolten. Und jetzt?
Die Heuchelei hat ihre Schlupfwinkel oder sie ist vielmehr selber nur eine einzige Räuberhöhle.
Als Clubin allein war, öffnete sich die Höhle seines Innern. Er genoß einen Augenblick des Entzückens; seine Seele schöpfte frische Luft.
Er athmete die Luft seines Verbrechens mit vollen Zügen. Das versteckte Böse zeigte sich auf seinem Gesicht. In dieser Minute war Rantaine's Blick im Vergleich mit dem seinen der Blick eines neugebornen Kindes! Welch' eine Befreiung, dies Abreißen seiner Maske! Sein Gewissen ergötzte sich an der eigenen gräßlichen Nacktheit und tauchte sich mit Behagen in die freie, volle Fluth des Bösen. Der Zwang, welchen ihm die langertragene Achtung der Menschen auferlegt hatte, flößte ihm, ehe er auf immer gehoben ward, eine rasende Lust an der Schamlosigkeit ein.
Der Verbrecher erreicht stets eine gewisse Art unmäßiger Frechheit. Es giebt in den fürchterlichen, so wenig sondirten sittlichen Abgründen eine gewisse sonderbare, abscheuliche Prahlerei, welche man die Unzucht des Lasters nennen kann. Das Unschmackhafte des falschen guten Rufes reizt den Appetit nach Schande. Man verachtet die Menschen so sehr, daß man wünscht, von ihnen verachtet zu werden und bewundert die Ungebundenheit, welche Entehrung gestattet. Mit gierigen Blicken betrachtet man die Schande, die es sich in öffentlicher Verworfenheit wohl sein läßt. Augen, die zum Niederschlagen gezwungen sind, werfen oft verstohlene Seitenblicke. Maria Alacoque folgt in nächster Linie auf Messalina. Vergleicht La Cadière und die Nonne von Louviers. Clubin hatte auch unter dem Schleier gelebt. Sein ehrgeiziges Streben ging nach Ausübung frecher Schamlosigkeit. Er beneidete die öffentliche Dirne und den Mann, der mit dreister Stirn seine Schandflecken trug. In seinem eigenen Innern fühlte er sich unzüchtiger, als eine jener Gefallenen und es widerte ihn an, für keusch zu gelten. Er war bisher der Tantalus des Cynismus gewesen. Jetzt endlich, auf diesem Felsen in dieser Einsamkeit konnte er aufrichtig sein und er war es. Welch' unendliches Behagen, unverstellt verabscheuungswerth dazustehen! In dieser Minute genoß Clubin alle erdenklichen teuflischen Freuden; die Zinsen der Heuchelei wurden ihm gezahlt; seine Falschheit war eine dem Satan vorgestreckte Summe, die er jetzt zurückerhielt. Er überließ sich dem Rausch der Frechheit; nur der Himmel war ja über ihm, die Menschen waren fern.
»Ich bin ein Schurke!« schrie er und fühlte sich befriedigt.
Nie sind wohl ähnliche Gewissensvorgänge bei einem Menschen vorgekommen. Keine Charakterenthüllung ist mit dem Abwerfen der Heuchelei zu vergleichen.
Er war glücklich, ganz allein zu sein und hätte doch nicht gezürnt, wäre Jemand neben ihm gewesen. Es würde ihm einen Genuß bereitet haben, vor Zeugen so verabscheuungswerth dazustehen.
Wie hätte es ihn beglückt, dem ganzen Menschengeschlecht das Wort »Schwachsinniger« zurufen zu können.
Die Abwesenheit der Menschen sicherte seinen Triumph, doch verminderte sie ihn. Er allein war der Zeuge seiner Herrlichkeit.
Es liegt ein Reiz darin, am Pranger zu stehen. Alle Welt weiß, daß man nichtswürdig ist. Die Menge zwingen, ihre Blicke auf Dich zu richten, heißt eine Macht ausüben. Der Galeerensklave, welcher die eiserne Kette am Hals im Bock auf dem Kreuzweg steht, ist der Despot aller Augen, die sich auf ihn richten. Dies Schaffott gleicht einem Piedestal. Ist es nicht ein herrlicher Triumph, der Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein? Diejenigen, welche vor dem Altar des Teufels opfern, sehen in der Schande einen Heiligenschein. Durch diesen erheben sie sich über die Menge. Er verhilft ihnen zur Herrschaft. Ein Schandpfahl, den die ganze Welt steht, erinnert an einen Thron. Vor Gericht stehen, heißt ein Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. Ein schlechter Regent hat entschieden seine Schandpfahlfreuden. Nero, als er Rom anzündete, Ludwig XIV., als er Palatinat wie einen Verräther behandelte, Georg der Reichsverweser, indem er Napoleon langsam tödtete, Nicolaus, als er Angesichts der civilisirten Welt Polen den Hals brach, mußten etwas von der Wollust schmecken, in welcher Clubin jetzt schwelgte. Die Unbegrenztheit der öffentlichen Verachtung macht auf den Verachteten den Eindruck einer ihm dargebrachten großen Anerkennung. Entlarvt werden, ist eine Niederlage; sich selbst entlarven, heißt einen Sieg feiern. Der Sieg ist Trunkenheit, unverschämte, befriedigte Frechheit, gänzliche Nacktheit, die alles um sich her beleidigt. Ein übergroßes Glück.
Die Begriffe eines Heuchlers scheinen im Widerspruch mit einander zu stehen und doch ist seine ganze Schurkerei eine folgerechte. Er hat Honig auf den Lippen und Galle im Herzen. Der Heuchler, an sich grundschlecht, zeigt in seinem Wesen die zwei äußersten Grenzen der Verworfenheit. Er ist zugleich Priester und Courtisane. Als Teufel hat er ein doppeltes Geschlecht. Er ist der verabscheuungswürdige Hermaphrodit des Bösen und befruchtet, vermehrt und verwandelt sich selber. Wollt Ihr seine schöne Seite kennen lernen, wohlan! werft einen Blick auf ihn; wünscht Ihr seine Häßlichkeit zu betrachten, nun, so dreht ihn um!
Clubin's Seele hatte dies Dunkel verworrener Vorstellungen. Ihm lag wenig daran, dasselbe zu lichten; er schwelgte darin.
Eine Reihe höllenentstiegener Feuerfunken konnte man die Folge seiner Gedanken nennen.
Er stand eine Zeit lang träumerisch da und betrachtete im Geist seine frühere Rechtschaffenheit mit dem Auge einer Schlange, die ihre eben abgeworfene alte Haut vor sich liegen sieht.
Jedermann, ja fast er selbst, hatte an seine Redlichkeit geglaubt.
Zum zweiten Mal brach er in ein Gelächter aus.
Man würde ihn für todt halten, während er in Reichthum lebte. Er galt für verloren und war gerettet. Welchen Streich hatte er dem albernen Menschengeschlecht gespielt!
Und zu diesem albernen Menschengeschlecht gehörte Rantaine. Clubin gedachte seiner mit einer grenzenlosen Verachtung. Der Marder verachtet den Tiger. Rantaine's Flucht war in gewissem Sinne eine verfehlte; er, Clubin, führte die seine meisterhaft aus. Rantaine ging bestürzt, beschämt, Clubin triumphirend davon. Er hatte, was die Art der bösen That betraf, Rantaine's Beispiel befolgt; allein das Glück war auf seiner Seite.
Hinsichtlich der Zukunft hatte er noch nichts Festes beschlossen. Die eiserne Büchse, welche er in seinem Gürtel trug, enthielt drei Banknoten; diese Gewißheit genügte. Er wollte seinen Namen ändern. Es giebt Länder, in denen siebenzigtausend Franken so viel bedeuten, als siebenhunderttausend. Es wäre nicht übel, in einen jener Winkel der Erde zu gehen, um von diesem, dem Räuber Rantaine abgejagten Gelde als ehrlicher Mann zu leben. Speculiren, Großhandel treiben, das Capital vermehren, im vollen Ernst Millionair werden, hatte auch etwas für sich.
In Costa-Rica, dem ersten Platz für Kaffeehandel, ließen sich zum Beispiel Tonnen Geldes erwerben. Er wollte die Sache überlegen.
Es eilte nicht. Er hatte Zeit, seine Pläne zu bilden. Das Schwerste war bereits gethan. Rantaine auszuplündern, mit der Durande verschwinden, dies hatte die größten Schwierigkeiten gemacht. Sie waren glänzend überwunden. Der Rest war einfach. Nichts stand zu befürchten, nichts konnte ihm zustoßen. Die Küste war durch Schwimmen zu erreichen. In der Nacht wollte er in Plainmont landen, das Felsufer erklimmen und sich unverzüglich in das Geisterhaus begeben, was ihm mit Hülfe eines Taues mit Knoten, das er schon in einer Felsöffnung versteckt hatte, ohne Mühe gelingen mußte. In jenem Hause fand er sein Felleisen mit trockenen Kleidern und Lebensmitteln. Dort wollte er die Ankunft spanischer Schmuggler abwarten, die, wie man ihn benachrichtigt hatte, vor Ablauf einer Woche Plainmont berühren würden. Diese Schmuggler sollten ihn für einige Guineen nicht nach Tor Bay schaffen, wie er, um etwaige Berechnungen zu verwirren, mit Blasko, einem der Gesellen verabredet hatte, sondern ihn bis Passages oder Bilboa befördern. Von dort wollte er sich nach Vera-Cruz oder New-Orleans begeben. – Jetzt kam der Augenblick, wo er sich in's Meer stürzen mußte. Die Schaluppe war fern; eine Stunde lang schwimmen, hatte für Clubin nichts zu bedeuten. Nur eine Meile See trennte ihn vom Lande, denn er stand auf dem Hanoisfelsen. Als er mit diesen Gedanken beschäftigt war, zerriß die Nebelwand an einer Stelle. Der entsetzliche Douvresfelsen tauchte vor ihm auf.
Clubin betrachtete ihn mit verstörtem Blick.
Es war wirklich die furchtbare einsame Klippe.
Wer konnte ihre mißgeformte Silhouette verkennen! Die beiden Douvreszwillinge starrten gräßlich empor und zeigten ihren, einer Fallgrube ähnlichen Engpaß, den man die Mörderhöhle des Oceans hätte nennen sollen.
Sie waren ganz in der Nähe. Der Nebel hatte sie versteckt, als seien sie Mitschuldige.
Die Undurchsichtigkeit der Luft war schuld, daß Clubin eine falsche Richtung einschlug. Ungeachtet aller Aufmerksamkeit erging es ihm wie den großen Seefahrern Gonzalez und Fernandez, von denen ersterer das weiße und letzterer das grüne Vorgebirge entdeckte. Der Nebel hatte ihn irregeleitet. Clubin fand ihn zur Ausführung seines Planes sehr vortheilhaft, doch schloß er Gefahr in sich. Der Capitän hatte geglaubt, die westliche Richtung innezuhalten, allein er täuschte sich und der Guerneseyer führte in der Meinung, den Hanois vor sich zu sehen, die letzte Schwenkung des Schiffes herbei. Die Durande stand von einer unterseeischen Klippe durchstoßen, nur einige Kabellängen von den beiden Douvresfelsen entfernt. Zweihundert Faden weiter bemerkte man einen plumpen Würfel von Granit. Die steilen Wände dieses Felsens zeigten Rillen und Vorsprünge, vermittelst deren er sich erklimmen ließ und die gradlinigen Ecken und rechten Winkel ließen auf seinem Gipfel ein Plateau vermuthen.
Es war der »Mann«.
Er überragt selbst die Douvresfelsen. Seine Plattform beherrscht ihre doppelten, unnahbaren Spitzen. Ihr Stand, der in Stufenform abfallend eine Art Gesims bildet, hat eine sonderbare, gewissermaßen kunstgerechte Regelmäßigkeit. Man kann sich nichts Oederes und Schaurigeres vorstellen als diesen Felsen. Die Sturzwellen der hohen See falten ihre Gewänder ungestört auf den viereckigen Fronten dieses riesigen schwarzen Sumpfes, einer Art Piedestal für die zahllosen Gespenster des Meeres und der Nacht.
Der ganze Ort hatte augenblicklich etwas Bedrückendes, Schläfriges. Kaum ein Luftzug, kaum ein Wellengekräusel. Man ahnte unter dieser stummen Wasserfläche ein reiches, verborgenes Leben der Finsterniß.
Clubin hatte die Douvresklippen oft von ferne gesehen.
Er täuschte sich nicht über die Stelle, an der er sich befand.
Kein Zweifel!
Plötzlicher, grauenhafter Wechsel. Die Douvresfelsen anstatt der Hanois. Nicht eine, nein, fünf Seemeilen vom Lande entfernt! Fünf Seemeilen! Unmöglich, nach dem Strand zu schwimmen. Die Douvresfelsen sind für den einsamen Schiffbrüchigen die sichtbare und fühlbare Gegenwart des letzten Augenblicks. Er darf und soll die Erde nicht wieder betreten.
Clubin schauderte. Er selbst hatte sich in den Rachen des Todes gestürzt. Keine Zuflucht als den »Mann«. Wahrscheinlich brach während der Nacht der Sturm los und die überladene Schaluppe der Durande schlug um. Keine Kunde von dem Schiffbruch erreichte den Strand. Es wurde nicht einmal bekannt, daß Clubin auf den Douvresklippen allein zurückgeblieben war. Keine Aussicht, als vor Kälte und Hunger umzukommen. Seine siebenzigtausend Franken verschafften ihm keinen Bissen Brot. All' seine mühsamen Zurüstungen fanden endlich in dieser Falle ihr Ziel. Er war der fleißige Baumeister seines eigenen Grabgewölbes. Keine Hülfe. Kein möglicher Glückfall. Sein Sieg bereitete ihm den Untergang; Gefangenschaft anstatt Erlösung; Todesnoth, wo er langes Lebensglück gehofft hatte. Ein Augenblick, die Zeit, welche ein Blitz zum Aufzucken nöthig hat, genügte, um seinen künstlichen Bau einzustürzen. Das geträumte Paradies dieses Dämons erschien ihm in seiner eigentlichen, wahren Gestalt – der Leichengruft.
Mittlerweile hatte sich der Wind wieder eingestellt. Der zerrissene, auseinandergetriebene Nebel jagte in großen, unförmlichen, wirren Ballen dem Horizont entgegen. Das ganze Meer war wieder sichtbar.
Die Ochsen, mehr und mehr durch die Fluth im Schiffsraum bedrängt, fuhren fort zu brüllen.
Die Nacht zog herauf und wahrscheinlich auch der Orkan.
Durch das steigende Meer allmählig emporgehoben, schwankte die Durande von links nach rechts, dann von rechts nach links, bis sie anfing, sich auf der Klippe zu drehen, als sei diese ein Zapfen.
Man sah den Augenblick kommen, wo eine Sturzsee sie losreißen und überfluthen würde.
Es war jetzt weniger finster, als zur Zeit des Schiffbruchs! Man konnte die Gegenstände deutlicher erkennen, obgleich der Abend vorgerückt war. Der Nebel hatte die Finsterniß durch sein Verschwinden gelichtet. Im Westen stand nicht mehr das kleinste Gewölk. Die Dämmerzeit gewährt uns oft einen schönen, klaren Himmel. Die Helle eines solchen erglänzte jetzt auf dem Meere. Das Schiff war in einer Weise gestrandet, daß der vordere Theil sich auf dem Grunde befand, während das Hinterdeck frei aus dem Wasser emporragte. Dort stellte Clubin sich auf und ließ sein Auge am Horizont haften.
Es ist eine Eigenheit des Heuchlers, daß er sich mit Hast an jede Hoffnung klammert. Er lebt in steten Erwartungen. Die ganze Heuchelei ist nichts als eine große verabscheuungswürdige Hoffnung; oder letztere bildet vielmehr das Fundament jener großen Lüge und wird in Verbindung mit derselben ein Laster.
Sonderbar, daß der Heuchler Zuversicht hegt; er verläßt sich auf die Gleichgültigkeit einer Vorsehung, welche das Böse zuläßt.
Clubin erblickte die Meeresfläche.
Die Lage war verzweifelt, seine düstere Seele war es nicht. Er sagte sich, daß die Schiffe, welche unter dem Nebel aufgebraßt lagen oder Anker geworfen hatten, ihre Fahrt fortsetzen und vielleicht in Sicht kommen würden.
Und so geschah es; in der Ferne zeigte sich ein Segel. Es kam aus Westen und bald konnte man die Gestalt des Fahrzeuges erkennen. In der Weise eines Schooners ausgerüstet, hatte es nur einen Mast und der Bugspriet war fast horizontal. Hieraus zu schließen, mußte es ein Kutter sein.
Noch vor Ablauf einer halben Stunde segelte er nahe an den Douvresfelsen vorüber.
Clubin sagte sich: Ich bin gerettet.
Wer sich in einer solchen Lage befindet, ist zunächst auf Erhaltung seines Lebens bedacht.
Der Kutter mochte vielleicht ein fremder sein. Wer weiß, ob er nicht Schmugglern gehörte, die nach Pleinmont reisten? Oder war es Blasco selber, der mit ihm segelte? In diesem Fall war nicht nur Clubin's Leben gerettet, sondern auch sein Glück gemacht und er durfte seine Bekanntschaft mit den Douvresfelsen ein günstiges Ereigniß nennen, weil es den Abschluß seiner Flucht beschleunigte, ihn des Wartens in dem Geisterhause überhob und sein Abenteuer auf der See ihn bald vollenden ließ.
Die volle Gewißheit des Gelingens drang wieder mit wahnsinniger Gewalt in seine düstere Seele.
Es ist seltsam, wie leicht ein Schurke geneigt ist zu glauben, daß ihm der Erfolg nicht fehlen könne.
Eins blieb jedoch noch zu thun.
Die Durande vermischte, an der Klippe haftend, ihre Formen mit denen der Felsen und vermehrte die Zahl der Spitzen und Zacken noch um einige. Sie verlor sich unter der Menge und konnte in der Dämmerung möglicherweise von dem vorübersegelnden Schiffe nicht erkannt werden. Doch eine menschliche Gestalt, die auf dem Felsen des »Mannes« stehend, Zeichen der Verzweiflung machte und sich in der halbdämmerigen Luft schwarz vom Hintergrunde abhob, mußte die Aufmerksamkeit ohne Zweifel erregen. Man würde jedenfalls ein kleines Fahrzeug abschicken, um den Schiffbrüchigen einzuholen.
Der »Mann« maß nur zweihundert Klafter. Er war durch Schwimmen leicht zu erreichen und auch nicht schwierig zu erklimmen.
Das Vordertheil der Durande steckte im Wasser, deshalb mußte Clubin von der Höhe des Hinterdecks, wo er eben stand, in die See springen. Er warf ein Senkblei hinunter und sah, daß der Grund sehr tief war. Sehr kleine Muscheln, welche der Schlamm mit nach oben brachte, bewiesen durch ihre Frische und Unberührtheit, daß der Felsen tiefe Höhlen enthielt, in denen das Wasser, so bewegt auch die Oberfläche sein mochte, stets ruhig war.
Er entledigte sich seiner Kleider und ließ dieselben auf dem Verdeck. Auf dem Kutter hoffte er andere zu finden.
Nur seinen ledernen Gürtel behielt er um den Leib. Er schnallte ihn fest, tastete nach der eisernen Büchse, maß mit den Augen die Richtung, welche er zwischen den Brandungen und Wogen einzuschlagen hatte, um den »Mann« zu erreichen und stürzte dann, den Kopf vorgestreckt, sich in das Meer. Der Fall war ein tiefer.
Endlich erreichte er den Grund, ging einen Augenblick an den Felsen vorbei unter dem Wasser hin und gab sich dann einen Stoß, um die Oberfläche zu erreichen.
In diesem Augenblick fühlte er sich am Fuß ergriffen.