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Das Essen war beendet. Man war bereits aufgestanden, und von Julius fehlte noch immer jede Spur.
»Wo steckt der Junge nur?« rief Anna unruhig. »Er ist stets pünktlich –«
Julia winkte ihr mit der Hand. »Ich habe ihn fortgeschickt.«
Dann hörte man eilige Tritte, die Tür wurde aufgerissen und Julius erschien, außer Atem. Die Tante machte ihm ein Zeichen zu schweigen und wies auf den Tisch mit den Worten: »Armer Kerl, du mußt mit den Resten vorliebnehmen.«
Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn und flüsterte leise: »Tante, ich habe ihn!«
Ihr Gesicht überzog sich mit einem Freudenschein, sie wollte Hanna freundlich zunicken, doch sie und die Mutter waren bereits verschwunden.
Ludwig und Grete aber standen zu beiden Seiten des Bruders und sahen zu, wie er sich's schmecken ließ.
Die Tante setzte sich in seine Nähe und zog die Kinder zu sich heran.
»Ihr müßt dem Julius nicht jeden Bissen in den Mund zählen. Ich will euch etwas Besseres sagen: Ihr wißt doch, ich habe oben eine geheimnisvolle Kammer mit allerlei schönen Sachen von früher. Heute sollt ihr den Schlüssel dazu haben. Ihr mögt heute Nachmittag dort spielen. Erika geht mit und schließt euch auf.«
Die Kinder jubelten. In der Kammer zu kramen, war ihr schönstes Vergnügen. Erika allerdings sah aus, als würde sie lieber unten bleiben, um die Lösung des Rätsels zu erleben, doch als Julia freundlich sagte: »Geh nur jetzt, Erika, du tust uns allen einen Gefallen«, da nahm sie die Kinder an die Hand und verschwand.
Die Tante war nun endlich mit Julius allein. Sie konnte kaum erwarten zu hören, was er ausgerichtet hatte.
»Es war eine harte Arbeit, Tante«, begann er. »Ich bin gerannt, so schnell ich konnte und kam gerade in dem Augenblick auf den Bahnsteig, als Maß in den Zug steigen wollte. Ich richtete ihm deine Botschaft aus und sagte ihm außerdem verschiedenes, was ihn veranlaßte, mir zu folgen.«
»Wo ist er denn?«
»Oben in seinem Zimmer. Geh du nur zu ihm, du wirst am besten mit ihm fertig.«
»Das ist auch meine Absicht. Dir dank ich, du hast deine Sache gut gemacht.«
Die Tante ging nach oben. Auf ihr Klopfen kamen zögernde Schritte; die Tür wurde geöffnet, und ein sehr verlegener junger Mann lud sie zum Nähertreten ein.
»Sie haben mir nie Veranlassung gegeben, böse auf Sie zu sein, mein junger Freund, aber heute bin ich doch erzürnt im vollsten Sinne des Wortes. Was haben Sie uns allen in der letzten Stunde für Aufregung gemacht! Haben Sie eine Entschuldigung?«
Herr Maß stand da wie ein begossener Pudel. Eine solche Rede hatte er von Fräulein Julia noch nie gehört.
»Haben Sie nichts zu erwidern?«
Nun sagte er, daß er nicht anders habe handeln können. Als er hörte, daß sein Freund Olsen einen Antrag gestellt, habe er zwischen ihm und sich Vergleiche ziehen müssen. Sie seien eben zu seinen Ungunsten ausgefallen. Da er nun Fräulein Hanna von ganzem Herzen liebe, so habe er ihr ein besseres Los bereiten wollen, als sie bei ihm gehabt haben würde. So sei er zu dem schnellen Entschluß, sobald als möglich das Haus zu verlassen, gekommen.
»Wußten Sie denn nicht, daß Hanna für Sie mehr empfand als für Herrn Olsen?«
»Zuweilen wollte es mir scheinen, als ob ich ihr nicht gleichgültig sei. Doch Gewißheit darüber hatte ich nicht.«
»Meine Schwester hatte Ihnen aber doch gar keinen Korb gegeben –«
»Ich hatte das Gefühl als ob – als ob Ihre Frau Schwester lieber meinem Freunde die Tochter gegeben –«
»Sie törichter Mann! Es kommt doch schließlich auf die Tochter an. Und die will nichts von Herrn Olsen wissen, sondern hat ihrer Mutter erklärt, daß ihr Herz Ihnen gehört.«
Da ergriff er Julias Hände und drückte sie so kräftig, daß sie lächelnd sagte: »Nur nicht so stürmisch, junger Freund. Die Hauptsache fehlt nun doch. Erholen Sie sich von allen Ängsten, die Sie sich selbst gemacht haben, und dann kommen Sie in mein kleines Zimmer, da wird sich dann das Weitere finden.«
Mit diesen Worten ging sie und klopfte bei Anna an. Aber niemand meldete sich. Nun ging sie in die Küche.
»Ika, wo ist meine Schwester?«
»Frau Amtsrichter hat einen Brief geschrieben und hat ihm selbst eingestochen, was ich doch sonst immer muß, oder einer von die Kinder. Jetzt geht sie immer unten in Garten mit Fräulein Hanna auf und ab, und Fräulein Hanna –«
Ika wußte Bescheid oder ahnte den Zusammenhang, denn sie war ein kluges Mädchen und weibliche Neugierde auch ihr Erbteil.
Als Julia aus der Haustür trat, sah sie Ludwig und Gretchen mit einem großen Schaukelpferd hantieren.
»Ihr hier, ihr Krabben? Ich habe euch ja in die Kammer geschickt –«
»Tante, bei dem herrlichen Sommerwetter konnten die Kleinen es oben nicht aushalten, es war eine mörderische Hitze in der Kammer. Du bist wohl nicht böse, daß wir das Schaukelspiel nach unten genommen haben«, sagte Erika, die mit einem Buch vor der Tür saß.
»Meinetwegen macht, was ihr wollt. Mir ist alles recht. Sorge nur dafür, daß alle Sachen wieder auf den rechten Platz kommen.«
Julia suchte nun die Schwester und Hanna auf und gesellte sich zu ihnen. Nach einer Weile ging Anna mit ihrer Tochter ins Haus; die Tante setzte sich zu Erika und sah dem Spiel der Kinder zu.
Es währte lange, sehr lange. Julia hatte schon etliche Male nach den geschlossenen Fenstern gesehen, aber alles blieb still. Endlich öffnete jemand in der vorderen Stube die Fenster. Anna sah mit fröhlichem Gesicht heraus und sagte: »Julia und Erika, wollt ihr nicht hereinkommen?«
Anna war allein, aber die Tür nach dem andern Zimmer war weit geöffnet. Anna nahm die Schwester unter den einen Arm, Erika unter den anderen und rief: »Kommt, wir haben ein glückliches Brautpaar.«
Helle Freude herrschte nicht nur im Rosenhaus, nein, auch bei allen Bekannten und Freunden. Ruth, die wohl etwas von dem Herzensgeheimnis der Freundin geahnt, war die erste, die Glück wünschte; auch ihre Eltern nahmen, wie sich denken läßt, lebhaften Anteil an dem frohen Ereignis. Die Mutter des Bräutigams, die Hanna ja kannte und in ihr Herz geschlossen hatte, schrieb sehr glücklich über die Verlobung. Am liebsten hätte sie die jungen Leute bei sich gesehen, doch da ihre Räumlichkeiten zu beschränkt waren, wurde beschlossen, der Sohn solle hinfahren und die Mutter dann mit ins Rosenhaus bringen.
Herrn Maß wurde die erste Trennung von der Braut sehr schwer. Doch die letzten acht Tage der Ferienzeit sollten der Mutter gewidmet werden.
Die Mutter wurde dann mit großer Freude im Rosenhaus empfangen. Was damals als Herzenswunsch bei ihr aufgetaucht war, das war nun Erfüllung geworden. Sie drückte ihre Schwiegertochter bewegt ans Herz und erbat Gottes Segen für das Brautpaar.
Es folgte eine stille und ruhige Zeit. Mutter und Schwiegertochter lebten sich miteinander ein, Hanna erklärte ein über das andere Mal, das Mütterchen müsse später ganz zu ihnen ziehen. Der Briefwechsel zwischen Hanna und Richard war sehr rege; Hanna war seit ihrer Verlobung viel lebhafter und mitteilsamer, sie blühte auf wie ein Röschen, und jedermann freute sich mit ihr ihres Glückes.
Noch etwas Schönes stand der Braut bevor. Die Pfarrerfamilie plante eine Badereise und hatte schon vor Hannas Verlobung gebeten, sie als Reisegefährtin mitzunehmen. Anna hatte damals gern ihre Zustimmung gegeben. Nun rückte der Zeitpunkt der Reise immer näher.
»Ich habe es jetzt zu gut, Mutter«, sagte sie eines Tages, »die arme Erika schwitzt beim Lernen und ich schwelge nur so in den Genüssen.«
»Erika macht das Lernen Freude, für sie wird auch einmal eine Zeit der Erholung kommen. Wer weiß, was für schöne Reisen sie sich später wird leisten können!«
»Und ich verdiene gar nichts, Mutter. Ich habe jetzt oft gedacht, ob ich nicht, bis Richard sein zweites Examen gemacht hat, etwas tun könnte.«
»Den gleichen Gedanken hatte ich auch, Hanna. Du könntest hier entbehrt werden und würdest nur gewinnen, wenn du in einen Haushalt gehen würdest, wo du dich im Kochen und allen häuslichen Arbeiten vervollkommnen könntest. Wir wollen sehen, wie es sich macht, vielleicht findet sich etwas. Genieße jetzt froh die Thüringer Reise. Später wollen wir dann darüber reden.«
Hanna war froh, daß die Mutter dachte wie sie. Sie wollte sich selbst etwas verdienen und recht sparsam sein, damit sie zur Aussteuer wenigstens etwas beitragen könne. Sie wußte, wie schwer es der Mutter wurde, allein das Notwendigste anzuschaffen.
Die Reise und das Leben im Badeort brachten Hanna und Ruth viel Vergnügen. Die beiden Mädchen strahlten vor Glück, daß sie einige Wochen miteinander verleben und gemeinsam alles Schöne, was diese Reise mit sich brachte, genießen durften. Ruths Vater beschäftigte sich oft mit den beiden Mädchen. Da seine Frau viel ruhen mußte, streifte er mit ihnen durch die schönen Wälder und stieg mit ihnen auf die Berge der näheren Umgebung.
Fühlte sich seine Frau frisch genug, dann machte man gemeinsame Spaziergänge oder traf sich mit Bekannten. Beim Brunnen traf man sich an jedem Morgen mit einer älteren Dame, die sehr leidend war und nur kurze Strecken gehen konnte. Da die Pfarrfrau das weite Gehen auch nicht vertrug, setzte man sich öfters zusammen. So wurden die Damen miteinander bekannt. Ein Wort gab das andere, und schon bald wußte man, daß die Dame Bogelius hieß und schuldlos geschieden war. Ihr Mann war ein leichtsinniger Verschwender gewesen und hatte sie mit ihrem einzigen Kind sitzenlassen. Da war sie zu ihrem Vater gezogen. Das Kind war früh gestorben, so daß sie außer ihrem Vater niemand mehr auf der Welt hatte. Sie schien in guten Verhältnissen zu leben: oft nahm sie einen Wagen zu Spazierfahrten und wohnte im teuersten Hotel. Die beiden jungen Mädchen schienen ihr sehr zu gefallen. Sie unterhielt sich oft und gern mit ihnen und äußerte einmal den Wunsch, daß sie am liebsten eine von den beiden mit sich nehmen würde.
»Meine Ruth«, meinte die Mutter da, »kann ich leider nicht hergeben, sie ist mir gerade jetzt, da ich selbst seit einiger Zeit kränkle, unentbehrlich. Ob Frau Böckel Ihnen die Hanna geben will, weiß ich nicht. Ich glaube kaum, denn das junge Mädchen ist verlobt –«
»Wie schade«, sagte Frau Bogelius. »Ich glaubte, die beiden seien Schwestern –«
»Nein, das nicht. Sie sind nur sehr gute Freundinnen.«
Als eben diese Worte gesprochen wurden, erschienen sie auf der Bildfläche. »Nun«, sagte Frau Pfarrer scherzweise, »Frau Bogelius will eine von euch mitnehmen, wer möchte mit ihr ziehen?«
Ruth meinte, sie möchte wohl ganz gern einmal woanders hin, aber sie könne doch ihre Mutter jetzt nicht allein lassen. Hanna jedoch, die Zuneigung zu der Dame gefaßt, machte ein sehr vergnügtes Gesicht und sagte zum großen Erstaunen der beiden Frauen, daß sie gar nicht abgeneigt sei, für ein Jahr eine Stelle anzunehmen, in der sie sich in allem, was zu einem guten Haushalt gehöre, vervollkommnen könnte.
»Das würden Sie in jeder Beziehung, Fräulein Hanna«, entgegnete die Dame. »Wir haben eine gute Köchin, von der Sie vieles lernen könnten. Wenn Sie dann in den Nachmittagsstunden meinem Vater vorlesen und ihn vielleicht auch musizierend erfreuen könnten, so wäre uns allen geholfen. Sie sollten es gut bei uns haben, ja, ich würde Sie halten wie meine Tochter.«
Konnte Hanna sich etwas Besseres wünschen? Es fiel ihr ganz ungewollt zu und doch stimmte es mit ihren Plänen überein. Frau Bogelius bat sie, einmal zu ihr nach Hause zu kommen, um sich an Ort und Stelle alles anzusehen, bevor sie der Mutter davon schrieb.
Frau Bogelius wohnte mit ihrem Vater in einer kleinen Stadt ganz in der Nähe des Bades. Hanna sollte ein gutes Gehalt bekommen, ihrem Vater kam es vor allem darauf an, daß das junge Mädchen aus guter Familie und gebildet war.
Hanna schrieb das alles der Mutter und erhielt schon bald eine zustimmende Antwort.
Richard, dem Hanna gleichfalls ihr Vorhaben mitteilte, war auch einverstanden, aber er machte zur Bedingung, sie vorher noch einmal sehen zu müssen. Bis zum Herbst war er auf dem Landgut des Herrn von Brügge, und im Oktober ging es wieder nach dem Süden. Zu Ostern wollte er vielleicht, wie Tante Julia es ihm angeboten hatte, ins Rosenhaus übersiedeln, doch bestimmt wußte er es noch nicht.
Einstweilen kehrte Hanna nach Hause zurück; denn erst nach den Herbstferien, die sie mit ihrem Verlobten im Rosenhaus zu verleben gedachte, wollte sie, so war es ausgemacht, die Stelle bei Frau Bogelius in Thüringen annehmen.