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Wer in der nächsten Zeit am Rosenhaus vorüberging, bemerkte, daß hier allerhand los war. Alle Teppiche und Decken wurden ausgeklopft, Betten, die in Kisten verpackt waren, an die Luft gebracht und auf dem Rasen gesonnt. Im Haus wurden Möbel von einem Zimmer in das andere gebracht oder in einer Kammer übereinandergestellt; überall war Julia mit Feldherrnblick zur Stelle. Wenn Ika die Arbeit zuviel wurde, dann kam ihre Mutter zur Hilfe, die scheuerte und wusch, putzte die großen Fenster und griff überall ein. Frau Blank war eine tüchtige Arbeitskraft, aber sie hatte in den letzten Jahren noch etwas anderes gelernt, das höher zu bewerten ist. Durch das lange, geduldige Leiden ihrer Mutter hatte sie gespürt, daß es eine Kraft von oben gibt, die tragen hilft und Trost und Frieden zu verleihen vermag; besonders in der Todesstunde der Mutter war ein Strahl aus der Ewigkeit in ihr Herz gedrungen; seitdem war sie willig geworden, Gottes Wort zu hören und danach zu handeln. Sie war froh, ihre Tochter in einem guten Hause aufgehoben zu wissen und freute sich, daß das Fräulein zufrieden mit ihr war.
Immer näher rückte der Termin des Einzugs. Und wieder war es um die Rosenzeit, als Anna zum zweitenmal Besitz von dem Haus ergriff.
Es war kein gewitterschwüler Tag wie vor zwei Jahren. Die Sonne stand diesmal am blauen, wolkenlosen Himmel, ein leiser Ostwind brachte ein wenig Kühlung. Da stand Julia in der offenen Haustür, erwartungsvoll sah sie nach der Straße; sie mußten nun gleich kommen. Das Haus war bereit! Mit Hilfe der Packer und Dienstleute, die am vorhergehenden Tag die Möbel abgeladen hatten, war alles so untergebracht, wie Anna es gern haben wollte. Julia war eben noch einmal durch das Haus gewandert; überall sah es nett und freundlich aus. Nun fehlten nur noch die Menschen.
Da waren sie!
Ein ganzer Zug kam da heran.
Voran gingen die beiden Mädchen, sie winkten der Tante, die in der Haustür stand, schon von weitem zu; dann kam Anna mit den beiden Kleinen; dann Karl mit einer ziemlich schweren Reisetasche, und Ika machte mit ihrer Mutter den Beschluß. Beide waren mit Gepäckstücken aller Art beladen.
»Da hast du uns, Julia, alle miteinander.«
Mit diesen Worten eilte Anna auf die Schwester zu. Und die Kinder riefen fast zugleich: »Oh, die schönen Rosen!«
»Dehören die der Tante danz allein?« fragte Gretchen.
»Schenkt sie uns wohl auch eine?« meinte Ludwig.
Tante Julia war aber schon ins Haus gegangen und gab Anordnungen, wohin das Gepäck getragen werden sollte. Dann öffnete sie die Saaltür und rief den Kindern, die immer noch draußen standen, zu: »Willkommen im Rosenhaus! Kommt und seht, welch eine große Stube die Tante für euch eingerichtet hat.«
»Julia, der Saal ist ja nicht wiederzuerkennen«, staunte Anna. »Was hast du aus der wüsten Rumpelkammer für ein großartiges Kinderzimmer geschaffen!«
Julia stand hochbefriedigt da; sie feierte ihren schönsten Triumph, als die Kinder, alle in verschiedener Weise, ihre Freude zeigten. Die Kleinen begrüßten jubelnd ihre Spielsachen, die sie die letzten Tage vermißt hatten und hier unversehrt wiederfanden. Die Größeren öffneten behutsam einen Schrank, worin es Spiele aller Art und eine Menge Bücher gab. Sie verwunderten sich, woher das alles komme, und meinten, ob die Tante Julia das wohl für sie gekauft habe.
»Gekauft hat sie es nicht, aber sie hat dergleichen mehr als ihr denkt«, belehrte die Tante, die eben hinzutrat. »Ich habe oben eine Kammer, darin gibt es Wunderdinge; wenn ich sie einmal aufschließe, werdet ihr dort mancherlei finden, was ihr nicht erwartet habt.«
Die Augen der Kinder waren gespannt auf die Tante gerichtet. Sie erschien ihnen in diesem Augenblick wie eine gütige Fee, die aus ihrem Ärmel alles schütteln kann, was sie will.
»Julia, woher hast du nur diese Schätze?« fragte Anna leise. »Es ist noch so vieles da aus der Kinderzeit der verstorbenen Söhne. Sogar noch Puppen gibt es aus dieser Zeit, da die gnädige Frau klein war«, antwortete Julia. »Doch wir wollen weise damit haushalten, ich werde nicht alles auf einmal hergeben.«
»Fräulein Julia, die Suppe ist aufgetragen –« Ika stand in der offenen Tür mit zinnoberrotem Gesicht. –
Mit gespannten Mienen folgten die Kinder den beiden Schwestern in das Eßzimmer, in dessen Mitte ein langer, gedeckter Tisch stand, der der Gäste harrte.
Herr Maß hatte an seinem Fenster den Einzug der Familie Böckel beobachtet. Nun stand er prüfend vor dem Spiegel, bürstete sorgfältig das Haar und nestelte lange an seinem Schlips. Als Ika zum Essen rief, ging er mit einer gewissen Feierlichkeit hinunter.
Beim Betreten des Eßzimmers standen alle schon hinter den Stühlen. »Wo bleiben Sie, lieber Freund«, rief Julia, und Herr Maß, verwirrt über sein spätes Kommen, stellte sich Schutz suchend zwischen Tante Anna und Gretchen.
»Nehmen Sie, bitte, den Platz neben meiner Schwester ein.« Jetzt erst bemerkte er, daß oben am Tisch ein leerer Stuhl stand.
Erika hob erstaunt die Augen, als sie ihr Gegenüber erblickte. Sie wußte offenbar nichts von dem Vorhandensein eines jungen Mannes. Die Tante, die Erikas und Hannas Blicke bemerkte, sagte: »Das ist unser Hausgenosse, Studiosus Maß. Er besucht die hiesige Universität und wird ein großer Gelehrter, vor dem ihr Respekt haben müßt.«
Herr Maß widersprach und meinte, daß er noch viel lernen müsse, wenn er nächstes Jahr ins erste Examen steigen wolle.
Da konnte sich Erika, die immer auf eine Gelegenheit wartete, ihr Plappermäulchen aufzutun, nicht enthalten, von ihrem künftigen Examen zu reden. Worauf Herr Maß fragte: »Will das Fräulein auch studieren?«
»Das liegt noch in weiter Ferne«, warf die Mutter ein. »Fürs erste ist Erika noch kein Fräulein. Sie ist Schülerin und eben erst vierzehn. Man wird sich die Frage noch vielmals überlegen müssen, ob's mit dem Studieren überhaupt etwas wird. – Übrigens kann ich Ihnen jetzt meine Kinder wohl am besten vorstellen. Dort sitzt meine Älteste, Hanna – auch sie ist noch kein Fräulein –«, fuhr Anna fort, »sie ist etwas älter als Erika. Hier, Ihr Nachbar, der künftige Gymnasiast Karl, wird hoffentlich mit Ihnen Freundschaft schließen. Er bekommt ein kleines Zimmer neben dem Ihren.«
Bei dieser Aussicht erglänzten Karls Augen freudig, es war längst sein stiller Wunsch gewesen, ein eigenes Zimmer zu besitzen.
»Die Kleinen, Ludwig und Gretchen, werden Sie bald zu Freunden haben, kommen sie aber ungebeten, dann schicken Sie sie nur fort«, fügte Anna hinzu, während der dicke Ludwig sich zutraulich zur Tante neigte:
»Tante Julia, ist Herr Maß dein Papa?«
Darauf folgte ein allgemeines Gelächter, und Erika konnte nicht umhin zu bemerken: »Der Dicke stellt immer so furchtbar dumme Fragen.«
Ludwig ließ sich durch diese Bemerkung in seiner Beschäftigung nicht stören. Die Tante hatte ihm so reichlich den Teller gehäuft, daß er ganz davon in Anspruch genommen war.
Herr Maß wandte sich während des Essens mit verschiedenen Fragen an Karl und bot ihm seine Hilfe im Lateinischen an.
»Sie sehen, wie nötig es ist, daß Sie im Hause bleiben, Herr Maß«, ließ sich Julia vernehmen.
»Wollten Sie etwa ausziehen?« fragte Anna ungläubig.
»Er wollte euretwegen das Haus verlassen. Als ob hier nicht Platz genug wäre!«
»Das hätten wir alle übelgenommen, nicht wahr, ihr Kinder?«
»Natürlich«, sagte Erika laut, während Hanna leise mit dem Kopfe nickte und Karl dem Studenten vertraulich zuflüsterte: »Das wäre schlimm für mich gewesen.« Gretlein hatte ein sehr nachdenkliches Gesicht gemacht, als ob sie der Rede Sinn verstände. Plötzlich gab auch sie ihren Gefühlen Ausdruck: »Ob er auch wohl noch mit mir und meinen Puppen spielt?«
Wieder ein herzliches Lachen. Da nickte Herr Maß der Kleinen freundlich zu: »Mit Puppen gerade nicht, wenn du aber einen Ball hast, dann spielen wir miteinander.«
Das Kind klatschte fröhlich in die Hände und wollte gleich den Ball holen. Da hieß es aber: »Sitzen bleiben, bis die Mahlzeit beendet ist.«
Nach dem Dankgebet erhob man sich, und die jungen Mädchen griffen, wie sie es von Haus aus gewohnt waren, eifrig zu, um beim Abtragen zu helfen. Auch auf der andern Seite des Tisches wurden schon die Teller ineinandergesetzt, als Julia meinte: »Lieber Herr Maß, Sie sind nun befreit, das lassen Sie fortan die jungen Mädchen tun.« Da machte der Student sich sehr bald unsichtbar.
Frau Anna trat zur Schwester Julia. »Um eines bitte ich dich, Julia, daß du Herrn Maß sagst, daß er sich durch unsere Familie in keiner Weise beengt fühlen möge.«
»Das wird er auch nicht. Aber du kennst ihn von früher; er ist eben zurückhaltend, aber stets zur Hand, wenn man Hilfe braucht. Doch nun sollst du deine Zimmer sehen, oder wollen wir erst unten Hannas und Erikas Reich besichtigen? Sie erhalten dein früheres Schlafzimmer. Kommt, Kinder!« Sie winkte den beiden Mädchen zu. »Ihr sollt euer kleines Reich besichtigen.«
Wie strahlten die Augen der Mädchen, als die Tante die Tür zu dem freundlichen, reizend eingerichteten Zimmer öffnete. Die Fenster waren weit geöffnet, es roch nach Rosen und frischen Blumen, man blickte auf Rasenplätze und hübsches Gebüsch; es war alles schöner, als die Kinder es sich erträumt hatten. Sie dankten der Tante mit herzlichen Worten und fragten die Mutter, ob sie auspacken dürften.
»Wir gehen jetzt erst noch nach oben. Doch wo ist Ludwig?«
»Laß doch den Dicken, er wird sich schon wieder einfinden.«
Der Dicke war aber in den Garten gelaufen. Hier fiel ihm zunächst das Hühner- und Taubenhaus in die Augen. Dahin eilen und die Tür, die mit einem Knebel verschlossen war, öffnen, war das Werk eines Augenblicks. Mit lautem Gackern flogen die Hühner in den mit Draht umzäunten Hof; die Henne mit einer Schar kleiner Küken folgte. »Oh, die niedlichen Tiere«, rief der Dicke und versuchte, die Küchlein zu greifen, und lachte laut, wenn sie ihm entschlüpften.
Die Schwestern standen, nichts ahnend, in Annas geschmackvoll eingerichteten beiden Zimmern.
»Hier sollst du dein eigenes Reich haben, Anna. Hierher kannst du dich mit deinen Kindern zurückziehen, wenn ihr einmal ohne die alte Tante sein wollt. Und hier, im dritten Raum schläfst du mit den beiden Kleinen.«
»Es ist alles herrlich, liebste Julia. Viel zuviel Platz hast du uns geopfert.«
Die Tante zeigte den Kindern inzwischen den Blick aus dem Fenster und machte sie auf die Rosen aufmerksam, die überall hereinrankten und in üppiger Fülle blühten.
»Es ist wirklich ein Rosenhaus«, sagte Hanna, erfüllt von der Pracht der Blumen. So schön haben wir es uns alles nicht vorgestellt.«
»Wir müssen uns den Garten auch ansehen, dann kennt ihr mein ganzes Reich und könnt euch mit mir darüber freuen.«
Als sie an das Hühnerhaus kamen, sprach Erika gleich die Bitte aus, das Füttern besorgen zu dürfen.
»Die Arbeit wird gleichmäßig verteilt«, sagte die Mutter.
»Ihr Mädchen müßt außer der Schulzeit der Tante und auch der Ika helfen. Doch die Tür zum Hühnerhaus ist ja auf –«
»Und die Hühner, die heute drinnen bleiben sollten, spazieren draußen herum«, meinte die Tante.
»Der Ludwig! Der Ludwig ist drinnen«, riefen Hanna und Erika erschrocken. »Wie ist er nur hineingekommen?«
Ludwig stand mit verlegener Miene mitten im Hühnerstall. Als die Mutter und Tante Julia erschienen, nahm das Gesicht einen ängstlichen Ausdruck an.
»Es piepste so – da wollt' ich es liebhaben – und da wurd' es auf einmal ganz still.«
Er hatte ein Küchlein in der Hand und es mit seinen Patschhändchen totgedrückt.
»Sieh nur, Tante«, jammerte Erika. »Na, dich wird die Tante zum Rosenhaus hinauswerfen, wenn du gleich am ersten Tag solche Streiche machst.«
»Wie schade um das arme, kleine Tierchen«, klagte die Tante, während Anna dem kleinen Missetäter ein paar tüchtige Klapse auf die Finger gab, worauf Ludwig ein Löwengebrüll erhob und das Küken zur Erde fallen ließ.
»Ich – wollte – es nur liebhaben«, schluchzte er, »und da sterbte es –«
Die Tante seufzte leise. Es war noch kein Tag herum, und schon war etwas Dummes passiert. So glatt, wie sie sich die Sache mit den Kindern gedacht, würde es wohl nicht gehen. Ludwig mußte die Tante um Verzeihung bitten, dann nahm Hanna ihn an die Hand, während sie den untern Teil des Gartens ansahen. Die Baumgruppe am Fluß gefiel den jungen Mädchen ganz besonders.
Karl hatte unterdes mit dem Studenten Freundschaft geschlossen. Herr Maß zeigte ihm seine Bilder und Bücher und freute sich, daß der Junge an allem soviel Interesse zeigte.