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Jesaja 55, 8

»Warum sagtest du mir nicht, wer gekommen war, Ika«, fragte Julia am folgenden Tag das Mädchen, »du kanntest doch den Herrn Amtsrichter?«

»Ich – ich – wollte – ich wollte Ihnen überraschen!«

»Ja, es war eine große Überraschung für mich, aber ein andermal meldest du mir den Besuch, wie es sich gehört.«

Damit war die Sache abgetan, und Julia ging zum erstenmal wieder leichten und fröhlichen Herzens an die Erledigung ihrer Pflichten. Besonders lag es ihr am Herzen, ihrer Freundin Charlotte den Besuch des Schwagers mitzuteilen.

»Siehst du, nun ist wieder blauer Himmel über dem Rosenhaus, die düstern Wolken haben sich verzogen und was das beste ist, du bist wieder unser altes Julchen«, ließ sich die Freundin vernehmen. »Wir wollen auch dafür sorgen, daß dir der Winter nicht zu lang wird, deine übrigen Bekannten und ich haben schon beschlossen, dich nicht allzuviel allein zu lassen.«

Ein lieber Brief von Anna, der an Länge seinesgleichen suchte, war schon bald eingetroffen. Julia trug ihn immer bei sich. Diesem Briefe folgten viele andere. So erfuhren die Schwestern mehr voneinander, als dies beim täglichen Zusammenleben der Fall gewesen war.

Das Weihnachtsfest rückte immer näher heran, und Julia bereitete alles vor, um das Fest bei den Geschwistern zu verleben. Ika sollte während der Zeit nach Hause gehen. Die Großmutter hatte der Zeit Leiden überwunden und war eingegangen in das Reich der Herrlichkeit. Ihr Tod hatte sichtlichen Eindruck auf Ika gemacht; sie war stiller und bescheidener geworden und treuer in ihren Pflichten. Aber sonst haftete die Trauer nicht lange, die Aussicht auf das Fest, der Anblick der reichgeschmückten Läden, die Ferien bei der Mutter, alles dies hatte zur Folge, daß Ika schon bald wieder ein fröhliches Gesicht zeigte und das Fräulein nur zu gern begleitete, wenn es in die Stadt ging, um für Anna und ihre Familie Einkäufe zu machen. Julia hatte sich das Alter der Kinder schreiben lassen und suchte für jedes etwas Passendes aus. Die Freude, sie bald alle kennenzulernen, verklärte geradezu ihr Wesen.

Kurz vor dem Fest fühlte sich Julia plötzlich so unwohl, daß Ika den Arzt holen mußte. Dieser stellte eine schwere Grippe fest, und an Reisen war gar nicht zu denken.

Ika sah ziemlich trübe drein im Blick auf die nahen Festtage, die sich nun so traurig gestalten würden. Ihre Mutter wurde gebeten, während der Feiertage ganz ins Rosenhaus zu ziehen, und beide, Mutter und Tochter, wurden so reich beschenkt, daß sie voll Dank und Freude waren. Charlotte erledigte dies mit der ihr eigenen Gabe, sie leistete der Freundin Gesellschaft, sah überall nach dem Rechten und machte sich unentbehrlich.

So kam das neue Jahr heran; Julia war zwar fieberfrei, aber ein hartnäckiger Husten machte ihr viel Beschwerden. Groß war aller Freude, als Julia zum erstenmal wieder aufstehen und in der kleinen Stube im Lehnstuhl sitzen durfte.

Auch Herr Maß war inzwischen wieder eingerückt und kam mit fröhlichem Gesicht, um Fräulein Julia seine Neujahrswünsche zu überbringen.

Er mußte sich setzen und von daheim erzählen. Als er von der Mutter sprach, und daß sie im Dorf so einsam wohne und oft Heimweh nach dem Sohn habe, durchfuhr es Julia plötzlich: »Sollte das nicht etwas sein, was Gott dir vor die Tür legt? Wie, wenn sie Frau Maß ins Haus nähme?«

Sie sagte dem Sohn nicht gleich davon, aber in der Nacht spann sie den Gedanken weiter aus, und als Herr Maß ihr am folgenden Tage wieder einen Besuch machte, konnte sie es nicht lassen, ihm von ihrem Vorhaben zu erzählen.

Der junge Mann strahlte vor Freude. Es sei die Erfüllung seines größten Wunsches; er habe oft schon gedacht, wenn doch seine Mutter eines von den vielen Zimmern oben bekommen könnte.

Julia bat, er möge noch nichts davon nach Hause schreiben, sie wollte erst, wenn sie ganz genesen sei, die Sache reiflich in Erwägung ziehen. Vielleicht ließe es sich zum Sommer machen.

 

Eines Morgens erschien Herr Maß ganz verstört in der Küche, das Zeitungsblatt in der Hand.

»Ika«, sagte er zu dem Mädchen, die eben den Kaffee zu ihrer Herrin hineintragen wollte, »wie geht es Fräulein Golf heute?«

»Sie hat nicht gut geschlafen, und viel husten müssen, sie will bis Mittag im Bett bleiben.«

»Sie dürfen ihr heute die Zeitung nicht bringen; wir müssen sie unter irgendeinem Vorwand hierbehalten, wenigstens dies Blatt, es ist ein Unglück geschehen, das sie sehr angeht.« Dabei zeigte er auf einen Namen und berichtete, daß zwei Eisenbahnzüge zusammengestoßen seien, daß es viele Verletzte und zwei Tote gegeben habe.

Ika las den Namen: »Amtsrichter Böckel« und schrie laut auf. Beinahe hätte sie das Kaffeebrett zur Erde fallen lassen, wenn nicht Herr Maß schnell zugegriffen und es auf den nächsten Tisch gesetzt hätte.

»Lassen Sie sich um alles in der Welt nichts anmerken, es könnte Fräulein Julias Tod sein.«

Ika mußte sich setzen, so sehr war ihr der Schreck in die Glieder gefahren. Sie schlug die Hände zusammen und rief jammernd aus: »O nein, o nein, der gute Herr Amtsrichter, der immer so freundlich war, auch zu mir, was hat er mich für schöne Trinkgelder gegeben! Die arme Frau Amtsrichter, mit all die Kinder«, schluchzte Ika.

Ein lautes Schellen ließ sie von ihrem Sitz auffahren.

»So, nun muß ich hinein. Ich kann nicht.« Wieder sank sie auf den Stuhl.

»Sie müssen, Ika. Nehmen Sie sich zusammen.« Da klingelt es wieder. »Ika, schnell, der Kaffee wird kalt und Fräulein Julia wird schelten.«

Ika nahm das Kaffeebrett hoch. Es war gut, daß immer die Läden geschlossen waren, sonst hätte Julia an dem Aussehen des Mädchens etwas merken müssen. So rügte sie nur, daß der Kaffee schon kalt sei. Ika solle dann eine zweite, heißere Tasse bringen, sonst aber auf Ruhe halten, sie wolle versuchen, noch etwas zu schlafen.

Herr Maß wartete unten und sah mit bekümmerter Miene zum Fenster hinaus. Der Briefträger mußte gleich kommen, er würde wohl eine Nachricht aus Neuenburg bringen.

Da ging die Pforte auf, ein Telegrafenbote erschien. Herr Maß eilte ihm entgegen und nahm das Telegramm in Empfang.

Sollte er es öffnen? Durfte er es in diesem Fall? Gab es in der Stadt nicht Leute, die Fräulein Julia näherstanden? Da fiel ihm Fräulein Charlotte ein, die während Julias Krankheit täglich gekommen war. Zu ihr wollte er gehen, sie würde die geeignetste Person sein.

Nachdem er Ika gesagt hatte, niemand während seiner Abwesenheit zu der Kranken zu lassen, eilte er zu deren Freundin.

Diese kam ihm schon bestürzt entgegen. »Herr Maß, was sagen Sie dazu? Haben Sie es gelesen? Unsere arme Julia, weiß sie es schon?«

Herr Maß berichtete, was er veranlaßt hatte und überreichte ihr das Telegramm mit der Bitte, es zu öffnen und dann womöglich gleich mitzukommen.

»Natürlich muß es geöffnet werden«, rief sie und riß es auf: »Komm zu deiner armen Schwester wenn du kannst«, las sie.

»Es ist unmöglich, daß sie reisen kann! Doch, warten Sie einen Augenblick, Herr Maß, ich begleite Sie sofort.«

Ika erwartete sie bereits an der Haustür.

»Fräulein Julia schläft noch, sie schläft ganz fest. Sie hat es nicht einmal gehört, daß ich bei ihr war.«

»Um so besser«, sagte Charlotte bewegt. »Ich setze mich in das Zimmer nebenan, und sobald ich etwas von ihr höre, gehe ich hinein, wissen muß sie es auf jeden Fall.«

Nach einer Stunde etwa wurde eine Tür geöffnet und Ika gerufen. »Fräulein Julia ist im Bild. Laufen Sie schnell zu Dr. Ernst, er möchte gleich kommen.«

Ika eilte, so schnell sie ihre Füße tragen konnten.

»Sie will durchaus reisen und kann doch nicht«, klagte Charlotte, als das Mädchen zurückkam.

»Der Doktor sagte auch: ›Reisen darf sie jetzt auf keinen Fall!‹ Er wird gleich da sein«, fügte sie hinzu. »Darf ich denn einmal hinein zu Fräulein Julia?«

»Gewiß, sie verlangte schon nach Ihnen, Sie sollen ihr beim Aufstehen behilflich sein.«

Da saß Julia schon, halb angekleidet. Ika bekundete ihre Teilnahme durch lautes Schluchzen. Als sie näher kam, streichelte sie Fräulein Julia beide Wangen und sagte: »Sie armes Fräulein, daß Sie nun so etwas erleben müssen, das ist doch ein zu schreckliches Unglück.«

»Zu traurig«, weinte Julia leise. Doch ihre alte Tatkraft war wieder erwacht. Nur hin, so schnell als möglich, das war der alles beherrschende Gedanke. Sie ließ sich heute, was sie sonst nie tat, das Haar von Ika ordnen, und beeilte sich fertig zu werden. Sie wollte dem Arzt möglich frisch vor die Augen treten.

Der ließ sich keinen Sand in die Augen streuen. »Sie auf, Fräulein Julia? Das ist aber unrecht. Sie haben die ganze Nacht gehustet.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ärzte wissen alles. Sie hätten im Bett bleiben müssen, um so früher hätte ich Sie reisen lassen.«

Dr. Ernst sah wohl ein, daß Julia der Schwester zur Seite zu stehen wünschte, er sagte ihr aber auch, daß sie der Schwester Sorgen nur vermehren würde, wenn sie jetzt, halb genesen, dort ankäme und dort bestimmt einen Rückfall bekommen würde. Sie solle seinen Vorschriften folgen, dann dürfte sie vielleicht in einigen Tagen reisen. Er übernahm es, auch ein Telegramm an die Schwester zu schicken, und Julia mußte sich, so schwer es ihr wurde, fügen.

An diesem Tag kam viel Besuch. Charlotte war im Vorzimmer, um die Bekannten mit der Entschuldigung zu empfangen, daß Fräulein Golf nicht in der Lage sei, irgend jemand zu sehen.

Der Husten war wunderbarerweise fast ganz verschwunden, so daß Dr. Ernst am folgenden Tag erstaunt ausrief: »Nun, wenn die Besserung so schnell vor sich geht und das Wetter sich hält, können Sie übermorgen reisen.«

Julia wußte, daß sie sich auf Wolf und Ika verlassen konnte. So rüstete sich die Besitzerin des Rosenhauses zu der schweren Reise.

Ika bewährte sich als gute Hilfe. Sie war umsichtig und rasch und sorgte rührend für ihr Fräulein. Es ging Julia besser, als man nach der schweren Erkrankung hätte erwarten sollen. War es die große innere Gemütsbewegung, die die Krankheit plötzlich hatte zurücktreten lassen?

Eine sechsstündige Fahrt lag vor Julia, die der Schwester mit Absicht den genauen Tag der Ankunft verheimlicht hatte.

Um fünf Uhr nachmittags kam sie an. Jetzt war sie in der Lindenstraße. Die Laternen wurden eben angezündet und ließen sie unschwer das Haus erkennen, Nummer 14. Zwei Fenster im ersten Stock waren erleuchtet. Also hier hat das Glück begonnen und einen so jähen Abschluß gefunden. Beklommen zog sie die Klingel. Ein Mädchen in schwarzer Kleidung öffnete.

»Kann ich Frau Amtsrichter Böckel sprechen?«

Das Mädchen, das wohl merken mochte, daß die Schwester vor ihr stand, erwiderte: »Frau Amtsrichter hatte einen dringenden Gang zu machen, aber die Kinder sind da.«

Das Mädchen öffnete die Tür.

Julia sah in ein behaglich eingerichtetes, größeres Zimmer. Die Vorhänge waren heruntergelassen, in der Mitte stand ein großer Arbeits- oder Eßtisch. Darüber brannte eine Hängelampe und um den Tisch herum saßen arbeitende Kinder.

Ein größeres Mädchen erhob sich sofort, kam auf Julia zu und fragte mit leiser Stimme: »Sind Sie vielleicht die Tante Julia, die Schwester unserer Mutter?«

Julia, die beim Anblick der verwaisten Kinder tief bewegt war, konnte nicht antworten. Sie nickte nur.

»Bitte setzen Sie sich doch, die Mutter wird gleich kommen«, sagte das junge, etwa fünfzehnjährige Mädchen weich, und führte Julia auf das in der Nähe stehende Sofa, von wo aus sie den Blick auf die ganze Kinderschar hatte. Die Kinder aber, als sie etwas von einer Tante Julia hörten, kamen zutraulich näher, reichten ihr alle nacheinander die Hand, und die kleine Sechsjährige sagte: »Bist du die Tante Julia, die mir das schöne Bilderbuch geschenkt hat?«

»Ja, du herziges Kind, ich bin deine Tante Julia. So sollt ihr mich alle nennen, hört ihr.« Dabei zog sie die Kinder der Reihe nach an sich und küßte sie. Dann nahm sie die Kleine auf den Schoß.

Die Älteste, ein außerordentlich liebliches Mädchen, nahm die Kleine wieder herunter mit den Worten: »Erst muß die Tante ihre Sachen ablegen.« Dienstfertig nahm sie Julia Hut und Mantel ab. »So, nun tommt Dretchen wieder auf Tante Julias Schoß«, sagte das Nesthäkchen und schlang seine Arme voll Vertrauen um die neue Tante.

Es wurde Julia ganz eigen zumute, als sie die weichen, runden Kinderarme um den Hals fühlte. Ein ganz neues, nie gekanntes Gefühl durchströmte sie. Es war, als erhielte sie in diesen Kindern ein großes, unbezahlbares Geschenk.

»Ihr müßt mir eure Namen nennen, nein, die hat Mutter mir schon geschrieben, will sehen, ob ich sie mir gemerkt habe. Also du bist Hanna, die Älteste?«

»Noch ein älterer Bruder ist da«, erwiderte Hanna schüchtern, »wir wissen aber nichts von ihm.«

Julia sah Hanna einen Augenblick befremdet an, ging aber auf diese Äußerung nicht näher ein, denn sie sah das andere junge Mädchen an: »Dies ist gewiß Erika? Wie alt doch?«

»Erika ist vierzehn Jahre und Karl zwölf. Dann kommt Ludwig, sieben Jahre alt und zum Schluß unser Gretchen hier. Zwischen Karl und Ludwig sind zwei Jungen gewesen, die sind früh gestorben«, fügte Hanna erläuternd hinzu.

»Und euer Vater ist nun auch von euch gegangen.«

»Ja«, rief das kleine Gretchen, »den hat der liebe Heiland unterwegs, als er mit der Eisenbahn fuhr, derufen, nun ist er auch weg, denau wie unsere erste Mutter.«

»Wie gut«, unterbrach der kleine Ludwig sie, »daß wir nun gerade wieder eine Mutter bekommen haben, sonst wären wir nun ganz allein. Aber sie ist gut, du!« setzte er treuherzig hinzu.

Da tat sich die Tür auf. Julia erhob sich schnell, Anna kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie konnten beide nicht sprechen vor Bewegung.

Das Mädchen hatte im andern Zimmer die Lampe angezündet, da hinein zog Anna die geliebte Schwester.


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