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Es war wieder Frühling geworden, ein schöner, sonniger Maientag. Julia saß im Garten und las eifrig einen langen Brief. Alles grünte und blühte um sie her, und die Rosen setzten erst Knospen an.
»Wenn die Rosen blühen, komme ich«, las Julia jetzt laut und rief den Kindern zu: »Wer kommt denn wohl, ihr Kinder?«
Ludwig blieb vor der Tante stehen und sagte mit schlauer Miene: »Ich weiß es, aber ich sage es nicht.«
Karl, der auf einem niedrigen Apfelbaum saß, etwas abseits vom Haus, und lateinische Wörter lernte, rief aus dem Baum heraus: »Das ist natürlich Herr Maß; der Brief kommt aus Italien; ich habe es gesehen, als der Briefträger ihn brachte.« Erika, die mit Hanna zusammen an einem Blumenbeet kniete und Unkraut jätete, fragte: »Ist denn Herr Maß jetzt im Süden?« während Hanna den Kopf noch tiefer senkte und leise sagte: »Das weißt du doch, Erika.«
»Freilich ist er in Italien«, antwortete die Tante. »Ich sagte euch doch, daß Herr von Brügge mit seiner ganzen Familie den Winter zum Teil an der Riviera verlebt hat, dann einen Monat in Rom, und später in Neapel. Nun werden sie in der nächsten Zeit auf dem Gut des Herrn von Brügge eintreffen. Da Herr Maß bisher keinen Urlaub gehabt hat, so wird er im Juni einen Monat Ferien bekommen und möchte sein Versprechen, uns während der Rosenzeit zu besuchen, einlösen. Die ersten vierzehn Tage will er uns schenken, die anderen will er bei seiner Mutter verbringen.«
Die Kinder riefen wie aus einem Mund: »Wie schade, daß Herr Maß nicht kommt, wenn wir auch Ferien haben. Herrn Maß' Mutter aber muß hierherkommen, dann kann er wenigstens die ganze Zeit bei uns bleiben.«
»Das wird diesmal leider nicht gehen. Frau Maß ist durch einige Schülerinnen gebunden, die einen Kursus angefangen haben, der erst im Juli zu Ende geht. Dann kommt sie hoffentlich auch noch ein wenig zu uns. Doch nun laßt euch nicht in euern Beschäftigungen stören.«
»Wir sind mit unserm Beet fertig«, sagte Hanna. »Dürfen wir uns, wenn wir uns gewaschen haben, ein wenig zu dir setzen, Tante Julia?«
Während die Tante ein freundliches Ja nickte, meinte Karl, dann wolle er lieber mit seinen Aufgaben nach oben gehen. Wenn die Mädchen zusammen seien, dann würde gewöhnlich so laut geschwatzt, daß man unmöglich lernen könne.
Erika versetzte ihm lachend einen leichten Schlag und ging mit Hanna ins Haus.
Nach einigen Minuten erschienen die Mädchen wieder und setzten sich zur Tante.
Es war ein schöner schattiger Platz mit bequemen Bänken und Stühlen, den die Tante besonders liebte, weil sie von dort aus alles beobachten konnte, was aus und ein ging. Ludwig rannte eben mit Gretchen um den Rasen herum. Er hatte sie an der roten Leine und freute sich über den flotten Galopp seines Pferdes.
»Gretchen wird aber nachgerade zu groß zum Pferdespielen«, mahnte die Tante, als die Kinder sich in ihrer Nähe ein wenig verschnauften. »Sie sollte sich lieber zu uns setzen.«
»Das geht jetzt nicht, wir haben eine wichtige Botschaft auszurichten«, war Ludwigs Antwort, und fort sauste die kleine Gesellschaft.
»Grete wird ein richtiger Junge, wenn sie immer nur mit Ludwig spielt«, bemerkte Erika.
»Mutter wird sie ans Lernen bringen, wir wollen ihr jetzt noch ein wenig Freiheit gönnen«, meinte gutmütig die Tante.
Sie sah von Zeit zu Zeit zur Gartentür, als erwarte sie jemand. »Mutter bleibt recht lange«, meinte sie, zu den Mädchen gewandt.
»Da kommt sie«, rief Hanna, legte schnell ihre Arbeit fort und eilte der Mutter entgegen.
»Es ist später geworden als ich dachte«, entschuldigte sich Anna. »Hoffentlich haben dir die Kinder nicht allzuviel Mühe gemacht –«
»Nur Freude, Anna. Was hast du ausgerichtet?«
»Ich wurde von einem Herrn zum andern geschickt. Julius mußte eine schriftliche Eingabe an den Stadtrat machen, der das Stipendium zu vergeben hat.«
Julia schien etwas enttäuscht. Als sie am Abend allein waren, sprachen sie über die wachsenden Ausgaben, die die Erziehung der Kinder mit sich brachte. Anna bedrückte es, daß ihre alternde Schwester, die schon so viel opferte, ihre Sorgen mittragen mußte. Sie dachte unwillkürlich wieder an ihre Ersparnisse. Der junge Mann mußte doch nun bald etwas von seiner Schuld abtragen. Wo mochte er jetzt sein? Sie ahnte es nicht.
Die Schwestern saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Plötzlich fing Julia an: »Hör, Anna, mich drückt eine andere Sorge. Hanna und Erika arbeiteten diesen Nachmittag bei mir. Da bemerkte ich, daß Erika sich sehr tief über ihre Arbeit beugte und zuweilen innehielt und sich die Augen rieb. Sollten sie bei dem vielen Arbeiten gelitten haben? Dann wäre es nötig, daß sie beizeiten zum Arzt ginge.«
»Gute Julia, das hat mir auch schon in letzter Zeit Sorge gemacht. Ich hoffte durch öfteres Kühlen das Übel zu beseitigen, aber du hast recht, es ist vernünftiger, sie geht einmal zu Doktor Ernst.«
»Mein alter Doktor ist gut und vortrefflich, aber von Augensachen versteht er nicht viel. Erika muß zu einem Spezialisten, und zwar so bald wie möglich. Sie, die ihre Augen besonders viel im Leben zu gebrauchen hat, muß sie jetzt eine Zeitlang schonen und sich ein Mittel geben lassen, das die Entzündung oder was es sonst ist, behebt.«
Die Sache wurde am andern Morgen am Kaffeetisch besprochen, wobei Julius sagte, er habe gehört, daß ein tüchtiger Augenarzt in der Schillerstraße wohne, man solle sich doch an ihn wenden. Ja, er erbot sich sogar, mit Erika hinzugehen.
Erika wollte zwar nichts von einem Arzt wissen und meinte, es sei gar nicht so schlimm und werde schon wieder besser werden. Überdies kenne man doch ihre Abneigung gegen alle Ärzte und möge sie nicht quälen. Aber die Mutter hatte nun einmal den Entschluß gefaßt, gleich etwas zu unternehmen. So ging Julius am nächsten Tag mit seiner Schwester in die Stadt.
Als sie das Wartezimmer des Arztes betraten, saßen schon viele Menschen dort. Aber bald schien es Julius, als sei er auf falscher Fährte. Man schrie sich einander in die Ohren, eine Mutter erzählte der andern, daß das Kleine auf ihrem Schoß über Schmerzen in den Ohren klage und nicht gut höre, und einer saß da mit verbundenem Hals.
Erika sah den Bruder schalkhaft an. »Nun, willst du mich immer noch da hineinbringen?« Er erhob sich schnell und winkte Erika, ihm zu folgen. Als sie ins Freie gelangt waren, sagte er lachend: »Dies ist ja gar kein Augenarzt!«
»Denkst du, daß ich daran zweifelte, nachdem ich den verschiedenen Unterhaltungen gefolgt bin? Mir tun jetzt noch die Ohren weh. Nun schnell nach Hause.
Julius aber stellte fest: »Der Mann, den wir vorhin fragten, hat uns falsch unterrichtet, der Augenarzt wohnt einige Häuser weiter.«
Erika sträubte sich zunächst und es bedurfte kräftiger Worte des Bruders, bevor sie ihm folgte. Sie sah Julius, dessen Stimme plötzlich ganz anders klang als sonst, erstaunt von der Seite an, und ging dann gehorsam neben ihm her. Da überzeugte sie ein kleines Schild an einem Hause, daß sie nun wirklich den richtigen Arzt gefunden hatten.
Sie betraten das Wartezimmer und trafen nur einen Herrn an, der gerade von dem Doktor verabschiedet wurde. Er zog seine Uhr und sah die beiden befremdet an.
»Eigentlich ist meine Sprechstunde zu Ende, ich muß fort, aber –«
»Wir können gern wieder gehen, Herr Doktor«, unterbrach ihn Erika. »Ich wäre überhaupt am liebsten gar nicht gekommen, denn mir fehlt eigentlich nichts, aber meine Mutter ist sehr ängstlich und mein Bruder –«
»Sie haben aber entzündete Augen, mein Fräulein. Deshalb ist es doch wohl nötig, daß ich sie genauer ansehe. Bitte, kommen Sie.«
Zuerst fragte er sie nach ihrem Beruf. Als er erfuhr, daß sie Seminaristin sei, sagte er: »Natürlich, da wird bis spät in die Nacht hinein gearbeitet, vielleicht bei schwacher Beleuchtung, die Augen werden überanstrengt, und schon ist das Unheil da.«
Er untersuchte sehr gründlich und gewissenhaft und sagte dann: »Nun, glücklicherweise ist es noch nicht so schlimm. Es ist eine Augenentzündung, die, wenn Sie vorsichtig sind, bald behoben werden kann.« Er verschrieb ihr etwas zum Hineintropfen, empfahl, die Augen zu kühlen und sie acht Tage lang zu schonen. Sie meinte zwar, das werde sich wohl schwerlich machen lassen, worauf er kurz und bündig erklärte, dann müsse er von einer Behandlung absehen, worauf sie erschrocken sagte:
»Wenn es durchaus notwendig ist, werde ich es tun.«
Da lächelte er ein klein wenig: »Es ist durchaus notwendig. Wenn Sie meinen Vorschriften nicht folgen, kann es nachteilige Folgen haben. Welchen Namen darf ich aufschreiben?«
»Böckel«, sagte sie. »Erika Böckel.«
»Die Wohnung?«
»Villenstraße 5, im Rosenhaus.«
»Bitte kommen Sie in acht Tagen wieder.« Er machte eine kurze Verbeugung und Erika war entlassen.
»Eine kecke kleine Dame, mit der man deutsch reden muß«, sagte der Arzt vor sich hin.
»Gräßlich, geradezu gräßlich«, war ihre Reaktion.
»Es oder er?«
»Er natürlich. Du hast wohl gelauscht? Er hat mich wie ein Schulkind behandelt.«
»Warst du nicht vielleicht selber ein bißchen schuld?«
Erika wurde rot. Sie hatte eigentlich gedacht, sie wäre in der letzten Zeit schon ganz anders geworden, aber heute hatte sich wieder die alte Überheblichkeit geregt. Das kam vielleicht daher, daß sie zu etwas gezwungen wurde, was sie mit großer Unlust tat.
Die Mutter war froh, daß es mit den Augen nichts besonders Schlimmes auf sich hatte.
Abends wurde bei Tisch die Sache weiter besprochen, da Julia, die am Nachmittag nicht zu Hause war, noch nichts darüber gehört hatte.
»Ich habe von dem Augenarzt Müller sonst nie gehört«, meinte Julia, »es ist gewiß ein jüngerer Arzt?«
»Ein alter Griesgram«, war Erikas Antwort.
»Meiner Meinung nach durchaus kein alter, sondern noch ein ziemlich junger Mann«, lachte Julius. »Wo hast du deine Augen gehabt, Erika?«
»In seinem Augenspiegel«, versetzte sie. »Übrigens sehe ich mir die Ärzte nicht darauf an, ob sie alt oder jung sind; ich mag sie alle nicht.«
»Das ist sehr töricht gesprochen, Erika«, tadelte Tante Julia. »Du bist noch nie richtig krank gewesen, sonst würdest du nicht so reden.«
»Tante, sie meint es gar nicht so«, entschuldigte die sanfte Hanna, während Erika ein halblautes: »Doch!« hören ließ, was ihr einen strafenden Blick der Mutter eintrug.
Sie war jedoch geduldiger und gewissenhafter in der Befolgung der vom Arzt gemachten Vorschriften, als es die Mutter erwartet hatte. Als die acht Tage um waren, empfand sie merkliche Besserung.
»Wer geht nun diesmal mit mir?« fragte Erika. »Den Julius möchte ich nicht als Begleiter haben; der ärgert mich zu viel.«
»Habe auch weder Zeit noch Lust«, rief er, während die Mutter erklärte, sie würde diesmal Erika begleiten.
Sie hatte auch die feste Absicht, aber es kam plötzlicher Besuch, so daß Hanna beauftragt wurde, mit der Schwester zu gehen.
Der Arzt war sehr befriedigt und riet, die Augen noch eine Zeitlang möglichst zu schonen. Er erlaubte zwar den Besuch des Seminars, aber er warnte:
»Nicht in der Dämmerung arbeiten und die Augen keiner schlechten Beleuchtung beim Lesen oder Schreiben aussetzen.«
»Für gute Beleuchtung sorgt schon die Tante. Ich habe also nicht nötig wiederzukommen?« fragte Erika gespannt.
»Notwendig ist es nicht, sollten aber die Augen sich wieder mehr entzünden, bitte ich um Ihren Besuch.«
»Hoffentlich nicht, ich habe nicht gern mit Ärzten zu tun.«
»Es ist auch nichts Angenehmes«, setzte er belustigt hinzu.
»Sie erwähnten eine Tante, sind Sie nicht bei Ihren Eltern?«
»Doch«, war die Antwort, »meine Mutter wohnt mit uns bei der Tante, einem Fräulein Golf. Mein Vater ist schon seit mehreren Jahren tot.«
»So, so«, sagte der Arzt, der bei Nennung des Namens »Golf« ein wenig überrascht war.
»Heute war der Herr Doktor etwas gnädiger«, sagte Erika, »aber ich bin doch froh, daß ich nicht wiederzukommen brauche und leichten Kaufs davongekommen bin.«
Herr Doktor Müller aber stand nach Beendigung der Sprechstunde nachdenklich am Fenster seines Behandlungszimmers: Fräulein Golf, sagte das junge Mädchen. Ich habe nie gehört, daß Fräulein Golf eine verheiratete Schwester hatte, oder daß sie von einer Nichte gesprochen hätte. Aber – der Name – vielleicht ist Fräulein Golf eine Verwandte von Tante Anna. Jedenfalls werde ich der Sache einmal nachgehen.