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»Ika, du machst ja neuerdings einen großartigen Staat«, sagte Julia eines Sonntags, als Ika gerade ausgehen wollte. Eine bunte Bluse, ein roter Rock, dazu ein riesiger Hut, der auf dem Kopf hin und her schwankte, und lange, weißbaumwollene Handschuhe dazu, ein farbenfroher Aufzug.
»Ich erzähle Ihnen alles heute abend, Fräulein. Sie werden sich noch wundern, wenn ich wiederkomme.«
Julia hob warnend den Finger. »Laß dich nicht verführen, Ika.«
»Seien Sie ganz beruhigt, Fräulein.«
Julia sah ihr aber kopfschüttelnd nach.
Es war wieder Sommer geworden. Die Rosen blühten und dufteten schöner als je. Im Garten tummelte sich eine fröhliche Kinderschar. Gretchen hatte Geburtstag und ihre kleinen Freundinnen einladen dürfen. Hanna und Erika, nun beide konfirmiert, spielten mit den Kleinen, auch Ruth hatte sich dazugesellt, Julius, nunmehr Oberprimaner, ging mit Herrn Maß im Laubengang des Gartens auf und ab. Sie schienen ein ernstes Gespräch zu haben. Karl aber stand abseits von der Mädchenschar und sah sehnsüchtig ihrem Spiel zu. Ludwig, der Kleine, hatte nichts Entwürdigendes darin gesehen, mitzuspielen. Während Karl noch darüber nachzudenken schien, ob es ihm, als Obertertianer, anstehe, sich mit kleinen Mädchen im Kreise zu drehen, rief Erika: »Nur schnell herbei, Karl, was stehst du da wie eine Bildsäule, komm.« Da war er mitten unter ihnen, und Anna und Julia, die vor dem Haus saßen, freuten sich an der Fröhlichkeit der Jugend.
Von Anna war allmählich der schwere Druck gewichen, der seit dem Tod ihres Mannes auf ihr lag. Sie begann wieder die Flügel zu regen und sie konnte mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft blicken. Gestern hatte sie eine besondere Freude gehabt; Julius, der Ostern in Oberprima aufgenommen wurde, erwies sich nicht nur als ein besonders begabter und fleißiger Schüler, sondern man hatte ihr auch erzählt, daß die Lehrer sein Betragen sehr rühmten.
Sie wußte nun, auch er war ihres Vertrauens würdig, und blickte auf die blühende Kinderschar und freute sich.
»Meine liebe Anna«, sagte Julia herzlich, »eins drückt mich. Du kommst so wenig hinaus, dein Geist bedarf der Anregung, du hattest früher an so manchem teilgenommen, solltest du nicht versuchen, etwas von dem wieder aufzunehmen?«
»Meine Pflichten liegen jetzt hier«, sie zeigte auf ihre Kinder. »Ihre Erziehung ist mein mir von Gott verliehener Beruf, den ich nie treu genug erfüllen kann. Aber ich will mit meinen Kindern auch andern Pflichten obliegen. Du weißt, daß ich sie für Kunst und Musik zu interessieren versuche, ich denke, ich richte nun auch noch für meine Mädchen und für andere, die sich beteiligen mögen, einen Malkursus ein. Ich werde auch mit ihnen in die Museen gehen, damit sie die Werke berühmter Meister kennenlernen. Und dazu die Musik. Die Hauptsache aber ist und bleibt, daß ich sie dem Heiland zuführe, und daß sie Gottes Wort zur Regel und Richtschnur ihres Lebens machen.«
Hanna war seit Ostern ganz aus der Schule und mußte tüchtig überall mithelfen. Sie hatte Lust zur Wirtschaft, und die Hilfe kam der Tante sehr gelegen. Erika würde nun bald das Lehrerinnenseminar besuchen.
Die Schwestern sprachen von den Kindern und machten Zukunftspläne, da kamen die drei jugendlichen Gestalten der Mädchen angesprungen.
»Jetzt wollen wir für die kleinen Festgäste das Abendbrot richten«, riefen sie fröhlich.
»Ika ist nicht da, wir besorgen es allein, Tante, du bleibst ruhig sitzen«, sagte Hanna.
»Ika will sich verloben«, lachte Erika. »Sie hatte es heute sehr wichtig mit ihrer Kleidung.«
»Dummes Zeug«, sagte Julia. »Ika hat schon einen Verehrer.«
»Der ist aber sehr weit weg«, meinte Erika. »Ika sagt, mit dem ist es vorbei, sie könne einen besseren bekommen.«
»Ach, Ika redet dumm; sie sollte nicht mit euch so etwas schwatzen«, grollte Julia.
Die Mädchen waren schon im Haus verschwunden. Unter Lachen und Scherzen deckten sie den Tisch im Eßzimmer.
Als sie wieder herauskamen, spielten die Großen mit den Kleinen. Das war ein Vergnügen! Erst auf Tante Julias energisches Klingeln kam die Gesellschaft ins Haus.
»Wenn die gnädige Frau sähe, was in ihrem Rosenhaus vorgeht«, äußerte Julia zu der Schwester.
»Ich denke, sie würde sich freuen«, meinte Anna.
»Sie hat viele Jahre in größter Einsamkeit verbracht, und als sie leidend wurde, hat sie fast niemand mehr gesehen.«
»Und du bist mit ihr einsam geworden, und jetzt ist der Tumult so groß, daß ich oft für deine Nerven fürchte –«
»Sei ohne Sorge, Anna, Nerven sind nicht vorhanden.«
Es war spät am Abend. Die Kinder waren längst zur Ruhe gegangen, auch Anna war schon oben, da hörte Julia ihr Mädchen kommen. Ika huschte schnell nach oben, als fürchte sie, noch gefragt zu werden. Sie hatte Licht in Julias Stube gesehen und wußte, daß das Fräulein auf sie wartete.
»Ika«, rief sie laut nach oben. Keine Antwort. »Ludovika«, ertönte es mit kräftiger Stimme. Da knarrte die Tür, langsam erschien sie, der Hut war schon abgenommen, die hohe Frisur fiel vornüber auf die Stirn. Ihr bunter Aufzug bildete einen sonderbaren Gegensatz zu ihrer sonstigen einfachen Kleidung, wie Julia sie liebte.
»Komm doch herein, Kind, ich möchte mit dir reden. Du sagtest beim Fortgehen, ich solle heute abend etwas erfahren. Sage mir, was ist es.«
»Gar nichts nicht. Es ist allens aus.«
»Du hattest also doch ein anderes Verhältnis angeknüpft; ich denke, dein Verlobter ist in Italien?«
»Das is er auch. Aber er muß bei die alten Herrschaften bleiben, bis sie tot sind. Und sie sterben ja nich. Es dauert mich zu lange.«
»Hattest du ihm nicht Treue gelobt?«
»Wir hatten uns richtig verlobt. Meine Mutter weiß es.«
»Und dann wolltest du ihm untreu werden?«
»Ich wollt' ihm abschreiben, weil es mich zu lange dauert.«
»Ika, Ika, nennt man das Treue?«
»Ja, wenn dieser nicht gekommen wäre und hätte gesagt, er hätte mir furchtbar lieb, viel lieber als der in Florenz, dann hätt' ich auch noch nich drauf gehört. Aber er sagte, er hätte viel Geld und wollte sich ein kleines Gut kaufen; aber nu ist allens nicht wahr, und Brauten hat er schon zwei gehabt, und jetzt hat er noch eine andere, mit die er auch geht, nu will ich ihm nicht.«
»Es ist überhaupt unrecht gewesen, dich mit ihm einzulassen, da du einem andern das Wort gegeben hast.«
»Ja, wenn er nur bald wiederkäme. Die andern Mädchens haben alle einen, und ich muß immer so hinterdreingehen.«
»Magst du denn gar nicht mehr im Rosenhaus sein, daß du durchaus heiraten willst?«
»Zu gern bin ich hier. Es ist ja jetzt viel lustiger als früher, und die jungen Fräuleins helfen mit. Auch die jungen Herren greifen alle mit an, nee, es ist viel schöner als mit Fräulein Julia allein.«
Die Tante lächelte und dachte: ein schönes Kompliment für mich. Sie sagte: »Nun, Ika, zieh deine bunten Kleider aus und leg dich schlafen. Und dann diene fröhlich weiter, bis dein Storm aus Italien wiederkehrt und dich heimführt. Du bist noch jung genug und kannst warten.«
Am andern Morgen kam Ika freudestrahlend an. »Eine Karte von Storm, er is nich mehr in Florenz, er ist mit dem alten Herrn in Neapel, und ich soll ja auf ihn warten; kommen und heiraten tut er mir, das is gewiß.«
»Nun, da laß dir nichts mehr von andern vorreden.«
Julia war froh, daß diese Episode vorbei war; sie hätte jetzt an keinen Wechsel denken mögen. Das Mädchen war aufrichtig und ehrlich, fleißig und tüchtig. Doch war es Julia in letzter Zeit aufgefallen, wie zerstreut sie war. Die Nachbarmädchen hatten sie aufgehetzt, hatten sie verlacht, weil sie auf einen jungen Mann wartete, der im Ausland war, und hatten ihr vorgeredet, der habe längst eine andere Braut; in Italien wären die Mädchen zehnmal hübscher als sie mit ihren gelben Haaren.
Nun aber war Ika getröstet. Was das Fräulein sagte, das war für sie maßgebend. Wenn sie meinte, sie könne noch warten, dann wolle sie es auch, und einem treu bleiben sei doch immerhin das Beste.
Am Nachmittag des gleichen Tages saß Hanna mit einer Handarbeit vor der Haustür und beaufsichtigte die Kleinen, die miteinander im Garten spielten. Die drei größeren Geschwister machten mit der Mutter und Tante Julia einen weiten Spaziergang; sie war mit Ludwig und Gretchen allein zu Hause. Die Kinder hatten bis dahin ruhig gespielt. Wenn sie von der Arbeit aufblickte, sah sie die beiden kleine Kieselsteine aus den Wegen sammeln und sie in eine Ecke tragen, wo sie ein kleines Beet damit einrahmten. Sie merkte nicht, daß sie plötzlich ihren Augen entschwanden. Erst als Ludwig um die Hausecke kam und rief: »Hanna, komm ganz schnell, Grete kann gar nicht wieder herunter«, da sprang sie auf und rief: »Wo ist sie denn?«
»Sie ist ganz oben auf der Leiter!«
Erschrocken lief Hanna um die Hausecke. Da stand an dem breiten Hausgiebel die hohe Leiter, die Wolf am Morgen benutzt hatte, um die Rosen auszuschneiden, und Grete, das waghalsige kleine Ding, stand hoch oben und begann zu weinen. Zum Hinuntersteigen fehlte ihr der Mut. Ja, was nun? Hanna konnte ihr so hoch nicht folgen und sie holen, da wären sie alle beide gefallen.
»Komm ganz sachte herunter, Gretchen«, rief sie mit lockend freundlicher Stimme.
»Ich kann nicht«, kam es weinerlich zurück.
»Wenn doch die Brüder da wären!« seufzte Hanna da. In diesem Augenblick bemerkte sie, daß die Leiter gerade bis zu Herrn Maß' Zimmer hinaufreichte. Das Fenster aber war geschlossen. Schüchtern begann sie zu rufen: »Herr Maß!« Und noch einmal etwas lauter. »Herr Maß!« Nichts regte sich; er war gewiß auch nicht da!
Und doch war er da. Er hörte wohl einen schwachen Ruf, wußte aber nicht, daß er gemeint war. Da erscholl noch einmal laut und ängstlich der Ruf: »Herr Maß, helfen Sie uns doch!« Und zugleich brüllte Ludwig: »Herr Maß, Grete fällt von der Leiter!« Das Fenster aufreißen und hinausschauen war das Werk eines Augenblicks.
Da stand das Kind hoch oben auf der Leiter und weinte. Ängstlich klammerte es sich mit den Händchen an die oberste Sprosse und schaute flehentlich zu ihm auf. Er konnte es so nicht erreichen; wenn es noch eine Sprosse höher stieg, dann würde es gehen.
»Grete«, sagte er freundlich, »komm, setzte die Füßchen auf diese Sprosse, dann hole ich dich zum Fenster herein.«
»Ich kann nicht«, rief sie zitternd.
Er holte schnell ein schönes Bild. »Sieh, das will ich dir zeigen; ich erzähle dir eine schöne Geschichte von den Kindern, die darauf sind.«
Gretes Interesse war geweckt und die Angst vergessen. Ehe sie's selbst gedacht, kletterten die Füßchen noch eine Sprosse höher. Und schon hatte der Student zugegriffen und sie in sein Fenster gehoben.
Hanna eilte nach oben, um ihr Schwesterchen zu holen.
»Hier haben Sie den kleinen Wildfang.«
»Ich danke Ihnen sehr, Herr Maß, Sie haben mir wieder einmal geholfen.«
Sie hielt ihm die Hand hin. Er fühlte die kleine weiche Hand in der seinen und hätte sie gern ein wenig gedrückt. Er konnte jedoch nicht unterlassen zu sagen: »Fräulein Hanna, glauben Sie mir, es macht mich glücklich, wenn ich etwas für Sie tun kann.«
Dann begleitete er sie nach unten; Hanna schien es ganz in Ordnung zu finden. Sie sah ihn unbefangen an und sagte: »Ich glaube, der Ludwig ist schuld; er verführt Gretchen oft zu dummen Streichen –«
»Ja«, fiel Gretchen ein, »er sagte, ich sollte ganz hoch hinaufklettern und bei Herrn Maß ans Fenster klopfen; aber ich konnte nicht weiter.«
»Du mußt nicht alles tun, was Ludwig sagt«, ermahnte Hanna und, zu Herrn Maß gewendet, bat sie, den Ludwig einmal tüchtig durchzuwalken.
Aber wo war der Dicke? Nirgends zu finden. Das böse Gewissen hatte ihn wahrscheinlich fortgetrieben.
Da sahen sie Ika, die unten im Garten gearbeitet hatte, mit dem Jungen heraufkommen. Sie hatte ihn an der Hand und sagte: »Er muß umgezogen werden; er ist mit die Füße ins Wasser gewesen und hat sich Binsen geholt.«
Herr Maß hielt ihm eine ernste Strafpredigt; aber die Mutter hielt es, als sie nach Hause kam, für nötig, dieser Strafrede noch eine tüchtige Tracht Prügel beizufügen.
Hanna stand nun im achtzehnten Lebensjahr. Sie hatte sich lieblich entwickelt, war schlank und groß; ihr feines Gesicht war von goldblondem Haar umrahmt, die tiefblauen Augen hatten einen Glanz und eine Klarheit, daß man meinte, in ihnen den Grund der Seele erforschen zu können. War's dem angehenden Kandidaten zu verargen, daß er für das junge Mädchen, mit dem er ein ganzes Jahr unter einem Dach gelebt hatte, mehr als bloße Freundschaft empfand?
Er hatte sich nie das geringste anmerken lassen, aber sobald er ihre Stimme im Garten hörte, pflegte er verstohlen nach ihr zu schauen. Er kannte sie genauer als sie ahnte; nicht nur ihr Äußeres zog ihn an, noch mehr ihr selbstloses, gewinnendes Wesen. Er stand nun kurz vor dem Examen; wenn er es glücklich bestand! Er würde zunächst eine Hauslehrerstelle annehmen und sich gleichzeitig für die zweite Prüfung vorbereiten. Erst nach zwei oder drei Jahren – falls er auch sie bestand – konnte er daran denken, sich eine eigene Häuslichkeit zu gründen. Würde das Mädchen dann nicht längst verheiratet sein? Wußte er doch selbst, wie seine Freunde, die im Rosenhaus aus und ein gingen, für Fräulein Böckel schwärmten! Und nun rückten die Prüfungen heran. Das ganze Rosenhaus nahm großen Anteil daran. Es unterlag ja keinem Zweifel, daß Herr Maß sie bestehen würde; er war begabt und hatte gewissenhaft die Zeit ausgenützt, wie konnte es da fehlgehen?
Tante Julia hatte seit einiger Zeit mit den jungen Mädchen Heimlichkeiten. Sie schrieb geheimnisvolle Briefe, und die Antworten durften nur Hanna und Erika lesen.